Protocol of the Session on September 22, 2016

Sehr geehrter Herr Präsi dent, meine Damen und Herren! Es kommen etliche minderjährige Jugendliche zu uns und suchen hier Schutz. Weil sie minderjährig sind, stehen sie unter dem besonderen Schutz des Staates. Sie bekommen eine Vormundschaft, und die Jugendämter sind ge fordert, sich um sie zu kümmern, weil sie keine Eltern und keine Verwandten haben, die diese Aufgabe wahrnehmen. Einige bleiben hier und suchen hier ihr Glück. Andere entziehen sich dem und suchen ihr Glück woanders. Dabei können einige in dem System durchrutschen. Wer weiß, was mit ihnen passiert? Diese Sorgen treiben uns um.

Wir halten es für richtig, dass geschaut wird, wo welche Jugendlichen bleiben, denn das ist die Verantwortung des Staates, die er übernimmt, wenn unbegleitete Minderjährige hierher kommen. Dann ist es eben auch die Aufgabe des Staates, zu schauen, was pas siert. Die Jugendämter können das nicht leisten. Die Polizei kann das mit einer Vermisstenanzeige, der sie nachgeht, auch nicht leisten. Es gilt, erst einmal zu klären, wo welche Jugendlichen bleiben. Bleiben sie bei uns? Bleiben sie in anderen Bundesländern? Gehen sie in andere Staaten? Gehen sie zurück? Alle diese Fragen bestehen. Damit kein einziger durchrutscht, denn jeder einzelne wäre zu viel. Daher ist es richtig, eine solche Clearingstelle einzurichten. Deswegen unterstützen wir den Antrag. – Vielen Dank!

(Beifall FDP)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Grönert.

Sehr geehrter Herr Prä sident, sehr geehrte Damen und Herren! Wir werden Ihrem Antrag zustimmen, weil es aus den genannten Gründen sinnvoll erscheint, die Kooperation der Jugendämter untereinander und mit der Polizei zu befördern. Die Gründe für das Nichtwiederauffinden von minderjährigen Flüchtlingen und die Zahlen dazu wurden bereits von meinen Vorrednern genannt. Ich möchte auch betonen, dass es wichtig ist herauszu finden, wie die Koalition in ihrem Antrag ausführt, ob die Verschwundenen Opfer von Banden geworden sind, die sie für kriminelle Dienstleistungen oder gar für Organhandel oder Sexarbeit missbrauchen.

Bislang wird nach minderjährigen Flüchtlingen in der Regel genauso gesucht wie nach anderen ver schwundenen Jugendlichen auch. Systembedingt folgt diese Suche dann aber anderen Kriterien, als sie zum Auffinden von minderjährigen Flüchtlingen gerade auch mit Blick zum Beispiel auf Doppelmeldungen oder nicht gemeldete Aufenthalte bei Verwandten notwendig wären. Daher erscheint die Einrichtung einer spezialisierten Clearingstelle sehr sinnvoll.

Auf keinen Fall darf aber der Eindruck entstehen, dass nach verschwundenen minderjährigen Flüchtlingen intensiver gesucht werden soll als nach anderen ver schwundenen Jugendlichen. Jeder verschwundene Jugendliche, auch wenn er oder sie schon früher ein mal eine Zeitlang ausgerissen war, kann Opfer einer Straftat geworden sein. Nach jedem verschwundenen jungen Menschen muss mit Blick auf solche Taten mit gleicher Intensität gesucht werden.

(Beifall CDU)

Doppelmeldungen sind sicher ein spezifisches Prob lem von minderjährigen Flüchtlingen, das spezifisch gelöst werden muss.

Drei weitere Punkte möchte ich noch kurz ansprechen.

Erstens. Unter den verschwundenen minderjährigen Flüchtlingen, besonders auch unter denen, die doch schon älter sind, als sie angegeben haben, gibt es nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Auch diese sollten nicht einfach weiterziehen dürfen. Wer Straftaten begangen hat, muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Er darf nicht die Chance bekommen, in ver schiedenen Städten tätig zu werden, bis es brenzlig wird, um dann weiterzuziehen.

Zweitens will ich eine Aussage aus dem Antragstext der Bremer Koalition aufgreifen. Dort steht:

„Die jetzt vermissten unbegleiteten minderjährigen Jugendlichen kommen nach Deutschland, werden registriert, sind somit in der Obhut der jeweiligen Jugendämter, und dann verliert sich jede Spur, und sie gelten als vermisst.“

Wenn das einmal so wäre! Wie hat denn die Registrie rung von Minderjährigen in Bremen im letzten Jahr wirklich ausgesehen? Da wurden vielfach nur der Name notiert und ein Bett zugewiesen. Alles andere samt der Alterseinschätzung erfolgte erst Monate später, und das natürlich auch nur für die, die dann auch noch da waren. Gerade in dieser Warteschleife sind doch viele weitergezogen. Nach denen kann mangels Daten auch eine bundesweite Clearingstel le kaum erfolgreich fahnden. Unter Registrierung versteht die CDU jedenfalls etwas anderes als eine reine Notversorgung.

Zuletzt und drittens will ich daran erinnern, dass wir hier bereits vor einigen Monaten scharfe Ausei nandersetzungen wegen aus Bremen verschwunde ner minderjähriger Flüchtlinge hatten. Die meisten

werden sich daran erinnern. Auch Herr Möhle hat es eben schon angesprochen. Damals gab es keine klare Antwort auf die Frage, wie das Verschwinden dieser Jugendlichen in Bremen festgehalten wird und wie nach ihnen gesucht wird. Da schien es große Lücken im Bremer System zu geben. Inzwischen soll es Veränderungen gegeben haben. Eines möchte ich deutlich sagen: Die CDU-Fraktion unterstützt diesen Antrag, aber wir wollen auch, dass die Koalition die eigenen Bemühungen vor Ort weiter strukturiert und intensiviert.

(Beifall CDU)

Mit einem solchen Antrag darf nicht nur versucht werden, verlorengegangenen Boden wiedergutzuma chen. Sich auf Bundesebene für eine Clearingstelle einzusetzen und gleichzeitig in Bremen die eigene Verantwortung wahrzunehmen, muss Hand in Hand gehen, meine Damen und Herren!

(Beifall CDU)

Nur so kann es gelingen, den Verbleib vieler ver schwundener Kinder und jugendlicher Flüchtlinge schneller aufzuklären. – Danke schön!

(Beifall CDU)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Leonidakis.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Vortrag bin ich tatsächlich ein bisschen sprachlos, Frau Kollegin Grönert. Sie bringen wirk lich Sachen durcheinander. Von Kriminalität oder vereitelter Strafverfolgung zu sprechen, halte ich tatsächlich für an der Sache vorbeigehend.

(Beifall DIE LINKE)

Ich habe den Antrag so gelesen – ich hoffe, dass ich darin bestätigt werde, jedenfalls habe ich es aus dem Beitrag des Kollegen Möhle herausgehört –, dass es um ein Jugendhilfeverfahren geht, dass im Rahmen des SGB VIII stattfindet. Darin hat die Strafverfolgung erst einmal überhaupt nichts zu suchen.

Wir halten es für richtig und wichtig – so haben wir den Antrag auch verstanden –, dass jetzt Schritte unternommen werden sollen, um den Verbleib un begleiteter Minderjähriger zu klären, Ihnen die Un terstützung der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII zukommen zu lassen und sicherzustellen, dass sie diese Hilfe bekommen. Wir haben die Zahlen in der Sozialdeputation vorgelegt bekommen. Zwi schen dem 1. November 2015 und dem 10. August 2016, also noch nicht einmal innerhalb eines Jahres, sind 228 – mittlerweile sind es nicht nur 150, sondern

228 – Kinder und Jugendliche verschwunden, die in Bremen in Obhut waren. Es ist richtig und wichtig, dass man sich Gedanken darüber macht, wo diese Kinder und Jugendlichen sind, ob sie in Sicherheit sind, ob sie Kinder- und Jugendhilfe bekommen oder ob ihnen etwas zugestoßen sein könnte.

Es ist gut möglich, dass einige von den 228 zum Bei spiel in skandinavische Länder weitergereist sind. Aus der Praxis hört man immer wieder, dass sie dort Angehörige haben. Einen verlässlichen Datenabgleich gibt es dazu aber nicht. Das ist schade. Dafür könnte man bessere Verfahren entwickeln.

Es kann aber auch sein – diese Gefahr müssen wir alle ernst nehmen –, dass Jugendliche in kriminelle Hän de geraten sind. Europol hat von europaweit 10 000 verschwundenen Jugendlichen berichtet. Sie haben 8 600 genannt. Es gibt darüber verschiedene Zahlen. Uns muss zwar jedes einzelne Schicksal alarmieren, aber bei diesen Zahlen müssen die Alarmglocken schrillen. Europol hat von 10 000 verschwundenen Kindern und Jugendlichen berichtet, die möglicher weise Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution oder Organhandel geworden sind.

Frau Grönert, man kann diese Jugendlichen nicht mit nicht geflüchteten Jugendlichen vergleichen. Die Situation ist bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen eine andere. Natürlich müssen wir uns um jedes verschwundene Kind Sorgen machen. Unbe gleitete minderjährige Flüchtlinge sind aber besonders anfällig, weil sie keine sozialen Strukturen haben, auf die sie sich verlassen können, weil sie häufig keine Familie hier haben und weil sie über keine sozialen Netze verfügen. Deswegen hat Europol auch diese Meldung herausgegeben.

Wir halten es daher für richtig und wichtig, sich über jeden dieser verschwundenen Jugendlichen Gedan ken zu machen. Bei manchen Vorlagen hatten wir aber den Eindruck, dass das nicht der Fall war, son dern dass man sich eher darum gekümmert hat, die Jugendlichen schnell wegzubekommen. Deswegen freuen wir uns jetzt über die Vorlage dieses Antrages.

Wir haben trotzdem ein paar Fragen. Sie haben eben gesagt, dass es um ein Jugendhilfeverfahren geht und sichergestellt werden soll, dass Jugendhilfe gewährt wird, und darum, den Verbleib zu klären. Hier greift dann natürlich der Sozialdatenschutz. Sie sagen, es soll eine Zusammenarbeit mit der Polizei geben. Bei uns gibt es zumindest Fragezeichen. Es kann dabei nicht um Strafverfolgung und andere Ziele gehen, sondern das Ziel muss die Sicherung des Kindeswohls sein.

(Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Vermisstensuche!)

Darauf, wie Sie diesen Datenaustausch mit der Polizei datenschutzrechtlich strukturieren oder organisieren wollen, gehen Sie in ihrem Antrag nicht ein. Dieses Detail hätten wir uns wir gewünscht, weil wir glau

ben, dass dieser Datenaustausch ein entscheidender Punkt ist.

(Zuruf Abg. Dr. Buhlert [FDP])

Herr Buhlert, ich kann mich so nicht konzentrieren! Klar muss sein, dass es nicht um Kontrolle, sondern um die Sicherung des Kindeswohls geht. Das muss sich in den Verfahren niederschlagen. Bei der Ver wendung von Polizeidaten in der Jugendhilfe haben wir zumindest schon Erfahrungen gemacht, die aus unserer Sicht nicht positiv waren. So wurden zum Beispiel bei der Altersfestsetzung in Bremen – das stand auch in der Presse – Polizeieinträge der Rosen heimer Polizei oder sogar der italienischen Polizei zur Grundlage genommen. Solche Tendenzen wollen wir in der Jugendhilfe nicht haben. Es darf nicht sein, dass diese Erkenntnisse gegen die Jugendlichen und nicht für die Sicherung des Kindeswohls verwendet werden.

Natürlich könnte sich eine solche Clearingstunden in eine solche Richtung entwickeln, zum Beispiel bei der 48-Stunden-Regelung, nach der Jugendliche aus der Jugendhilfe einfach abgemeldet werden. Wir enthalten uns deshalb bei diesem Antrag.

(Glocke)

Ist meine Redezeit schon vorbei? Schade! – Ich möchte aber noch darauf hinweisen, dass das Verschwinden auch die Folge eines Systems sein kann. Wenn sich jeder sechste Mensch seit Bestehen des Verteilver fahrens diesem Verfahren entzogen hat, muss man sich auch Gedanken darüber machen, ob dieses Ver teilverfahren wirklich der Sicherung des Kindeswohls dient. – Danke schön!

(Beifall DIE LINKE)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dogan.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehrgeehrte Damen, sehr geehrte Herren! Ich finde es gut, wie die Diskussion heute geführt worden ist. Ich möchte meinen Kolle gen, Herrn Möhle und Frau Grönert, Recht geben, dass wir am Anfang des Jahres eine hitzige Debatte hatten. Herr Hinners, ich kann mich noch genau daran erinnern, dass wir uns alle darüber Gedanken gemacht haben, wo diese minderjährigen jungen Flüchtlinge bleiben. Es war gut, dass wir so hitzig debattiert haben.

Ich möchte noch einmal deutlich sagen, was mein Kollege, Herr Möhle, auch deutlich gemacht hat: Das ist kein Problem Bremens, das wir nicht lösen wollten, sondern es ist ein bundesweites Problem, denn bundesweit haben wir sehr viele junge min derjährige Flüchtlinge. Die Zahl wurde von meinen

Kollegen genannt. Es sind fast 9 000, die als vermisst gelten. Ziel dieses Antrags – das wurde mehrmals gesagt –, ist es, auf Bundesebene eine Clearingstelle einzurichten, aber nicht, um irgendwelche Straftaten aufzuklären, wie Sie es vermuten, Frau Leonidakis, sondern weil wir alle uns um das Kindeswohl Gedan ken machen. Wir wollen nämlich nicht, dass diese jungen Menschen, die ohne Eltern hierher geflohen sind, irgendwelchen Straftätern in die Hände fallen und missbraucht werden.

Das ist das Ziel unseres Antrags. Dabei geht nicht es in erster Linie darum, dass wir Straftaten auf klären. Das gehört aber auch dazu – das muss man auch deutlich sagen –, wenn diese Jugendlichen zum Begehen von Straftaten verleitet werden. Ich habe auch gelesen, dass minderjährige Flüchtlinge davon berichtet haben. Aber das beiseite! Wichtig ist, dass von hier aus ein deutliches Signal gesetzt wird, dass wir wirklich alle Anstrengungen unterneh men müssen, um Doppelmeldungen und so weiter durch eine bundesweite Clearingstelle aufzudecken, um uns gezielt mit diesen vermissten Jugendlichen befassen zu können. Das ist das Ziel, das wir mit diesem Antrag verfolgen. Ich gebe Ihnen recht, Frau Grönert, wenn Sie sagen, man dürfe nicht nur auf die bundesweite Clearingstelle verweisen, hier aber nichts unternehmen. Sie haben richtigerweise auch gesagt, dass hier einiges in Gang gesetzt worden ist. Wir müssen auch in Bremen unserer Verantwortung gegenüber diesen Jugendlichen nachkommen und das im Blick behalten.

Ich möchte eines richtig stellen. Frau Leonidakis, Sie haben gesagt, Bremen wollte sich dieser Jugendlichen entledigen. Das weise ich entschieden zurück. Das Land Bremen hat im Vergleich zu anderen Ländern trotz der Haushaltslage überproportional viele min derjährige Flüchtlinge aufgenommen. Das möchte ich in Erinnerung rufen.

Da wir in Bremen aber – nicht nur aufgrund unserer Haushaltslage – ein Interesse daran haben, dass die Kinder so gut wie möglich versorgt werden, dass die Bildungsvoraussetzungen erfüllt werden, ist es, glaube ich, richtig, dass dieses Gesetz am 1. November 2015 beschlossen worden ist. Die Jugendlichen werden gerecht auf alle 16 Bundesländer verteilt. So kommt die Hilfe, die überwältigend ist, in allen Bundeslän dern bei den Kindern und Jugendlichen an. Deshalb finde ich es schade, wenn man Dinge behauptet, die nicht der Wahrheit entsprechen, Frau Leonidakis.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Fecker [Bünd nis 90/Die Grünen]: Das kann sie aber ganz gut!)

Trotz meiner Kritik an den Sätzen, die mir an Ihrer Rede nicht gefallen haben, möchte ich bei Ihnen als LINKE um Vertrauen in diesen Antrag werben, damit heute aus diesem Parlament das eindeutige Signal ausgeht, dass wir uns vor Ort, aber auch auf Bundesebene darum kümmern wollen, dass das Kindeswohl dieser

9 000 Jugendlichen gesichert wird und sie nicht in die Hände irgendwelcher Menschenhändler gelangen. Deswegen bitte ich Sie: Gehen Sie in sich! Vielleicht können Sie unserem Antrag doch zustimmen. Dar über würde ich mich sehr freuen. Vielen Dank bei den anderen Kollegen, die sich mit dieser Thematik inhaltlich sehr gut auseinandergesetzt haben. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!