Nach Aufhebung der Blockade und drei Tage vor Beginn der Außenministerkonferenz in Paris legt der Senat der Bürgerschaft das Grundgesetz des Parlamentarischen Rates in Bonn vor. Offensichtlich will man durch die in den Länderparlamenten erfolgten Abstimmungen Tatsachen schaffen. Das Grundgesetz bestätigt die Befürchtungen, die Herr Meyer-Buer, als Sprecher der kommunistischen Fraktion, in der Bürgerschaftssitzung am 12. August 1948 zum Ausdruck brachte.
Das Grundgesetz wahrt nicht die Einheit, sondern vertieft die Aufspaltung. Es ist das auf Befehl der westlichen Besatzungsmächte zustandegekommene Gesetz zur Spaltung Deutschlands. Seine Annahme würde uns zu Dienern der Westmächte machen.
Die wirklichen Gesetze, nach denen wir leben sollen, sind der Marshall-Plan, das Ruhrstatut und das Besatzungsstatut. Wachsende Verschuldung, Zwangsausfuhr unserer Rohstoffe, gedrosselter Außenhandel, Ausschaltung der deutschen Konkurrenz, riesige Besatzungskosten, gesunkene Kaufkraft, Wohnungselend und zunehmende Erwerbslosigkeit sind ihre Folgen.
Wir stellen fest: Die Präambel des Grundgesetzes besteht aus inhaltlosen, unwahren Erklärungen, die Grundrechte, ohne wirkliche Demokratie mit sozialem Inhalt, ohne Mitbestimmung der Betriebsräte, ohne Sozialisierung der Grundstoffindustrie, sind nebelhafte Phrasen. Wir beantragen: die Ablehnung des Grundgesetzes durch die Bremische Bürgerschaft.
Herr Schneider (DP.): Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir haben den Krieg verloren und sehen daher unsere wichtigste Aufgabe darin, die deutsche Politik der veränderten Weltlage anzupassen und hier namentlich in der Rückgewinnung des Vertrauens in der Welt auf unsere politische Zuverlässigkeit. Vertrauen ist die Grundlage der menschlichen Beziehungen und damit Grundlage auch für die Beziehungen der Völker untereinander, also Grundlage der Politik überhaupt. Unsere Ziele sind auf einer realistischen Erkenntnis der Tatsachen aufgebaut, die ein sicheres Fundament der Ordnung bilden. Wenn ich von der Wiederherstellung des Vertrauens spreche, so meine ich damit vor allem auch die Möglichkeit einer Verständigung mit Frankreich. Denn von dieser Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland hängt die Befriedung Europas ab. Wir erleben heute einen bedeutsamen Tag in diesem Hause, wir erleben nach vier Jahren das erste Gesamtbekenntnis zu Deutschland, das wir in Freiheit ablegen können. In dieser Stunde gedenke ich all jener, die ihr Leben für Deutschland gaben, gedenke ich derer, die als Kriegsgefangene noch fern von der Heimat sind, und derer, die ihre Heimat verloren. Die Deutsche Partei bekennt sich zu Deutschland und Europa, auch wenn sie aus Gewissensgründen dem Grundgesetz in seiner jetzt vorliegenden Fassung nicht zuzustimmen vermag. Diese Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen. Wir bedauern, daß die Gründe, die uns bestimmen, sich nicht mehr haben ausräumen lassen. Es lebe unser deutsches Vaterland!
Herr Degener (CDU.) Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir haben heute Sprecher der verschiedensten Auffassungen gehört. Der Herr Abgeordnete Rafoth hat eine Begründung für die Ablehnung des Grundgesetzes gegeben, ohne aber von sich aus einen Weg weisen zu können, wie wir ohne diese Zustimmung zu einer Einheit Deutschlands kommen, bei dem wir nicht dem Versuch begegnen, uns eine wesensfremde Kultur und eine Staatsform aufzuzwingen, die wir ablehnen müssen. Nun aber hat der Herr Abgeordnete Schneider einiges gesagt, was nicht unbeantwortet bleiben kann. Herr Abgeordneter Schneider hat versucht, für die ablehnende Stellung seiner Partei zum Grundgesetz eine Begründung gegeben.
Und wenn der Herr Abgeordnete Schneider sagt, daß die ablehnende Haltung seiner Partei zum Grundgesetz begründet sei in dem Gedenken an die Gefallenen dieses Krieges, so möchte ich das mit aller Schärfe zurückweisen; denn diese Bemerkung läßt doch nur den Schluß zu, daß die anderen, die dem Grundgesetz zustimmen, sich an unseren Gefallenen versündigen würden.
Das ist eine Folgerung aus politischen Handlungen, die ein Abgeordneter in einer solchen Stunde nicht ziehen darf.
(Herr S c h n e i d e r [DP.]: Sie haben an- scheinend ein schlechtes Gewissens ange- sichts Ihres faulen Kompromisses!)
Wir haben kein schlechtes Gewissen, Herr Abgeordneter Schneider! Ich bin der Meinung, daß mit dem Grundgesetz, wenn es auch nur eine Kompromißlösung zwischen föderalistischen und zentralistischen Ansprüchen gefunden hat, als Kerngesetz für die zukünftige Bundesrepublik doch etwas besseres hat, als wir in einem Staatenbund haben würden.
Trotz aller Bedenken also, die wir im einzelnen gegen den Inhalt des Grundgesetzes haben, stimmen wir ihm um seiner hohen Zwecke und Ziele willen zu. Ich möchte hoffen, daß heute und morgen diejenigen Länder, die ihre Beschlüsse noch nicht gefaßt haben, zu einer möglichst weitgehenden Bestätigung des Grundgesetzes kommen werden und daß uns in den kommenden Wahlen die Kräfte erwachsen möchten aus dem deutschen Volk, die fähig und gewillt sind, am Neubau des Staates mitzuarbeiten, auf einer Basis, auf der alle Deutschen, auch soweit sie dem neuen Staat noch fernstehen, vereinigt werden!
Herr Boljahn (SPD.): Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wie immer auch die Entscheidung der einzelnen politischen Parteien dieses hohen Hauses ausfallen wird, über eines müssen wir uns alle ganz klar sein: es geht darum, daß unser Volk, welches durch den totalen Zusammenbruch unter Vormundschaft gekommen ist, nunmehr die ersten, entscheidenden Schritte tun muß, um wieder Herr im eigenen Hause zu werden. Im Auftrage der sozialdemokratischen Bürgerschaftsfraktion habe ich deshalb folgende Erklärung abzugeben:
„Die SPD-Fraktion der Bürgerschaft gibt dem vorliegenden Bonner Grundgesetz für Westdeutschland ihre Zustimmung. Sie hat nach Bekanntgabe der Londoner Empfehlungen trotz grundsätzlicher Bedenken gegen die Ausarbeitung einer Verfassung, für die von den Besatzungsmächten bestimmte Auflagen gesetzt wurden, im vollen Einvernehmen mit der Gesamtpartei ihre Bereitschaft zur Mitarbeit erklärt.
Die SPD-Fraktion der Bremischen Bürgerschaft sieht in dem Grundgesetz ein Instrument, um einer zukünftigen Bundesregierung die Gestaltung einer Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilen des
Bundesgebietes zu ermöglichen und eine einheitliche Sozialordnung und einen angemessenen Finanzund Lastenausgleich zu gewährleisten. Die Fraktion spricht die Erwartung aus, daß es dem deutschen Volk bald möglich sein werde, in freier, völlig ungehinderter Entscheidung über eine echte Verfassung für ganz Deutschland zu beschließen.“
Präsident: Herr Bürgermeister Kaisen hat sich zu Wort gemeldet an Stelle von Herrn Senator Ehlers. Ich nehme an, daß die Bürgerschaft damit einverstanden ist.
Herr Bürgermeister Kaisen: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Senat legt Wert darauf, daß ich zu dieser wichtigen Verabschiedung des Grundgesetzes noch einige Worte sage über die Notwendigkeit der Zusammenfassung dessen, was wir zusammenzufassen vermögen. Alle die Fragen, die nicht mehr auf Länderbasis, Zonenbasis oder Zweizonenbasis gelöst werden können, die auf größerer Ebene gelöst werden müssen, alle diese großen übergebietlichen Fragen drängen geradezu danach, daß wir endlich die Zusammenfassung der drei Zonen – und wenn möglich auch der vierten – fertig bekommen.
Herr Rafoth hat nun gesagt, es würde über das Grundgesetz sehr viel deklamiert, aber das Entscheidende seien doch die wirklichen Verhältnisse, in denen wir leben. Sehr richtig, Herr Rafoth! Entscheidend für das Leben sind die realen Lebensverhältnisse. Sie sind auch entscheidend für das Leben in der Ostzone, ebenso wie in Rußland selbst.
Wenn Herr Rafoth glaubt, daß das, was sich in der Sowjetunion nun schon seit 30 Jahren etabliert hat, das letzte Wort in der Geschichte ist, dann soll man Herrn Rafoth bei seinem Glauben lassen. Ich bin der Ansicht, daß die Sowjetunion 1945 eine weltpolitische Chance verpaßt hat.
Es ist das entscheidende Merkmal des uns vorliegenden Kompromisses, daß er uns einen wesentlichen Schritt weitergebracht hat auf dem Weg der von uns erstrebten Vereinigung der wirtschaftlichen und politischen Kräfte in Deutschland. Und ich will hoffen, dass dieser Schritt, der jetzt getan wird, in einiger Zeit weitere Schritte dieser Art nach sich ziehen wird, daß in absehbarer Zeit auch die im Osten liegenden Gebiete den Anschluß an die jetzt zustandegekommene Vereinigung der deutschen Westzonen finden werden, so daß das Deutschland, so geschlagen es auch herausgekommen ist aus der großen Katastrophe dieses Krieges, in seinem Aufbau von unten nach oben schließlich wieder zusammengefaßt ist zu einer großen Einheit und dadurch auch das Los unserer schwer leidenden Bevölkerung gebessert wird. Nehmen Sie daher das Grundgesetz an!
Meine Damen und Herren! Wir kommen jetzt zur Abstimmung über das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.
Ich stelle fest, die Bürgerschaft nimmt gemäß dem Antrage des Senats das vom Parlamentarischen Rat in Bonn am 8. Mai 1949 beschlossene „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ mit 77 Stimmen gegen 9 Stimmen bei 1 Stimmenthaltung an.
Meine Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes, das wohl keinen im Hause in all seinen Teilen befriedigt, hat die Bremische Bürgerschaft ihren Beitrag zu einem weiteren Schritt unserer eigenstaatlichen Selbständigkeit und Souveränität geleistet.
Mit der Annahme des Grundgesetzes haben Sie, meine Damen und Herren, den Glauben an ein freies und demokratisches Deutschland gestärkt. Hoffentlich kommt bald der Tag, wo sich ein freies und demokratisches Deutschland gleichberechtigt mit den anderen Demokratien Europas verbünden kann; denn das Schicksal Europas ist mit dem Schicksal Deutschlands eng verbunden.
Meine Damen und Herren, ich führe jetzt in das Thema ein! Als freudiges Ereignis galt die Verabschiedung des Grundgesetzes damals nicht. Ich zitiere: „Die Errichtung einer westdeutschen Nachkriegsordnung war die Erfüllung einer politischen und moralischen Pflicht, die niemandes Herz erwärmen konnte. Das Inkrafttreten des Grundgesetzes beendete alle Hoffnungen auf eine schnelle Vereinigung von Ost- und Westdeutschland.“ So heißt es bei Christoph Möllers in seinem Buch „Das Grundgesetz – Geschichte und Inhalt“. Es ist eine der vielen Neuerscheinungen zum 60. Geburtstag eines Regelwerkes, das ursprünglich als Provisorium gedacht war, eher eine Notgeburt als ein stolzer Stammhalter der deutschen Geschichte.
Erst heute, sechs Jahrzehnte später, können wir ermessen, welcher Schatz uns damals in die Wiege gelegt wurde. Mit dem Grundgesetz im Rücken haben wir Deutschen uns als lernfähig erwiesen – für Rechtsund Sozialstaatlichkeit, für Demokratie und Parlamentarismus. Mit dem Grundgesetz wuchs ein robustes, belastbares politisches Fundament heran, auf dem die großen gesellschaftlichen Streitthemen seit 1949 ohne Rückfall in schlechte Zeiten ausgetragen werden konnten. Erinnern wir uns an die Wiederbewaffnung oder die Notstandsgesetze, denken wir an Paragraf 218, das Asylrecht oder die Wiedervereinigung! Es war jedoch nicht das Grundgesetz allein, das Konflikte aufzulösen verstand. Immer wieder, um nicht zu sagen zunehmend, mussten die Karlsruher Verfassungsrichter ihr Interpretationsvermögen beweisen und – nicht
Über den Parlamentarischen Rat als Ganzes wird beständig berichtet und aufgeklärt. Über die einzelnen Mitglieder wissen die Bürgerinnen und Bürger eigentlich recht wenig. Gewiss, einige der 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates haben infolge ihrer beginnenden Karriere Geschichte geschrieben: Theodor Heuss, Konrad Adenauer und Carlo Schmid. Andere wesentliche Darsteller der „Sternstunden unserer Geschichte“, wie Gustav Heinemann unser Grundgesetz nannte, gerieten in Vergessenheit. Friedrich Wilhelm Wagner beispielsweise ist nur Insidern bekannt. Dabei setzte er sich an erster Stelle für die Abschaffung der Todesstrafe per Verfassung ein. Oder Friederike Nadig, eine der nur vier Mütter des Grundgesetzes! Ihr ist es mit zu verdanken, dass die Gleichberechtigung der Frau im Grundgesetz festgeschrieben wurde.
Kommen wir zu Adolf Ehlers! Er war Senator und der einzige Vertreter Bremens im Parlamentarischen Rat. Auch in seiner Heimat ist sein Name leider bei vielen in der Versenkung verschwunden. Dabei hat er bremische Interessen sehr selbstbewusst und auch prägend ins Grundgesetz einbringen können. Dass die Häfen nicht nur eine Lebensader der deutschen Volkswirtschaft sind, sondern auch die Existenzgrundlage eines Bundeslandes bilden, konnte er im Parlamentarischen Rat überzeugend darlegen. Seinem Kampfgeist ist es zu verdanken, dass die Kompetenz der Seehäfen bei den Ländern blieb. Das ist eine große Leistung, weil es auf alliierter Seite durchaus starke Kräfte gab, die die maritime Hoheit bei der Zentralregierung ansiedeln wollten.
Meine Damen und Herren, nicht nur das Grundgesetz wird 60 Jahre alt, sondern auch der Deutsche Evangelische Kirchentag, der nach unserer Sondersitzung hier im Haus der Bürgerschaft überall in Bremen eröffnet wird – eine Freude und Herausforderung für unseren Zwei-Städte-Staat!
Ich möchte es fast schon eine Vorsehung nennen, dass wir uns in dieser historischen Konstellation an eine weitere Besonderheit im Grundgesetz erinnern dürfen, die auf Bremer Initiative und Überzeugungskraft zurückzuführen ist. Es betrifft die Art und Weise des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen, ein Thema, das die öffentliche Meinung aktuell wieder intensiv beschäftigt. Bekanntlich trat die Bremer Landesverfassung anderthalb Jahre vor dem Grundgesetz in Kraft. Sie reklamiert in Artikel 32, dass ungeachtet unterschiedlicher Bekenntnisse die öffentlichen Schulen einen bekenntnisübergreifenden Unterricht in Biblischer Geschichte anzubieten haben. Das heißt, in Bremen ist der Unterricht in Biblischer Geschichte kein konfessioneller Religionsunterricht, wie ihn später das Grundgesetz in Artikel 7 fordern sollte. Auch das ist ein Verdienst von Senator Ehlers, dessen Engagement für den Religionsunterricht als „Bremer Klausel“ überliefert ist. An dieser historischen
Tat sollten wir auch heute nicht rütteln. Der besagte Artikel ermöglicht es uns, den Unterricht in Biblischer Geschichte weiterzuentwickeln und in den Dialog, in den bekenntnismäßig nicht gebundenen Unterricht auch nichtchristliche Religionen einzubeziehen.
Die Bremer Klausel steht seither für eine grundsätzliche Entscheidung im deutschen Rechtssystem. Artikel 31 des Grundgesetzes bestimmt nämlich „Bundesrecht bricht Landesrecht“; bei der Bremer Sonderregelung allerdings setzte sich Landesrecht vor Bundesrecht – ein Ausdruck von lebendigem Föderalismus, wie wir ihn bis heute stets aufs Neue zu verteidigen und zu bewahren versuchen. Diesen Auftrag hat uns wesentlich Adolf Ehlers mit ins Stammbuch geschrieben.
Im Parlamentarischen Rat gab es unter den sorgsam ausgewählten Mitgliedern wohl nur sehr wenige, die tiefer in den Nationalsozialismus verstrickt waren. Deshalb erhielten ihre Stimmen besonderes Gewicht, als einzig wahre Opposition, als glaubwürdig Aufräumende mit dem Totalitarismus. Der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann kommentierte das wie folgt: „Zu diesem Grundgesetz gibt es für uns keine Alternative. Es verkörpert erlittene Erfahrungsweisheit der besten unserer Vorfahren.“
In Bremen waren in dieser Hinsicht jedenfalls durchaus befriedende Vorarbeiten geleistet worden. Die Mehrheit der bremischen Parlamentarier hatte ihre politische Sozialisation im Wilhelminischen Kaiserreich erhalten – einer Ära mit durchaus autoritären Strukturen. Außerdem waren viele einer Verfolgung der Nazis ausgesetzt gewesen. All das förderte den Willen, die Grundrechte der neuen Landesverfassung vor allem hinsichtlich wirtschaftlich-sozialer Bedürfnisse auszuweiten und nicht zuletzt den Einzelnen vor staatlichen Zu- und Übergriffen besonders zu schützen. Daraus erklärt sich wohl auch das Recht und die Pflicht zum Widerstand, wie Artikel 19 der Landesverfassung formuliert.
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob es Intuition war oder vielleicht doch schon Bewusstsein: Die Bremer Landesverfassung entwickelte sich als Dokument der sozialen Demokratie, und in diesem Sinne handelten die bremischen Vertreter in der Entstehungsphase des Grundgesetzes. Natürlich hatten sie die Interessen des Landes vor Augen, die Selbstständigkeit unseres Städtestaats im Blick; sie achteten aber mindestens ebenso stark auf die Wünsche und den Willen der bremischen Bevölkerung.
Meine Damen und Herren, der renommierte amerikanische Rechtswissenschaftler Donald Kommers hat kürzlich darauf hingewiesen, dass dem Grundgesetz – anders als der amerikanischen, auf Freiheitspostulat zugespitzten Verfassung – das Prinzip der Würde zugrunde liege. Das ist eine sensible und, wie ich finde, sehr treffende Interpretation. Das Grundgesetz betont und schützt das hohe Freiheitsrecht des Einzelnen, aus dem zugleich eine Verantwortung ge
genüber dem Gemeinwesen erwächst. Das korrespondiert übrigens sehr gut mit dem Toleranzgebot in der bremischen Landesverfassung.
Im Laufe seiner Entwicklung gab es über 50 Änderungen des Grundgesetzes. Wir haben in diesen Tagen viele Kritiken gelesen, dass das der Klarheit, der Wahrhaftigkeit und der Schönheit des Grundgesetzes durchaus abträglich gewesen wäre. Eines bleibt jedoch festzuhalten: Der Kern der Grundrechte in den ersten 20 Artikeln ist hart, gesund und resistent geblieben. Das ist eine der bemerkenswertesten Botschaften. Noch in der Weimarer Demokratie konnten etliche Grundrechte durch einfache Gesetze ausgehebelt werden, während in der heutigen Demokratie ein Grundrecht in keinem Falle in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf. Recht, Freiheit und Gerechtigkeit zu hegen und zu pflegen, selbst wenn sich Probleme und Krisen häufen, so lautet eine wesentliche Botschaft unseres Grundgesetzes. Eine bessere deutsche Verfassung gab es nie.
Damit ist noch nicht alles zum Besten bestellt. Würde hat viel mit Mitmenschlichkeit und Solidarität zu tun. In dieser Woche veröffentlichte der Paritätische Gesamtverband den Armutsatlas Deutschland. Eine beschämende Bilanz für eine der nach wie vor reichsten Nationen der Welt! Die Neigung zu sozialer Ausgrenzung, der Gefahr sozialer Spaltung müssen wir überwinden. Das Grundgesetz verpflichtet uns, speziell die staatliche Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.