Protocol of the Session on November 2, 2006

Ich werde der Einrichtung des Untersuchungsausschusses zustimmen, und ich wünsche dem Untersu

chungsausschuss, dass er ein gutes Ergebnis bringt in dem Sinne, dass wir politisch daraus richtige und gute Schlussfolgerungen ziehen können. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!

Als Nächster erhält das Wort der Präsident des Senats, Herr Bürgermeister Böhrnsen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen ist das ureigenste Recht des Parlaments. Deshalb ist es Brauch, dass sich der Senat in dieser Debatte nicht zu Wort meldet. Ich möchte davon heute für einige Bemerkungen eine Ausnahme machen.

Ich habe ganz ausdrücklich, ganz überzeugt und ganz bewusst drastisch formuliert, weil es die Wahrheit ist und bleibt, es ist ein schreckliches, ein unverzeihliches Versagen des Staates, der zu dem Tod von Kevin geführt hat. Vater Staat war hier wirklich Vater, er hatte die elterliche Sorge. Kevin musste vor seinen Eltern geschützt werden, das war unsere Aufgabe, und in dieser Aufgabe haben wir versagt. Ich habe deswegen Staatsrat Mäurer beauftragt zu dokumentieren, wer hat was, wann, wie, warum entschieden oder nicht entschieden. Ich bin dankbar, dass wir eine solche Dokumentation jetzt vorliegen haben.

Mir ist es wahrscheinlich wie jedem gegangen, der sich diese Dokumentation von Anfang bis Ende durchgelesen hat. Ich hatte das Bild von Kevin im Kopf und bin, wie andere auch, von Seite zu Seite und Schritt für Schritt dieser Behördenbearbeitung gegangen, und man hat sich gefragt: Wo ist eigentlich das Kind? Wo bleibt das Kind? Wer kümmert sich um das Kind?

Sie wissen, ich habe es auch gleich am Anfang gesagt, dass das Schicksal von Kevin sich mit meinem Leben an einer bestimmten Stelle und an einem bestimmten Punkt gekreuzt hat. Ich bin ehrenamtlich, und zwar nicht als Bürgermeister, sondern schon sehr viel länger, als ich Bürgermeister bin, als Bürger dieser Stadt Mitglied des Trägervereins des Hermann Hildebrand Hauses. Ich bin in dieser Eigenschaft angesprochen worden, aufmerksam gemacht worden und habe gemeint, dass das, was ich daraufhin veranlasst habe, helfen kann.

Ich habe den Bericht an dieser Stelle dreimal gelesen und auch mit großen Emotionen. Mir ist gesagt worden, das war ein krasser Fall, der so heute nicht wieder entschieden worden wäre, im Bericht von Staatsrat Mäurer ist es vermerkt, es würde eine Tagespflegemutter eingeschaltet werden. Ich habe jetzt diesem Bericht entnommen, dass der Vater auf dieses Angebot geantwortet hat, die Tagespflegemutter sei türkischer Nationalität, und die wolle er deswegen nicht haben. Daraufhin ist ihm geantwortet worden, sie sei nicht türkischer Nationalität, sie sei syrischer Nationalität, und daraufhin hat er geantwortet, das mache es ja nicht besser. Das fassungslos Machende ist doch, dass es dann keine Tagespflegemutter

Bremische Bürgerschaft (Landtag) – 16. Wahlperiode – 69. (außerordentliche) Sitzung am 2. 11. 06 4593

gegeben hat. Ich sage hier noch einmal ganz ausdrücklich, ich habe mir nicht vorstellen können, dass man dann einfach aufhört mit dem, was man für notwendig erachtet hat.

Der Bericht, die Dokumentation, die uns Staatsrat Mäurer vorgelegt hat, Herr Mäurer hat es in der Pressekonferenz auch so gesagt, beantwortet nicht alle Fragen. Die Frage, warum man sich mit dem Kind zwar als Fall und als Akte beschäftigt hat, aber nicht mit seinem konkreten Leben, wird nicht beantwortet.

Meine Damen und Herren, es kommt ja noch etwas Dramatisches hinzu: Wir wissen noch nicht den Todeszeitpunkt des Kindes, aber wenn wir uns die Dokumentation anschauen unter dem Eindruck, dass das Kind möglicherweise schon Ende Juli gestorben war und sich eine Bürokratie über Wochen und Monate mit einer Akte, mit einem Fall beschäftigt hat, aber nicht mit einem Kind, so ist diese Vorstellung doch gar nicht auszuhalten! Deswegen gibt es zahlreiche Fragen, die wir beantworten müssen, und ist es richtig, dass Sie diesen Untersuchungsausschuss einsetzen. Ich möchte hier für den Senat ganz ausdrücklich erklären, dass der Senat alles Erdenkliche an Unterstützung zur Arbeit des Untersuchungsausschusses leisten wird.

Liebe Frau Linnert, ich werfe Ihnen nicht vor, ich möchte auch nicht vorgehalten bekommen, dass irgendjemand daran denkt, dass das in eine parteipolitische Sicht hineingeraten kann und darf. Ich glaube übrigens, dass uns das niemand verzeihen würde, weder in der bremischen Öffentlichkeit noch in der deutschen Öffentlichkeit, und wir stehen unter dem Blickwinkel der deutschen Öffentlichkeit, wahrscheinlich sogar darüber hinaus. Es würde uns niemand zu Recht verzeihen, wenn wir dieser Verantwortung nicht gerecht würden und uns hier mit einem Vorurteil um die Aufarbeitung, um die Konsequenzen und Schlussfolgerungen aus diesem schrecklichen Schicksal kümmern würden.

Meine Damen und Herren, mir ist wichtig zu sagen, dass wir nicht warten können – bei allem Respekt vor der Arbeit des Untersuchungsausschusses –, bis der Untersuchungsausschuss seinen Bericht vorgelegt hat, und dann handeln, sondern dass wir sofort handeln müssen, und wir haben sofort gehandelt. Ich denke, es sind zwei Schritte, Sofortmaßnahmen und dann der nächste Schritt, dass wir das gesamte Hilfesystem für Kinder und Jugendliche nicht nur auf den Prüfstand stellen, sondern abklopfen müssen auf Schwachstellen und dann auch ganz schnell Konsequenzen ziehen müssen. Ich denke, das werden Sie auch als Mitglieder des Untersuchungsausschusses für richtig halten. Wir werden das, was der Untersuchungsausschuss zusätzlich erarbeitet, sicherlich einbeziehen.

Sofortmaßnahmen haben wir auf den Weg gebracht. Über Zahlen und Daten zu sprechen, wird Aufgabe

der neuen Senatorin sein. Was sich doch als erste, als allererste sich aufdrängende, jedenfalls als eine Schlussfolgerung, die sich unmittelbar mir aufgedrängt hat, wenn man nur die Akte, nur den Fall bearbeitet, ist, dass es gar nicht um das Kind gegangen ist und man nicht gewusst hat, wie es dem Kind geht, wie seine Situation ist. Dann ist doch die erste Aufgabe, die wir haben, dafür zu sorgen, dass wir ab jetzt wissen, wie es Kindern geht, und das ist die Sofortmaßnahme.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Deswegen wollen wir unbedingt, und das ist die Verantwortung, die wir den Kindern gegenüber haben, die in solchen Familienverhältnissen leben, dass sie sich nicht auf den Schutz und die Erziehung ihrer Eltern verlassen können, dass wir jetzt wissen, wie es diesen Kindern geht. Das ist die Aufgabe, die wir jetzt angehen, das müssen wir wissen, das ist das Erste. Damit diese Aufgabe auch geleistet werden kann, haben wir am vergangenen Wochenende, es ist darauf hingewiesen worden, neun Stellen ausgeschrieben. Über Stellenausschreibungen, die veröffentlicht worden sind, wollen wir zusätzliche Kräfte gewinnen, um diese Sofortmaßnahmen auch einleiten zu können.

Das Weitere ist, dass wir neue und bessere Standards setzen müssen, und die haben für mich auch in allererster Linie damit zu tun, dass wir wissen müssen, wie es dem Kind geht. Ich habe gesagt, das ist mein Ziel, das ich gern erreichen möchte, dass wir zweimal die Woche von Professionellen einen Eindruck bekommen, der uns sicher macht, wie es dem Kind geht. Das muss möglich sein, und das wird möglich sein.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Ich habe in diesem Zusammenhang auch gesagt, dass es nicht um Geld gehen kann. Das haben hier alle Redner gesagt, dafür bin ich dankbar. Das Wohl von Kindern steht über jeder Haushaltslage, deswegen werden wir finanzieren, was finanziert werden muss. Darüber hinaus glaube ich, dass wir die nächsten Wochen und Monate, der Untersuchungsausschuss wird sicher seinen Beitrag dazu leisten, über einen Mentalitätswechsel sprechen müssen. Ich nehme gern auf, was Sie gesagt haben, Frau Linnert, über die Kultur des Laisser-faires. Ja, das ist der Eindruck, den wir aus der Dokumentation haben.

Was mich bewegt hat, ist, so haben Sie es ja auch referiert, dass der Blick auf Vater und Mutter gerichtet war, wie geht es denen. Die Trauerarbeit des Vaters um den Tod der Mutter, so schimmert es an einigen Stellen durch, war wichtiger als die Frage, wie es eigentlich dem Kind geht. Oder die Parteilichkeit derjenigen – die Sozialarbeiterin war es, glaube ich –, die während der Schwangerschaft der Mutter vor der Frage stand: Was ist wichtiger, zu verhindern, wenn es geht, dass ein HIV-infiziertes Kind auf die Welt

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kommt, oder das Wohlbefinden der Mutter? Ich sehe es mit Fassungslosigkeit! Ich habe gedacht, es gibt nur eine Antwort darauf, aber augenscheinlich sehen es einige anders.

Ich glaube auch, dass man sich über Drogenpolitik verständigen muss, was es heißt, Methadonprogramme zu machen. Wie kontrollieren wir eigentlich, ob und wie Beigebrauch stattfindet oder nicht? Meine feste Überzeugung ist, dass Methadonvergabe nur dann in Betracht kommt, wenn es Sicherungen dafür gibt, dass der Beigebrauch eben nicht stattfindet.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Wir sind mit unserem Methadonprogramm nicht dazu aufgerufen, gewissermaßen die Sucht zu unterstützen, sondern wir sind dazu aufgerufen, die Sucht zu substituieren. Das ist doch der Auftrag!

Ich glaube, wir müssen der richtigen Aufgabe, das Verhältnis von Kinderrechten und Elternrecht neu auszubalancieren, auch Taten folgen lassen. Ich habe mich dazu so geäußert und mache es hier auch noch einmal, dass ich dafür bin, dass das Land Bremen alles unterstützt, was dazu führt, dass wir die Vorsorgeuntersuchungen für Kinder zwischen null und sechs Jahren verpflichtend machen,

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

weil ich glaube, es kann nicht sein, dass wir es in solchen prekären Familienverhältnissen zulassen, wenn Kinder sich auch Tagespflege, Krabbelgruppen, KiTas entziehen, dass solche Kinder nur zweimal gesehen werden: einmal, wenn sie geboren werden, und einmal, wenn sie in die Schule kommen, und dazwischen nicht. Das kann doch nicht sein!

Wir wissen doch, das sind die wichtigen, weichenstellenden Jahre, in denen Schicksale und Lebenschancen auch entschieden werden, also müssen wir doch auch in dieser Zeit etwas tun. Ich glaube, es ist auch anderen Eltern zuzumuten – und das ist die Balance zwischen Elternrecht und Kinderrecht –, die für sich, wie Herr Perschau gesagt hat, in Anspruch nehmen und in Anspruch nehmen können, dass sie ihren Erziehungsaufgaben gerecht werden, dann diese Aufgaben, die sie sowieso wahrnehmen, als verpflichtend zu erfahren, damit es uns gelingt, die, die ihre Aufgaben nicht entsprechend wahrnehmen, auch in den Kreis hineinzubekommen, der dann unsere Verantwortung spüren kann.

Was ich zum Ausdruck bringen möchte: Der Senat wird die Arbeit des Untersuchungsausschusses unterstützen. Wir werden gemeinsam alles dafür tun, dass der Staat seiner Verantwortung gerecht werden kann. – Ich danke für die Aufmerksamkeit!

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Damit ist die Beratung geschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung.

Wer dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktionen der SPD und der CDU mit der Drucksachen-Nummer 16/1168 seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen!

Ich bitte um die Gegenprobe!

Stimmenthaltungen?

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) stimmt dem Antrag zu.

(Einstimmig)

Meine Damen und Herren, der soeben angenommene Antrag sieht vor, dass der Untersuchungsausschuss aus sechs Mitgliedern und sechs stellvertretenden Mitgliedern bestehen soll.

Die Wahlvorschläge dazu liegen Ihnen schriftlich vor.

Wir kommen zur Wahl.

Wer den Wahlvorschlägen seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen!

Ich bitte um die Gegenprobe!

Stimmenthaltungen?

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) wählt entsprechend.

(Einstimmig)

Meine Damen und Herren, gemäß Paragraf 3 des Gesetzes über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen bestimmt die Bürgerschaft den Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses sowie dessen Stellvertreter. Beide müssen verschiedenen Fraktionen angehören.

Die Fraktion der CDU hat den Abgeordneten Helmut Pflugradt für die Wahl zum Vorsitzenden vorgeschlagen, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Abgeordneten Klaus Möhle als stellvertretenden Vorsitzenden.