Protocol of the Session on November 10, 2016

Wenn die FREIEN WÄHLER jetzt fordern, den Bürgerwillen zu respektieren, und sich für mehr Demokratie aussprechen, ist das gut und schön, aber 70 Jahre nach Inkrafttreten der Bayerischen Verfassung nicht sonderlich originell.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abgeordneten Hubert Aiwanger (FREIE WÄHLER): Ja, ja, sagen Sie das alles ruhig so!)

Regelmäßig beantragen wir und die GRÜNEN und neuerdings auch die FREIEN WÄHLER, dass hier eine Vereinfachung erfolgen soll. Dafür sind auch wir.

Was die Bundesebene betrifft, möchte ich auf Folgendes hinweisen. Es ist den besonderen Umständen der Gründerjahre geschuldet, dass im Grundgesetz fast keine plebiszitären Elemente vorgesehen sind. Das häufig bemühte Argument, dass die Weimarer Republik auch an zu vielen Volksentscheiden gescheitert sei, war schon immer falsch und taugt jedenfalls heute nicht mehr als Argument gegen bundesweite Volksentscheide.

Die Weimarer Republik ist bekanntermaßen nicht an zu viel Demokratie gescheitert, sondern an zu wenig

Demokraten. Ganz an ihrem Ende, nämlich 1933, ist sie nicht von Mehrheiten auf der Straße, sondern von Mehrheiten in den Parlamenten gegen die Stimmen der SPD abgeschafft worden. Auch dieser Freistaat Bayern ist gegen die Stimmen der Sozialdemokraten im Landtag abgeschafft und zu einer Verwaltungsprovinz degradiert worden. Da hatten sich die Parlamente geirrt, nicht das Volk, wie es ihm gelegentlich unterstellt wird.

Natürlich kann sich auch das Volk in seiner Mehrheit irren, aber auch ein Parlament. Die deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts liefert hierfür viele Belege.

Als nach der deutschen Wiedervereinigung eine große Verfassungsreform auf der Tagesordnung stand, war es – mit Verlaub – wieder ein Sozialdemokrat, und zwar diesmal Hans-Jochen Vogel, der als Obmann der SPD in der Verfassungskommission leidenschaftlich für eine Verfassungsänderung zur Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene eingetreten ist. Die Konservativen und die Liberalen waren dagegen, die FREIEN WÄHLER waren nicht dabei.

Im Jahr 2002 hat die rot-grüne Regierung unter dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder noch einmal einen Anlauf gemacht und ist wieder an den Konservativen und Liberalen gescheitert.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Bei der Bildung der jetzigen Großen Koalition war die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene durchaus ein Thema. Diesmal ist es an der CDU gescheitert. Ich gebe zu, es war nicht die CSU. In diesen Tagen haben sich Mitglieder der CSU dafür ausgesprochen, Volksentscheide auf Bundesebene in das neue Grundsatzprogramm aufzunehmen. Das freut mich, nachdem die CSU jahrzehntelang der Parole ihres früheren Vorsitzenden gefolgt ist, die da lautete: Vox populi, vox Rindvieh, und im Landtag mehrere Anläufe der Opposition mit exakt der gleichen Forderung, die sie jetzt von ihren Mitgliedern hat beschließen lassen, abgelehnt hat.

Es ist einerseits gut, dass sich auch im konservativen Lager etwas bewegt. Andererseits beunruhigt es schon etwas, meine Damen und Herren, dass der Ruf nach mehr Volksentscheiden heute auch zum Kern rechtskonservativer Argumentation, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch in vielen anderen Ländern, gehört und von Rechtspopulisten lautstark erhoben wird.

(Zuruf des Abgeordneten Thomas Kreuzer (CSU))

Wenn man, so wie die SPD seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten, die Grundsatzfrage, ob bundesweite Volksentscheide ermöglicht werden sollen, positiv beantwortet, dann fangen die Probleme aber erst an, wenn es um die Details geht, in welchem Umfang und zu welchen Materien bundesweite Volksentscheide ermöglicht werden sollen. So wie in Bayern, wo das Volk das Recht zur Gesetzgebung hat und ein Volksbegehren immer eine Gesetzesvorlage zum Gegenstand haben muss, oder aber ganz anders, zum Beispiel in der Weise, dass Volksentscheide, so wie es die FREIEN WÄHLER in einem Dringlichkeitsantrag vor Kurzem locker formuliert haben, zu nationalen und europäischen Fragen ermöglicht werden sollen?

(Zurufe von den FREIEN WÄHLERN)

Zu welchen denn?

(Zuruf des Abgeordneten Hubert Aiwanger (FREIE WÄHLER))

Sollen es also bundesweite Volksentscheide, zum Beispiel zu CETA oder zur Frage des Beitritts der Türkei zur EU, zum Austritt aus der EU oder zum Euro geben? Wozu sollen sie ermöglicht werden? Darüber kann und muss man streiten. Wir sind dazu bereit; wir wollen dies seit Jahrzehnten.

Plebiszite sind per se weder immer gut noch immer schlecht für die Demokratie. Sie können sowohl konstruktiv als auch destruktiv sein. Die Mehrheit ist nicht gleichzusetzen mit Wahrheit; das gilt im Parlament und gilt auch für ein Plebiszit. Auch in einer plebiszitären Demokratie muss es Tabus geben, und die Ewigkeitsgarantien der Verfassung dürfen nicht in Frage gestellt werden. Sowohl die parlamentarische als auch die plebiszitäre Demokratie brauchen deshalb ein Korrektiv in Form eines Verfassungsgerichts.

Dennoch, meine Damen und Herren: Trotz aller Probleme sind wir für bundesweite Volksbefragungen und Volksentscheide, so wie wir für Bürgerbegehren und Volksentscheide auf Landesebene waren und sind. An uns wird die direkte Demokratie nicht scheitern. Im Gegenteil, das gehört zu unserer DNA.

(Anhaltender Beifall bei der SPD)

Danke schön, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin hat Kollegin Schulze vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort. Bitte sehr.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Als GRÜNE gefällt mir das Thema der Aktuellen Stunde; denn das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

ist die Partei, die seit ihrer Gründung für die direkte Demokratie steht, sowohl in unseren inhaltlichen Forderungen als auch in unseren Parteistrukturen und unseren Werten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Mütter und Väter der Bayerischen Verfassung hatten Weitblick. Sie haben mit Volksbegehren und Volksentscheiden eine wichtige Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie geschaffen. Die Bürgerinnen und Bürger nützen diese, um die falschen Weichenstellungen der Regierung zu korrigieren und eigene Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Die Bürgerinnen und Bürger haben sich dadurch selbst mehr direkte Demokratie geschaffen, indem eine breite Koalition gegen den erbitterten Widerstand der CSU-Regierung den kommunalen Bürgerentscheid eingeführt hat. So manches unsinnige Projekt, das im Hinterzimmer entstanden ist, wurde dadurch gestoppt.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die überflüssige dritte Startbahn, die die CSU lieber heute als morgen bauen würde. Aber da muss ich Ihnen eine Warnung zurufen. Wir werden darauf achten, dass das Bürgervotum geschützt wird; denn die Bürgerinnen und Bürger haben die dritte Startbahn abgelehnt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Kolleginnen und Kollegen, eine Gesellschaft, die bunter und vielfältiger wird, lässt sich nicht einen, indem man ihr eine Leitkultur überstülpt. Sie akzeptiert aber gemeinsame Positionen, wenn auf Augenhöhe über strittige Fragen debattiert wird und die Menschen an der Entscheidung beteiligt werden. Mitmachen und Mitentscheiden sind keine Modeerscheinung, sondern dringend nötige Prinzipien einer emanzipierten und vielfältigen Gesellschaft.

Da, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es gut, wenn die Bürgerinnen und Bürger durch Bürger- und Volksentscheide direkten Einfluss nehmen können. Bevor man sich nun aber zufrieden zurücklehnt, muss man feststellen: Das alleine reicht nicht. Eine Mitmachdemokratie braucht mehr. Sie darf die Menschen und ihren Wunsch nach Beteiligung nicht erst dann ernst nehmen, wenn eine Niederlage in einem Referendum droht. Wir müssen vorher anfangen, indem wir auch hier in Bayern endlich ein längst überfälliges Transparenzgesetz verabschieden.

Die Menschen haben das Recht, öffentliche Daten einzusehen; denn diese Daten gehören ihnen, nicht irgendeiner Obrigkeit. Es ist eine Schande, dass wir in Bayern immer noch keine Informationsfreiheit haben, während andere Bundesländer da schon lange Vorreiter sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Menschen in Bayern haben auch das Recht, bei Planungen mitzusprechen, und nicht erst dann, wenn eigentlich schon alles entschieden ist. Wir brauchen deshalb eine Kultur des Mitmachens und des Mitentscheidens.

Direkte Demokratie hat aber auch eine andere Voraussetzung. Anders, als es die rechten Demagogen gerne glauben machen wollen, gibt es keinen vorab existierenden Volkswillen, dem man nur noch zum Durchbruch verhelfen muss. Auch direkte Demokratie beruht auf der Debatte und dem Ringen um Positionen und Argumente. Es geht um die beste Lösung im Sinne des Gemeinwohls, und nicht darum, Einzelinteressen durchzusetzen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Deshalb braucht direkte Demokratie vielleicht noch mehr als die parlamentarische Demokratie eine verantwortliche Haltung, die Gegenargumente und andere Gruppen akzeptiert und nicht diffamiert. Sie braucht klare Regeln. Was es für die politische Kultur bedeutet, wenn wir uns daran nicht halten, können wir in den USA sehen. Die jahrelange menschenverachtende Rhetorik von rechtskonservativen Kreisen hat den Nährboden für eine tiefe Spaltung des Landes bereitet. Sie, die CSU, machen gerade denselben Fehler, Sie vereinen eben nicht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Noch eine weitere Voraussetzung hat die direkte Demokratie: Das Volk muss der Souverän bleiben. Placebodemokratie nach Gutsherrenart wie die von der CSU propagierte Volksbefragung hebelt genau diese Souveränität aus und macht das Volk zur Restgröße machttaktischer Überlegungen. Ihre Argumentation, Herr Zellmeier, ist wirklich lächerlich. Sie haben hier die Volksbefragung als große Errungenschaft der direkten Demokratie gefeiert, obwohl diese nicht bindend ist, sodass damit den Menschen nur vorgegaukelt wird, dass sie etwas entscheiden könnten. So geht keine direkte Demokratie.

(Beifall bei den GRÜNEN – Josef Zellmeier (CSU): Mehr Vertrauen zur Staatsführung!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Freiheit und unsere Demokratie sind nicht naturgegeben. Mehr denn je müssen wir darum kämpfen. Direkte Demokratie spielt dabei eine wichtige Rolle, aber nur dann, wenn sie klare Regeln hat.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Danke schön, Frau Kollegin. – Als Nächste hat Frau Kollegin Guttenberger von der CSU das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bayern ist ein Erfolgsmodell, auch wenn es die Opposition nicht hören will.

(Beifall bei der CSU – Hubert Aiwanger (FREIE WÄHLER): Natürlich wollen wir das hören!)

Ich verstehe natürlich, dass man bei einem so überaus erfolgreichen Modell,

(Hans-Ulrich Pfaffmann (SPD): Besser als in Baden-Württemberg! Dieser Satz fehlt!)

wie es in Bayern mit den verschiedenen Möglichkeiten wie Volksentscheid, Volksbegehren, Bürgerentscheid, Bürgerbegehren oder Volksbefragung praktiziert wird,

(Hans-Ulrich Pfaffmann (SPD): Besser als in Nordrhein-Westfalen! Dieser Satz fehlt auch! )

gerne die Vaterschaft für Volksbegehren und Volksentscheid beansprucht, Herr Schindler. Das kann ich schon verstehen.

(Widerspruch des Abgeordneten Franz Schindler (SPD))

Diese Geschichtsklitterung sollten wir etwas ins rechte Licht rücken. Die SPD hat 1946 doch nicht allein mit ihren 28,8 % und 51 Sitzen in der Verfassunggebenden Landesversammlung die Bayerische Verfassung beschlossen. Nein, beschlossen hat sie die Mehrheit in der Verfassunggebenden Landesversammlung, und dazu hat die CSU mit 58,3 % und 109 Sitzen beigetragen. Herr Schindler, das ist die Wahrheit. Wenn Sie glauben, man könne die Volksgesetzgebung mit knapp 29 % durchsetzen, ist das mathematisch zwar interessant, mit der Realität aber nicht in Einklang zu bringen.