Protocol of the Session on April 8, 2014

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

In ihrer Antwort gibt die Staatsregierung, wie schon erwähnt, Wartezeiten auf einen Therapieplatz in der Oberpfalz und in Niederbayern von sieben Wochen an. Selbst diese Zahl wäre eigentlich zu hoch. Gerade bei Patienten mit psychischen Erkrankungen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Verschlimmerung deutlich, je länger sie auf einen Therapieplatz warten müssen. Immerhin erkennt die Staatsregierung selbst, dass das vielleicht nicht die ganze Wahrheit ist, und verweist auf eine Studie, die zu deutlich längeren Wartezeiten kommt. Leider wird diese Studie in der Beantwortung dieser Interpellation nicht näher zitiert. Es wird auch nicht weiter auf den Inhalt eingegangen.

Gemeint ist wahrscheinlich eine umfassende Umfrage im Auftrag der Bundespsychotherapeutenkammer von 2011. Hierin wird für Bayern eine durchschnittliche Wartezeit von 20 Wochen angenommen, also nicht von 7 Wochen. 49,3 % der Praxen würden Wartelisten führen. Hier ist doch, Kolleginnen und Kollegen, eine deutliche Diskrepanz zu erkennen. Das verstärkt sich noch, wenn man die Ergebnisse der Studie in Bezug auf die Verteilung zwischen Stadt und Land betrachtet. Der ländliche Raum schneidet hier deutlich schlechter ab.

Hinsichtlich der Versorgungssituation mit Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten bestehen in fünf Planungsbereichen Versorgungsgrade unter 50 % – im Landkreis Donau-Ries 43,1 %, in FreyungGrafenau 44,6 %, in Regen 45,2 %, in Rottal-Inn 45,5 % und im Landkreis Tirschenreuth sogar nur 33,9 % Versorgungsgrad. Eine derartige Unterversorgung ist einfach besorgniserregend. In Bezug auf die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung sind zwei Planungsregionen betroffen: Donau-Wald mit 47 % und Oberpfalz-Nord mit 40 %.

Kolleginnen und Kollegen, von gleichwertigen Lebensbedingungen in ganz Bayern – und dafür stehen wir als FREIE WÄHLER ja – kann nicht die Rede sein, wenn in einigen Regionen derartige Lücken in der psychiatrischen Versorgung bestehen.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

In einer immer älter werdenden Gesellschaft mit steigender Anzahl an Demenzerkrankten erhält die gerontopsychiatrische Versorgung einen besonderen Stellenwert. Herr Seidenath ist darauf eingegangen. Es ist zwar erfreulich, wenn 82 % der Hausärzte über die Weiterbildung "Psychosomatische Grundversorgung" verfügen, aber die Zusatzweiterbildung "Gerontopsychiatrische Grundversorgung" wäre genauso notwendig. Dieser Meinung bin ich auch. Es gibt zwar mittlerweile ein Zertifikat "Gerontopsychiatrische Grundversorgung" von Fachgesellschaften, aber das reicht nicht aus. Der Hausarzt ist derjenige, der den ersten Kontakt mit älteren dementen Menschen hat. Er muss geschult sein. Es ist ein bisschen verwunderlich, dass die Staatsregierung bei dieser Frage noch "prüfen" will. Kolleginnen und Kollegen, hier müsste dringend gehandelt werden.

Ebenso erschreckend ist die Angabe der Staatsregierung, dass sie keine Erkenntnisse über die Tätigkeit psychiatrischer Fachpflegekräfte hätte. Wie soll ein Bedarf ermittelt werden, wenn diese Zahlen nicht bekannt sind? Wie sollen Konzepte zur Personalgewinnung und Personalweiterbildung erarbeitet werden, um eine gute Versorgung älterer Menschen mit Demenz zu ermöglichen?

Leider zieht sich die Antwort der Staatsregierung, "es liegen hierzu keine Daten vor", oder ähnliche Formulierungen wie ein roter Faden durch die Beantwortung der vorliegenden Interpellation. Wir finden diese Antwort zum Beispiel auf die Frage, wie sich die Anzahl der Einwohner je Arzt oder je Ärztin mit der Schwerpunktbezeichnung "Nervenarzt", "Neurologie" und "Psychiatrie" entwickelt hat, oder auch bei der Frage nach der Anzahl der Einwohner je Ärztlichem oder Psychologischem Psychotherapeuten in den Jahren zwischen 2000 und 2010. Man würde doch erwarten, dass die Staatsregierung solche Informationen wüsste oder doch zumindest in Erfahrung bringen könnte. Ebenso erscheint der erbetene Vergleich mit den Daten aus anderen Bundesländern durchaus zumutbar. Eine kurze Anfrage hätte doch vermutlich schon zum Erfolg geführt. Aber wie auch schon bei vorausgegangenen Interpellationen sind die Antworten in weiten Teilen lückenhaft. Man muss sich schon fragen, ob damit der Bedeutung einer Interpellation, einer großen Schriftlichen Anfrage, Genüge getan wird.

Kolleginnen und Kollegen, insgesamt zeigt die Antwort der Staatsregierung auf die vorliegende Interpellation, dass Bayern noch einen mühsamen Weg vor sich hat. Man muss sich natürlich immer wieder fragen, warum wir nicht schon weiter sind; denn wirklich neu sind diese Erkenntnisse ja nicht, auch nicht für die Staatsregierung, obwohl sie zum Beispiel in ihrem

Regierungsprogramm mit keinem Wort Erwähnung finden. Vieles findet sich schon im Zweiten Bayerischen Psychiatrieplan von 1990 und seiner Fortschreibung von 2007. Hier steht zum Beispiel schon die Vorgabe, dass die Entwicklung von Institutionenzentrierung hin zu Personenzentrierung erfolgen soll, dass die Schnittstellen der Behandlung, zum Beispiel von stationär zu ambulant, aber auch zum Pflegebereich effektiver gestaltet werden sollen – also bereits 1990, vor fast 25 Jahren.

Wie ist es zum Beispiel zu erklären, dass es in Bayern nur einen einzigen Psychiatrischen Pflegedienst gibt? Gerade eine gute ambulante Pflege kann nach einem stationären Aufenthalt den Übergang in den Alltag im häuslichen Umfeld erleichtern und eine erneute stationäre Aufnahme in vielen Fällen verhindern.

Weiter ist in der Antwort der Staatsregierung die Rede vom niederschwelligen Zugang zu Hilfen, von Einbeziehung der Familienangehörigen, des vertrauten Umfeldes, von Gewährleistung eines hohen Standards an diagnostischen, therapeutischen und begleitenden Hilfen, und auch die Integration der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in die Allgemeinmedizin wird zumindest erwähnt.

Trotzdem, Kolleginnen und Kollegen, ist die Verwirklichung all dieser Aspekte noch in weiter Ferne. Es wird bereits als positiv herausgestellt, wenn in einigen Einrichtungen psychisch kranke Patienten denselben Eingang benützen wie somatisch Erkrankte. Ich denke ein paar Jahre zurück. Vor fünf, sechs, sieben Jahren haben wir bei uns zu Hause im Kreistag darüber diskutiert, ob bei einem neu zu schaffenden stationären Bereich für Psychiatriepatienten den somatisch Erkrankten derselbe Eingang zuzumuten wäre. Man muss sich das einmal vorstellen! Es ist ein ganz einfacher Aspekt, der aber für die Betroffenen sehr wichtig ist und ein Zeichen gegen die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen setzen kann.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Kolleginnen und Kollegen, wir FREIEN WÄHLER rufen die Staatsregierung auf, zu handeln. Wir haben durch die Interpellation mehr Daten gewonnen und haben andere Aspekte, die wir berücksichtigen können. Wir fordern die Gleichbehandlung psychisch und körperlich erkrankter Menschen und das Ende der Stigmatisierung. Wir fordern den niederschwelligen Zugang zu Hilfesystemen, die Stärkung ambulanter und teilstationärer Strukturen und die rechtliche Absicherung des Schutzes psychisch kranker Menschen und die Hilfe für sie. Baden-Württemberg macht es uns im Moment vor.

Wir fordern auch für Bayern ein Psychisch-KrankenHilfe-Gesetz, das heißt ein Gesetz über Schutz und Hilfen für psychisch kranke Menschen. – Danke für die Aufmerksamkeit.

Herzlichen Dank. – Bevor ich den nächsten Redner an das Rednerpult bitte, möchte ich den jüngsten hauptamtlichen Bürgermeister Bayerns bei uns begrüßen. Er ist Erster Bürgermeister von Kleinostheim im Landkreis Aschaffenburg und erst vor Kurzem gewählt worden. Ich freue mich, dass er heute unser Gast ist und sich umschaut. Herzlich willkommen!

(Allgemeiner Beifall)

Kollege Leiner, bitte.

Sehr geehrtes Präsidium, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren über die überaus umfangreiche Interpellation der SPDFraktion und deren Beantwortung durch die Bayerische Staatsregierung. Die Initiative der SPD-Fraktion ist grundsätzlich zu begrüßen, auch wenn viele Antworten seit Langem bekannt sind.

Die Beantwortung dieser Interpellation war bereits dreimal verschoben worden. Die einzelnen Antworten der Bayerischen Staatsregierung erschöpfen sich nahezu vollständig in einem Sammelsurium aus Tabellen, die der Krankenhausstatistik entnommen sind.

Eine Interpretation der Daten und die Ableitung von Handlungsbedarfen, wie von den Fragestellern gefordert – ich gehe zumindest davon aus, dass die SPDFraktion Angaben dazu haben wollte –, fehlen nahezu gänzlich. Zeit dazu war allemal; wir haben auf die Beantwortung lange warten müssen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Aus den Antworten der Staatsregierung geht zusammenfassend hervor – an dieser Stelle kann ich Herrn Seidenath zitieren –:

Das System der Versorgung von psychisch erkrankten, seelisch behinderten und suchtkranken Menschen in Bayern ist hoch differenziert … und gut ausgebaut.

Herr Seidenath, diese Ansicht teilen wir in keiner Weise. Vielmehr müssen wir feststellen, wie aktuelle Ereignisse – ich nenne nur die Stichworte Mollath, Taufkirchen, Substitution – zeigen, dass in vielen Bereichen dringender Handlungsbedarf besteht.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dass die Situation in einigen Bezirken möglicherweise unterschiedlich ist, darf über die Gesamtproblematik nicht hinwegtäuschen.

Seit den Neunzigerjahren besteht breiter fachlicher Konsens darüber, dass Bayern ein Gesetz über Hilfe und Schutz für psychisch erkrankte Menschen benötigt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zuletzt fand im Juni 2013 unter fachlicher Leitung der Bayerischen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie ein fraktionsübergreifendes Hearing im Landtag statt. Vertreter der Sozialpsychiatrie, Direktoren der stationären und Vertreter der ambulanten Einrichtungen, die Psychotherapeutenkammer, der Betreuungsgerichtstag, der Verband der bayerischen Bezirke, Psychiatrieerfahrene, Angehörigenverbände, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Krisendienste, Vertreter der freien und freigemeinnützigen Wohlfahrtspflege – sie alle haben damals den breiten Schulterschluss für ein modernes Psychiatriegesetz vollzogen; wir haben es bis heute nicht.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Ein modernes Gesetz zur Hilfe und zum Schutz für psychisch kranke Menschen muss vier Aspekte berücksichtigen: das Primat der Freiheit, den Anspruch auf angemessene Hilfe zum Schutz der Person – also nicht nur Unterbringung –, die Versorgung mit angemessenen psychosozialen Hilfen und nicht zuletzt die Gefahrenabwehr zum Schutz der Öffentlichkeit.

Die UN-Behindertenrechtskonvention – übrigens bereits seit 2009 in Deutschland in Kraft – zieht eindeutige Regelungsbedarfe in den Landesgesetzen nach sich; diesen ist in Bayern bis heute leider nicht entsprochen worden.

Darüber hinaus erfordert das Urteil des Bundesgerichtshofes zur Zwangsbehandlung und zur Unterbringung neue rechtliche Maßnahmen, um Zwangsbehandlungen auf ein notwendiges – ich füge hinzu: erträgliches – Maß zu beschränken. Auf das Urteil des Bundesgerichtshofes ausschließlich innerhalb eines Unterbringungsgesetzes zu reagieren, wie es von der CSU-Fraktion vorgeschlagen wird, ist fachlich falsch und greift viel zu kurz.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Angemessene Vorkehrungen für die Berücksichtigung der Bedürfnisse psychisch kranker Menschen müssen fachlich konkretisiert werden. Dabei sind die Mindestanforderungen zu berücksichtigen: verpflichtende flächendeckende Versorgung durch Dienste mit aus

reichender Personalausstattung, verpflichtendes Angebot zum Erstellen von Patientenverfügungen oder Behandlungsvereinbarungen. All das sind Punkte, die nicht ordentlich geregelt sind.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Unter juristischen, psychiatrisch-fachlichen und politisch-verwaltungstechnischen Aspekten müssen folgende Bereiche bearbeitet werden: das Unterbringungsrecht, der öffentlich-rechtliche Maßregelvollzug – eine Reform ist lange überfällig –, die fachliche und inhaltliche Definition der psychosozialen Hilfen, die Standards und der Aufbau von Versorgungsstrukturen, die Regelung der Versorgungsverantwortung sowie die Koordination der Hilfen auf der jeweiligen politischen Ebene und in den Verwaltungseinheiten. Des Weiteren brauchen wir ein verbessertes Beschwerdewesen und mehr Patientenrechte.

Unterbringung und Maßregelvollzug sind zwar eher juristische Maßnahmen; die Ursachen liegen aber immer in einer psychiatrischen Vorgeschichte, das heißt, sie sind von Haus aus krankheitsbedingt. Dies gilt es unbedingt zu berücksichtigen. Daher ist die Reform des Unterbringungsrechts allein völlig unzureichend.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der Schwerpunkt hierbei liegt vorwiegend auf Sicherheitsaspekten und berücksichtigt keine therapeutischen Fragestellungen. Anders formuliert: Für uns ist ein Mensch mit psychischer Erkrankung ein Mensch in besonderer Lage. Diese Besonderheiten bleiben gleich, ob er sich in einer Akutpsychiatrie oder im Maßregelvollzug befindet. Deswegen wollen wir einen einheitlichen Rechtsrahmen schaffen, der den Fokus auf Therapie auch im Vollzug, auf vorsorgende und nachsorgende Angebote sowie auf Unterstützung in Krisensituationen legt.

Sucht und psychiatrische Erkrankung – meine beiden Vorredner haben den Alkoholmissbrauch und die daraus folgenden Krankheiten genannt – sind zwei eng miteinander verwobene Krankheitsbilder. Deswegen möchte ich noch ein spezifisch bayerisches Problem ansprechen: die Situation der Substitutionsbehandlung. Substituierte sind suchtkranke Menschen, die auf die Behandlung mit Methadon unbedingt angewiesen sind. Als Folge der rechtlichen Risiken für die niedergelassenen Ärzte stiegen viele Mediziner aus bzw. sie wurden mit rechtlichen Verfahren überzogen, oder es wurde ihnen mit solchen Verfahren gedroht. Ich greife den Extremfall heraus: In Kaufbeuren wurde im Anschluss an eine Verurteilung – diese möchte ich nicht bewerten – einem Arzt durch die Bezirksverwal

tung die Approbation entzogen. Das nenne ich Berufsverbot. Das ist völlig unangemessen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, Sie können sich vorstellen, welche Folgen solche Fälle insbesondere in der Hausärzteschaft haben. Es macht halt niemand mehr. Die Folgen für die betroffenen Patienten dagegen sind unübersehbar.

Die GRÜNEN-Fraktion fordert die Bayerische Staatsregierung auf, sich für eine schnelle, umfassende Reform der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung einzusetzen und darüber hinaus alle notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation zu ergreifen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Regelung des Gesamtkomplexes ambulanter, teilstationärer und stationärer Versorgung psychisch erkrankter, seelisch behinderter und suchtkranker Menschen in Bayern bedarf der ressortübergreifenden Zusammenarbeit. Für die Fraktion der GRÜNEN im Bayerischen Landtag muss das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege federführend sein und bleiben, Frau Ministerin.