Protocol of the Session on July 17, 2002

Dieser Punkt ist deshalb nicht unerheblich, weil der schulische Erfolg, ablesbar an dem Zeugnis, das man in der Hand hält, über den Einstieg in eine qualifizierte Berufsausbildung entscheidet und die Grundlage zum Beispiel dafür legt, ob die Wahrscheinlichkeit, dass man arbeitslos wird, groß oder klein ist. Was in den vergangenen Wochen in allen Diskussionen über Pisa aber an den Rand gedrängt wurde, ist die Tatsache, dass der Mensch nicht nur aus Lesen, Schreiben, Rechnen und Kenntnis der Naturwissenschaften besteht.

(Hölzl (CSU): Das ist ja eine völlig neue Erkenntnis!)

Der Mensch hat nicht nur einen Kopf, er hat auch ein Herz, und er hat Hände. Kopf, aber auch Herz und Hand müssen in der Schule gebildet werden. Das wissen wir schon seit Pestalozzi. Ich habe den Eindruck, dass Sie von der CSU das mittlerweile vergessen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schule hat nicht nur die Aufgabe, Schülerinnen und Schüler in den sicherlich zentralen, von Pisa abgefragten Kompetenzen zu stärken. Genauso wichtig ist die Förderung der emotionalen und sozialen Kompetenz, die musische und kreative Seite des Menschen und seine Kritikfähigkeit. Zur Entwicklung ihrer Gesamtpersönlichkeit sind also Singen, Tanzen, Musizieren, Theaterspielen, Werken, Sport und das Sich-um-den-Schulgarten-kümmern unverzichtbar. Wenn wir heute über bayerische Bildungspolitik auf dem Weg ins 21. Jahrhundert diskutieren wollten, was leider nicht der Fall ist, dann reicht der Blick auf Pisa und Pisa-E nicht aus, sondern wir müssen umfassend diskutieren und eine umfassende Reform anpacken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine solche umfassende Reform kann nur gelingen, wenn wir drei Voraussetzungen schaffen. Wir brauchen mehr Zeit für die Kinder und Jugendlichen, um diese individuell zu fördern, wir brauchen mehr Zeit für Gespräche mit den Eltern, und wir brauchen mehr Zeit für die Lehrerinnen und Lehrer, damit diese im Team arbeiten können. Wenn uns das gelingt, dann werden nicht nur die Leistungen der Schülerinnen und Schüler besser; dann wird auch der Erfolg in der Schule nicht mehr in dem Maße wie bisher von der Herkunft der Schülerinnen und Schüler abhängig sein. Dann werden wir auch das haben, was ich als humane Schule bezeichnen möchte.

Wir haben in Bayern beim Bundesvergleich gute Leistungsergebnisse erzielt, aber die schulische Situation kann uns trotzdem nicht zufrieden stellen.

7,8% der deutschen Schülerinnen und Schüler haben nicht einmal einen Hauptschulabschluss; unter den ausländischen Schülerinnen und Schülern sind es sogar 25%. Soviel zu der angeblich so ausländerfreundlichen Bildungspolitik der Bayerischen Staatsregierung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unsere Schülerinnen und Schüler sind zwar im Schnitt besser als die Schülerinnen und Schüler in anderen Bundesländern. Aber was haben unsere Schülerinnen und Schüler davon? Was haben sie letztendlich davon, dass sie bundesweit an der Spitze stehen?

(Dr. Bernhard (CSU): Das ist ja absurd! – Weitere Zurufe von der CSU)

Nichts; denn wir schaffen es nicht, sie so zu fördern, dass sie einen Abschluss bekommen. Aber gerade das wäre doch so wichtig, um z. B. der Arbeitslosigkeit vorzubeugen.

(Dr. Bernhard (CSU): Es geht nicht nur um den Abschluss, sondern es muss auch wieder eine ordentliche Leistung geben!)

Selbstverständlich! Aber darauf müssen wir Mühe verwenden. Ich habe nichts von der Frau Ministerin darüber gehört, wo wir bei uns ansetzen müssen. Sie hat immer nur mit dem Finger auf die anderen gedeutet. Sie müsste einmal hingucken, wie es bei uns ausschaut, und von der Selbstbeweihräucherung herunterkommen. Sie müssten schauen, was bei uns notwendig ist. Das alles ist heute nicht geschehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das möchte ich hier thematisieren, weil mir die bayerischen Schülerinnen und Schüler am Herzen liegen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es tut mir weh, wenn ich sehe, dass bei uns so viele Schülerinnen und Schüler, obwohl sie offensichtlich vergleichsweise gute Leistungen erbringen, nicht einmal einen Hauptschulabschluss erreichen. Sie verlassen die Schule ohne Chancen, eine Lehrstelle zu bekommen. In diesem Punkt versagen Sie gnadenlos.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es ist eben wichtig, einen Schulabschluss zu haben. Je höher dieser ist, umso besser; denn damit kann man der Arbeitslosigkeit vorbeugen.

Ich zitiere jetzt aus dem Informationsdienst des Instituts der Deutschen Wirtschaft vom 11. Juli 2002:

Mit der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit ist Bildung. Dabei gilt: je mehr, desto besser. So waren im Jahr 2000 lediglich 3% aller Hochschulabsolventen

in Deutschland arbeitslos gemeldet. Auch eine solide berufliche Ausbildung erspart vielen den Gang zum Arbeitsamt. Nur jeder zwölfte Meister oder Geselle war seinerzeit auf Jobsuche. Dagegen wird die Arbeitslosigkeit zunehmend zu einem Problem der Geringqualifizierten. War zu Beginn der Neunzigerjahre nur jeder siebte ohne abgeschlossene Ausbildung arbeitslos, so fand im Jahr 2001 bereits jeder vierte von ihnen keine Anstellung.

Gewiss, Frau Ministerin, fängt der Mensch nicht im Gymnasium an, aber – Frau Kollegin Radermacher hat es schon gesagt – jeder sollte unabhängig von der sozialen Herkunft die Chance haben, in ein Gymnasium zu gehen.

Ich habe auch noch im Ohr, dass die Frau Ministerin gesagt hat: Es hat doch keinen Sinn, die Abiturientenquote zu erhöhen, wenn wir dadurch für die Arbeitslosigkeit ausbilden. Aber wir bilden dann eben gerade nicht für die Arbeitslosigkeit aus, denn je höher die Qualifikation, desto geringer ist die Gefahr, arbeitslos zu werden. Wenn wir dagegen unten nichts tun, wenn wir die 7,8% der deutschen Schülerinnen und Schüler nicht berücksichtigen und die 25% ausländischer Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss nicht berücksichtigen und gar nichts tun, dann bilden wir für die Arbeitslosigkeit aus. Das heißt, durch das Nichtstun bilden wir für die Arbeitslosigkeit aus, nicht dadurch, dass wir Kraft und Energie aufwenden, um möglichst hohe Qualifikationen für unsere Schülerinnen und Schüler anzubieten.

Angesichts der Tatsache, dass eine hohe Qualifikation das Risiko minimiert, arbeitslos zu werden, ist es doch ganz klar, dass der Run auf die Gymnasien so groß ist. Das ist aus Elternsicht verständlich. Die Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Dadurch ist der Druck auf das Gymnasium natürlich groß. Da kann man die berufliche Bildung noch so hochhängen: Sie schaffen es nicht, eine wirkliche Gleichwertigkeit von beruflicher und schulischer Bildung herzustellen; denn Sie sind nicht dafür, dass z.B. beruflich Qualifizierte ohne Abitur studieren können. Darauf komme ich allerdings später noch einmal zurück.

Wir können mit unserer schulischen Situation auch deshalb nicht zufrieden sein, weil es viel zu viele Kinder mit so genannten gebrochenen Biografien gibt. Lassen Sie mich hier nur eine Zahl nennen: 24,4% aller Schülerinnen und Schüler haben in Bayern mindestens einmal eine Klasse wiederholt. Das sind also fast 25%. Man bezeichnet so etwas gern als Ehrenrunde, um zu verschleiern, dass es für die betroffenen Schülerinnen und Schüler letztlich eine Niederlage ist. Es ist eine Niederlage, die man nur schwer verkraften kann. Das kann man in der Pisa-E-Studie nachlesen. Dort werden Hurrelmann und Wolf mit einer Untersuchung aus dem Jahr 1986 zitiert. Diese schreiben:

Abstufungen werden von den Betroffenen in aller Regel als Misserfolge oder sogar Scheitern erlebt und sind psychisch nicht einfach zu verarbeiten.

Wenn das doch wenigstens einen Sinn hätte!

Andere Untersuchungen zeigen, dass vergleichende Analysen der Leistungen von Wiederholern und Zurückgestellten mit den Leistungen von Jugendlichen, die ohne Verzögerungen in die neunte oder zehnte Klasse aufgerückt sind, Zweifel an der pädagogischen Wirksamkeit verspäteter Einschulungen und Klassenwiederholungen weiter verstärken. Das heißt: Wir lassen 25% der Kinder sitzen. Aber Sitzenbleiben nutzt nichts. Das Sitzenbleiben und das Wechseln der Schule werden bei uns gnadenlos praktiziert, bis beim Abitur lediglich 20% eines Jahrgangs ankommen. Das sind dann diejenigen Schülerinnen und Schüler, die das System ausgehalten haben. Aber auf der Strecke geblieben sind viele, mit Sicherheit auch solche, die eigentlich das Zeug gehabt hätten, das Abitur zu machen.

Wir tun viel, um Kinder zu entmutigen. Wir tun wenig, um Kinder und Jugendliche in ihrem Selbstwertgefühl zu fördern. Letzteres ist das, was wir an unseren Schulen brauchen. Wir brauchen deshalb Zeit, um die Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern.

Es ist doch Unsinn, dass alle zur gleichen Zeit und im gleichen Tempo und mit der gleichen Methode den gleichen Inhalt lernen sollen. Wir versuchen zwar immer, Gruppen zu bilden, von denen wir glauben, dass sie homogen zusammengesetzt sind. Eine homogene Zusammensetzung wird aber nie gelingen. Vernachlässigt wird dabei die Individualisierung, zu der die Skandinavier gezwungen sind, da sie ihre Schülerinnen und Schüler acht oder neun Jahre lang unterrichten und diejenigen, die einer fragwürdigen Norm nicht entsprechen, nicht aussondern können. Das ist das, was wir von den Skandinaviern lernen können. Durch die Individualisierung erzielen die Skandinavier insgesamt auch bessere Leistungsergebnisse.

Individuelle Förderung gelingt aber nur unter verbesserten Rahmenbedingungen. Dies heißt auch: Wir müssen weg von der 45-Minuten-Diktatur. Es dauert seine Zeit, bis sich Schülerinnen und Schüler in eine Sache vertiefen können, sich mit einem Gegenstand vertraut machen können, bis sie aufgrund von Irrtümern und Fehlern etwas entdecken und erforschen können. Deshalb müssen wir auch von den Wochenstundenplänen wegkommen und zu Jahresstundenplänen übergehen.

Statt ausgeklügelter Lehrpläne brauchen wir nationale Standards, die allerdings auch nicht zu üppig ausfallen dürfen, weil man sie dann nur unter extremem Zeitdruck erreicht. Die nationalen Ziele müssen so gestaltet sein, dass die einzelnen Schulen genügend Spielraum für eigene Lerninhalte haben. Wie die einzelnen Schulen diese nationalen Standards erreichen, liegt dann in deren Verantwortung. Dazu müssen wir aber bereit sein, die Schulen in die Freiheit zu entlassen.

Lassen Sie mich im Zusammenhang mit den nationalen Standards ein paar Worte zum Dringlichkeitsantrag der CSU sagen. Die Frau Ministerin hat gesagt, die KMK habe sich schon auf nationale Standards geeinigt. Wenn das so ist, müsste man eigentlich keinen Antrag vonseiten der CSU mehr stellen. Dort wird nämlich Folgendes gesagt:

Die Staatsregierung wird aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass die von den CDU- und CSU-regierten Ländern vorgelegten Bildungsstandards in den Fächern Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen (Englisch und Französisch) , Physik und Biologie Ausgangspunkt der bundesweiten Standards im Rahmen der Kultusministerkonferenz werden. Die Standards müssen durch eine Aufgabensammlung ergänzt werden, durch die die erwartete Leistung deutlicher beschrieben wird.

Ich halte den Duktus in Ihrem Antrag für unerträglich. Sie setzen die unionsregierten Länder zum Maßstab aller Dinge und führen den Wettbewerb zwischen den einzelnen Bundesländern fort, und zwar in verschärfter Form. Dabei müsste es doch ganz klar sein, dass es unsinnig ist, den Wettbewerb untereinander auszurichten. Vielmehr müssen wir den Blick auf die internationale Spitze richten.

Wir sollten nicht mit dem Finger auf die anderen zeigen, sondern Deutschland insgesamt muss sich an der internationalen Spitze orientieren. Dafür bedarf es enormer Anstrengungen aller.

Besserwisserei ist hier unangebracht. Die Zusammenarbeit muss groß geschrieben werden.

(Beifall der Frau Abgeordneten Radermacher (SPD))

Wenn die CSU mit einem solchen Antrag in die KMK geht, darin Fächer nennt und sagt, das sei der Mindeststandard, das müsse erst alles eingeführt werden und dann schauen wir mal, dann frage ich, wie es da zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den anderen Bundesländern kommen kann, um das Gesamtniveau Deutschlands zu heben.

(Dr. Bernhard (CSU): Man muss doch sein eigenes Niveau definieren dürfen!)

Das ist mir ein Rätsel. Ich glaube nicht, dass das gelingt, auch wenn sich die bayerische Kultusministerin so gebärdet, wie sie es heute getan hat. Sie haben aus der KMK berichtet, womit man sich dort so beschäftigt. Frau Ministerin, ich bin der festen Überzeugung, dass da bestimmt Punkte dabei sind, bei denen man fragen könnte: Haben die nichts anderes zu tun?

Sie, Frau Ministerin, predigen also die Zusammenarbeit, aber die Art und Weise, wie Sie damit umgehen, zeigt deutlich, dass sie diese Zusammenarbeit gar nicht praktizieren wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Frau Abgeordneten Radermacher (SPD))

Außerdem würde ich gar nicht unbedingt fordern wollen, die bayerischen Standards kritiklos zu übernehmen. Wir sollten vielmehr auch einmal eine Diskussion darüber führen, was unsere Kinder und Jugendlichen im 21. Jahrhundert tatsächlich brauchen: welche Kompetenzen, welche Fertigkeiten und welche Fähigkeiten. Den Weg, einfach alles aus der Vergangenheit weiter unge

prüft ohne die Entwicklung von Zukunftsperspektiven fortzuführen, halte ich für falsch. Wir sollten durchaus einmal eine Grundsatzdiskussion darüber führen, was unsere Kinder und Jugendlichen brauchen, um in der Zukunft bestehen zu können. Im CSU-Antrag und auch im Redebeitrag der Frau Ministerin fehlt jeglicher Ansatz zur Erneuerung unseres Bildungswesens. Sie, Frau Ministerin, belehren die anderen, und das war es dann auch. Das ist viel zu wenig.

Ein Wort zu den Orientierungsarbeiten, Frau Ministerin. Ich halte sie nach wie vor für falsch und habe mich deshalb auch aufgeregt. Ich habe mir aufgeschrieben: „Sie sind eine Meisterin der Polemik.“

(Zurufe von der CSU)

Sie sagen, wir seien gegen Orientierungsarbeiten, weil wir gegen jegliche Art der Evaluation seien. Wir sind immer noch gegen die Orientierungsarbeiten – das stimmt –, aber nicht gegen eine Evaluation. Wir haben schon sehr früh eine innere und äußere Evaluation eingefordert. Bei den Orientierungsarbeiten, die ich immer noch für falsch halte, passiert ja nichts. Ich habe Ihnen genau zugehört. Sie sagen, Sie könnten damit genau analysieren, woran Defizite liegen. Aber da fehlt mir dann der wesentliche Schritt. Sie müssen uns auch sagen, welche Hilfestellungen dann gegeben werden, wenn alles analysiert ist. Was folgt daraus? Gibt es Konsequenzen? Wer beschäftigt sich damit? Gibt es dann mehr Personal oder mehr Geld oder Material?

(Zurufe von der CSU – Unruhe)

Nun, ich frage Sie doch nur. Sie sagen nichts darüber, was folgen wird. Sagen Sie uns doch, wenn diese Orientierungsarbeiten wirklich ein so gutes Analyseinstrument sind, was daraus folgt. Dann können wir weiterdiskutieren.