Protocol of the Session on June 26, 2002

Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns am Montag gefreut, dass unsere Schülerinnen und Schüler in der Vergleichsstudie so gut abgeschnitten haben. Wie das aber so ist im Leben: Nach einem Feiertag kommt

immer ein Werktag, und eingedenk des Sprichwortes „Wer zu rudern aufhört, fällt zurück“ ist es jetzt an der Zeit, die Hausaufgaben zu machen, die Pisa auch der bayerischen Bildungspolitik aufgibt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

„Spitze im Mittelmaß“, so war am Montag ein Kommentar von Raimund Kirch in der „Nürnberger Zeitung“ überschrieben, eine Überschrift, die die Situation zutreffend beschreibt und gleichzeitig deutlich macht, wo es jetzt hingehen muss: zur internationalen Spitze.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was hat die Weltspitze, was wir nicht haben? Die Länder der Weltspitze können zwei Ziele miteinander vereinbaren: hoher Leistungsstandard auf der einen Seite und hohe Bildungsgerechtigkeit auf der anderen Seite. Das können wir leider nicht. Die Länder der Weltspitze schaffen es, die Herkunft der Kinder weniger bedeutend zu machen. Egal ob Arbeiterkind oder Managerkind: Diesen Ländern gelingt es offensichtlich, allein das Kind zu sehen, seine Fähigkeiten und Begabungen, und die Kinder so zu fördern, dass diese Höchstleistungen erbringen. Das gelingt offenbar auch in einer sehr entspannten, schülergerechten schulischen Atmosphäre.

Gerade hier ist der wunde Punkt in Bayern. Dies ist der wunde Punkt, und das zeigt auch die Tatsache, dass in allen Veröffentlichungen der CSU, der Staatsregierung und des Kultusministeriums mit keinem Wort auf diesen Punkt eingegangen wird. Er wird totgeschwiegen. Stellt man die Schlüsselfrage, wer den Zugang zu welchen Schulen hat, muss man leider zur traurigen Feststellung kommen, dass hier bei uns in Bayern keine Gerechtigkeit herrscht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ob ein Jugendlicher in unserem Schulsystem erfolgreich ist, hängt entscheidend davon ab, aus welcher Familie er stammt. Zugespitzt kann man sagen: Nicht das Können entscheidet über den schulischen Erfolg, sondern die Geburt. Kinder haften für ihre Eltern. Das findet in Bayern in einem Ausmaß statt, wie man es weder in den Ländern der Weltspitze noch in anderen Bundesländern findet. Pisa macht das am Besuch des Gymnasiums deutlich. Die Chance eines Akademikerkindes, das Gymnasium zu besuchen, liegt um das 10,5-fache höher als die eines Arbeiterkindes. Weiter schreibt die PisaStudie:

Selbst bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und gleicher Lesekompetenz liegen die relativen Chancen eines Jugendlichen, der aus einer Familie der oberen Dienstklasse stammt, ein Gymnasium zu besuchen, mehr als sechsmal so hoch wie für einen Fünfzehnjährigen aus einer Arbeiterfamilie.

Auf Deutsch heißt das: Ein Kind aus einer Akademikerfamilie hat eine mehr als sechsmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen, als ein Kind aus einer Arbeiterfamilie, das genauso gescheit ist. Für das Akademikerkind ist der Besuch des Gymnasiums ganz normal

und eine Selbstverständlichkeit; für das Arbeiterkind ist es eine Ausnahme. Das bayerische Schulsystem führt also zu einer Selektion zulasten von sozial schwachen Schülerinnen und Schülern.

Nun muss nicht jeder und jede ein Gymnasium besuchen. Die Chance dazu sollten aber alle haben, egal welchen Beruf Vater oder Mutter haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau das ist mit Chancengleichheit gemeint. Das hat mit Gleichmacherei überhaupt nichts zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das schulden wir den Kindern und den Jugendlichen, das schulden wir aber auch uns selbst. Die Bayerische Staatsregierung hat die ganze Zeit ein Potenzial brachliegen lassen. Das können wir uns, auch als Gesellschaft, nicht weiterhin leisten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden es nur dann schaffen, ein hohes internationales Leistungsniveau zu erreichen, wenn uns gelingt, Chancengleichheit herzustellen und die sozialen Benachteiligungen aufzuheben.

Bildungsgerechtigkeit ist die Voraussetzung für Spitzenleistungen. Diese beiden Ziele sind unlösbar miteinander verbunden. Wenn es uns nicht gelingt, Chancengleichheit herzustellen, dann erreichen wir auch nicht das Leistungsniveau der Spitzenländer. Das kann man in Pisa 2000 – ich nenne das einmal die erste Pisa-Studie – nachlesen.

Die große Herausforderung bayerischer Bildungspolitik liegt darin, diese beiden Ziele miteinander zu verbinden: hoher Leistungsstandard und gleiche Chancen für alle Kinder.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben es geschafft, dass die Mädchen mit den Buben bei der schulischen Bildung gleichgezogen haben. Leider sieht die Situation nach der Schule nicht mehr so gut aus. Warum soll es uns nicht auch gelingen, die soziale Herkunft eines Kindes genauso unwichtig zu machen wie das Geschlecht? – Wie kommen wir dahin?

Jeder Mensch ist einzigartig; diese Unterschiedlichkeit zwischen den Menschen muss zum Ausgangspunkt des Lernens gemacht werden. Die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes ist für uns der Ansatzpunkt für bildungspolitische Reformen. Das gelingt aber nicht mit Strukturen, die alles zentral steuern. Hier setzt unsere weitere Forderung an: Gebt den Schulen ein Höchstmaß an Freiheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Christine Burtscheidt beschrieb das in ihrem Kommentar in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 24. Juni 2002 unter

dem Titel „Freiheit für die Schule“ sehr treffend, ich zitiere:

Der Blick über die nationalen Grenzen lehrt: Das Geheimnis des Erfolgs etlicher Pisa-Spitzenländer sind dezentrale Strukturen. Ob in Finnland oder Kanada, dort entscheidet die Schule selbst, welchen Lehrer sie einstellen will und mit welchen Unterrichtsmethoden sie auf Schüler reagiert, die Sprachprobleme haben. Nicht mehr, sondern weniger Regeln fördern die Eigenverantwortung von Lehrern und Schülern, wie sie auch die Wirtschaft will.

Was für Hochschulen gilt, trifft auch für Schulen zu: Der Staat muss loslassen. Das ist eine Aufgabe, die sowohl SPD- als auch unionsregierte Länder zu leisten haben, wenn sie im internationalen Vergleich besser abschneiden wollen.

Da sage ich: wie wahr. Genau das haben wir GRÜNE bereits zu Zeiten von Hans Zehetmair – das heißt in der letzten Legislaturperiode – eingefordert und seitdem gebetsmühlenartig gepredigt.

1996 haben wir in einem Haushaltsantrag einen Modellversuch „Schule 2000“ gefordert. Dort sollten im Einzelnen folgende Elemente erprobt werden: Wahl einer Schulleitung, Erstellen eines Schulprogramms, Bewerbung neu einzustellender Lehrkräfte an der Schule und die Auswahl an der Schule, eigener Schuletat statt Mittelzuweisung, Zielkontrolle durch innere und äußere Evaluation, Beratung der Schulkonferenz und des Kollegiums durch externe Sachverständige, Aufheben des starren 45-Minuten-Rahmens und Einführung eines Zeitbudgets, Schulaufsicht in Form der Beratung der Schule anstatt Einzelberatung der Lehrkräfte. Schicksal dieses Antrags im Jahr 1996: von der CSU abgelehnt.

Es folgte der Gesetzentwurf zur Änderung des bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes vom 1. Juli 1999 mit dem Titel „Weiterentwicklung des bayerischen Schulsystems – Qualität steigern, Selbstverwaltung stärken, Demokratie leben“, in dem wir diese zentralen Elemente noch einmal aufgegriffen und in Gesetzesform gegossen haben. Schicksal dieses Gesetzentwurfes: von der CSU abgelehnt.

Wir haben Ihnen heute mit der Aktuellen Stunde einen Dringlichkeitsantrag vorgelegt, in dem die Ziele und wesentlichen Schritte dazu formuliert sind. Wir fordern die Staatsregierung auf, Maßnahmen zu ergreifen mit dem Ziel, die bayerischen Schülerinnen und Schüler an das hohe Leistungsniveau der internationalen Spitze heranzuführen und gleichzeitig Bildungsgerechtigkeit zu schaffen sowie die individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler zu garantieren. Um diese beiden Ziele zu erreichen, muss insbesondere die Sprachförderung intensiviert werden, –

(Glück (CSU): Wenn ihr nicht in der Regierungsverantwortung seid!)

einschließlich die Förderung der Muttersprache.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Schulen müssen größtmögliche Freiheit erhalten und ebenso wie die Kindergärten finanziell gestärkt werden. Ich hoffe, dass die CSU nicht beim Fähnchenschwenken stehen bleibt. Ich hoffe, dass sie ihren Blick nicht weiter rückwärts wendet und in einer fruchtlosen Auseinandersetzung mit den anderen Bundesländern bleibt, sondern nach vorne schaut. Ich hoffe, dass sie den Ehrgeiz hat, Konsequenzen aus der Pisa-Studie zu ziehen. Ich hoffe, dass sie den Mut hat, unsere innovativen Ideen zu übernehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Das Wort hat Frau Staatsministerin Hohlmeier.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will diese Aktuelle Stunde nutzen, um über die konkreten Ergebnisse von Pisa zu informieren, ohne dass die Ergebnisse dann Interpretationen zugeführt werden, die eine Pisa-Studie gar nicht zulässt und die mit der PisaStudie gar nichts zu tun haben.

Zunächst einmal: Die internationale Pisa-Studie, bei der die Leistungsfähigkeit der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in der Lesekompetenz sowie in mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundkenntnissen gemessen wurde, wurde nun durch einen nationalen Leistungsvergleich ergänzt. Die Ergebnisse der Studie liegen seit einigen Tagen vor. In allen untersuchten Bereichen – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – belegt Bayern in Deutschland den ersten Platz.

(Beifall bei der CSU)

Auch im internationalen Vergleich liegt Bayern als einziges Land immer über dem OECD-Durchschnitt und damit stets im oberen Drittel.

(Hofmann (CSU): Dank der Opposition! – Gegenruf des Abgeordneten Maget (SPD))

Ich werde in diesem Zusammenhang auf die Worte von Frau Münzel eingehen, wie sich das mit dem internationalen Spitzenfeld verhält. Ich halte dieses Ergebnis für sehr erfreulich. Bevor ich es erläutere, möchte ich auch hier im Parlament erst einmal denjenigen Dank sagen, denen dieses Ergebnis hauptsächlich zu verdanken ist: Zunächst gilt mein Dank den Lehrerinnen und Lehrern; ohne deren großes Engagement, und wenn sie sich nicht manchem Zeitgeist entgegengestellt hätten, wären wir in Deutschland nicht die Nummer 1 geworden.

(Beifall bei der CSU)

Ich gratuliere aber auch den Schülerinnen und Schülern, die für Bayern gezeigt haben, wie leistungsfähig sie sind und wie leistungsfähig eine junge Generation auch in der heutigen Zeit sein kann.

(Beifall bei der CSU)

Mein besonderer Dank gilt auch meinen Vorgängern im Amt, Herrn Staatsminister Prof. Dr. Hans Maier, der sich in den 70er und Anfang der 80er-Jahre heftig dagegen wehren musste, dass Bildung nivelliert wird, dass Leistung nicht mehr zählt, dass Erziehung konterkariert und dass die Autorität von Lehrkräften letztendlich unterminiert wird.

(Beifall bei der CSU)

Genauso nachdrücklich möchte ich Hans Zehetmair ein herzliches Dankeschön sagen, der über zehn Jahre lang darum ringen musste, dass Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache zum Abiturstandard in Deutschland gehören.