Protocol of the Session on December 11, 2001

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 77. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Bevor ich in die Tagesordnung eintrete, möchte ich auf zwei Punkte eingehen. Über 50 Jahre hat sie unsere Arbeit als Journalistin begleitet.

(Die Anwesenden erheben sich)

Als Frau der ersten Stunde hat sie den Wiederbeginn der Parlamentsarbeit nach dem Krieg miterlebt. Sie war gewissermaßen schon ein Bestandteil dieses Hauses. Vor wenigen Tagen ist Frau Hilde Balke gestorben. Ganz leise hat sie sich verabschiedet. Sie hat es sich nicht nehmen lassen, das Buch über die Landtagspräsidenten von 1946 bis 1994 zu vollenden. Dann legte sie die Feder für immer aus der Hand. Wir danken ihr und werden ihr ein ehrendes Gedenken bewahren. Sie haben sich zu Ehren von Frau Balke von den Plätzen erhoben. Ich bedanke mich bei Ihnen.

Noch ein paar Glückwünsche. Frau Kollegin Christl Schweder konnte am 16. November einen halbrunden Geburtstag feiern. Runde Geburtstage begingen am 28. November Frau Kollegin Berta Schmid und am 8. Dezember Frau Kollegin Christa Steiger. Im Namen des Hohen Hauses und persönlich gratuliere ich den Kolleginnen sehr herzlich. Ich wünsche ihnen alles Gute sowie Kraft und Erfolg bei der Erfüllung ihrer parlamentarischen Aufgaben.

(Allgemeiner Beifall)

Ich rufe nun auf:

Tagesordnungspunkt 1

Aktuelle Stunde

Für die heutige Sitzung war die Fraktion der SPD vorschlagsberechtigt. Sie hat zum Thema „Pisa-Studie – Was jetzt? Konsequenzen für die bayerische Bildungspolitik“ eine Aktuelle Stunde beantragt. In die Beratung beziehe ich folgende zum Plenum eingereichte Dringlichkeitsanträge ein:

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Glück, Knauer, Donhauser und anderer und Fraktion (CSU)

Entschließung zur Pisa-Studie (Drucksache 14/8249)

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Maget, Werner-Muggendorfer, Radermacher, Irlinger und Fraktion (SPD)

Pisa-Studie 2000 – Konsequenzen für die bayerische Bildungspolitik (Drucksache 14/8251)

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Dr. Dürr, Münzel, Gote und anderer und Fraktion (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Konsequenzen aus Pisa: Chancengerechtigkeit schaffen – Spitzenleistungen ermöglichen (Drucksa- che 14/8252)

Wie Sie wissen, dürfen in der Aktuellen Stunde die einzelnen Redner nicht länger als fünf Minuten sprechen. Auf Wunsch einer Fraktion kann einer ihrer Redner zehn Minuten sprechen. Dies wird auf die Gesamtredezeit der jeweiligen Fraktion angerechnet. Wenn ein Mitglied der Staatsregierung kraft seines Amtes das Wort nimmt, wird die Zeit seiner Rede nicht mitgerechnet. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung für mehr als zehn Minuten das Wort, erhält auf Antrag einer Fraktion eines ihrer Mitglieder Gelegenheit, fünf Minuten ohne Anrechnung auf die Zeit der Aussprache zu reden. Ich bitte Sie jeweils, auf mein Signal zu achten. Die erste Rednerin ist Frau Kollegin Radermacher mit einem Redebeitrag von zehn Minuten.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fassungslosigkeit war wieder einmal groß. Die Ergebnisse der Pisa-Studie sind kommentiert und vollmundig als Katastrophe bezeichnet worden. In der Tat könnte man sie als Katastrophe bezeichnen. Aber auch die Ergebnisse der OECD-Studie von 1998 und der Tims-Studie von 1999 haben eigentlich nichts anderes ausgesagt. Auch damals herrschte eine große Aufregung, der Absichtserklärungen und Beruhigungspillen folgten. Frau Hohlmeier, eine Spezialistin für Ankündigungspolitik, hat in diesem Fall sofort zugeschlagen und – die Pisa-Studie war noch nicht ganz gedruckt – die KMK aufgefordert, ein VierPunkte-Programm umzusetzen. Frau Hohlmeier hat uns bei diesem Vier-Punkte-Programm vollständig auf ihrer Seite, handelt es sich doch um Begehren, die wir all die Jahre im Landtag beantragt und die Sie ständig abgelehnt haben.

(Beifall bei der SPD)

Allerdings ist die Frage offen, wieso Frau Hohlmeier diese vier Punkte der KMK vorschlägt und nicht einfach in Bayern mit der CSU-Mehrheit und ihrer Verantwortung verwirklicht. Meine Damen und Herren, Sie müssten nur sich selbst überzeugen, bestenfalls auch noch den Finanzminister. Mit der Ankündigungspolitik muss endlich Schluss sein.

(Beifall bei der SPD)

Besonders erschüttert hat die SPD der Zusammenhang zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und Bildungsbeteiligung. Wer Ihren Antrag liest, merkt, dass Sie dies eigentlich nicht zur Kenntnis nehmen. Ich hatte gehofft, dass Sie dies genauso erschüttert: 50% der Jugendlichen aus Familien der oberen Schicht, aber lediglich 10% der Jugendlichen aus Familien mit ungelernten und angelernten Arbeitern besuchen das Gymnasium. Diese Bilanz ist in keinem der 32 untersuchten Industrieländer so dramatisch.

(Beifall bei der SPD)

Was wir hier tun, ist nicht nur inhuman, sondern eine in diesem Land einmalige Vergeudung von Ressourcen.

Herr Stoiber, unsere Kinder sind nicht dümmer, auch die bayerischen nicht. Sie werden nur weniger gefördert. Sie ergehen sich in Notenhürden und im Festlegen zum Beispiel von Abiturquoten: Es dürfen nicht mehr sein als 20%. All das trägt zu diesen katastrophalen Ergebnissen bei.

Beim Lesetest hat der Anteil der schwachen und schwächsten Leser eines Altersjahrgangs 23% betragen. Das heißt also, dass 23% größte Probleme haben, Texte zu begreifen, einzuordnen und umzusetzen. Das ist in der Tat eine Katastrophe.

Der hohe Ausländeranteil in Deutschland sei schuld, wird jetzt flugs interpretiert, nicht nur von Herrn Stoiber, sondern heute im Ministerrat auch von Frau Hohlmeier, die sagt: Die mangelnde Integration von Kindern und Jugendlichen vor allem aus der Türkei und Jugoslawien ist daran schuld. Auch dies stimmt nicht. Die Pisa-Studie hat nämlich intelligenterweise eine Kontrollgruppe eingerichtet. Es sind sowohl Jugendliche untersucht worden, die zwei ausländische Elternteile haben, als auch Jugendliche, die einen ausländischen und einen deutschen Elternteil haben, und Jugendliche, deren Eltern beide Deutsche sind. Die Unterschiede in der Kontrollgruppe sind nicht signifikant. Allerdings spielt die soziale Zugehörigkeit eine ausgesprochen große Rolle.

Ihre Antwort, Frau Hohlmeier: Förderprogramme zur Verbesserung der Sprachkompetenz. Sie haben diese heute wohl auch beschlossen. – Großartig! Ausgesprochen gut! –

(Zuruf von der CSU)

Nur, ich frage mich: Wieso sind erst über Jahre Förderstunden gestrichen worden? Wieso hat man den Hauptschulen enorm viele Stunden weggenommen? Wieso sind die Anträge der SPD zur Förderung ausländischer Kinder in jeglicher Form von Ihnen jahrelang abgelehnt worden?

(Beifall bei der SPD)

Wieso haben Sie den Unterrichtsausfall eigentlich hingenommen? Die Antwort kann doch nicht sein, dass wir jetzt in der Grundschule auch noch Orientierungsarbeit einführen und zusätzliche Hürden aufbauen. Wir wissen genau, dass Prüfungen, Tests und zusätzliche Hürden, mitnichten bessere Ergebnisse bringen. Die Studie zeigt uns eindeutig: Fördern, fördern und nochmals fördern – das ist das Gebot der Stunde, nichts anderes.

(Beifall bei der SPD)

Natürlich ist der Schuldige schon ausgemacht. Die Eltern sind auch schuld. – Sicherlich , Frau Hohlmeier, stehlen sich die Eltern sehr häufig aus ihrer Verantwortung. Sie kommen ihrem Erziehungsauftrag sehr häufig nicht nach. Daraus müssen wir überhaupt kein Hehl

machen. Sie können aber oftmals ihrem Erziehungsauftrag nicht nachkommen. Was tun Sie eigentlich dagegen? Es gab jahrelang die wunderbare Einrichtung der Erziehungsfreizeiten, gefördert durch den Freistaat Bayern. Die Wohlfahrtsverbände konnten damit wirklich positive Arbeit leisten. – Alles von Ihnen über Jahre hinweg gestrichen. Mit der Einrichtung von Elternschulen, wie sie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen kennt, ist in Bayern gar nicht erst begonnen worden, weil man den Eingriff des Staates in die Familie befürchtet hat. Von den langen Wartelisten bei den Beratungsstellen will ich überhaupt nicht sprechen.

Welche Konsequenzen müssen wir daraus ziehen? Das ist eigentlich alles nichts Neues. Wir haben in unserem Dringlichkeitsantrag die wichtigsten Punkte zusammengefasst:

Erstens muss die Unterrichtsqualität gesichert und es müssen endlich neue Unterrichtsformen – Gruppenunterricht, anwendungsorientierter Unterricht, praktisches Lernen – zugelassen werden, und zwar nicht nur punktuell an der einen oder anderen Schule. Mehr Zeit muss für Üben und Vertiefen zur Verfügung stehen.

Zweitens, Lehrerbildung. Die beschlossenen Reformen – Sie haben ja einige unserer Anträge angenommen – sind konsequent umzusetzen, Unterrichtsmethoden zu ändern. Fachwissen, Didaktik, Pädagogik und Praxiserfahrung müssen miteinander verknüpft werden. Die Lehrerfortbildung ist unerlässlich, und zwar nicht als freiwilliges Angebot, sondern verpflichtend für die Lehrerinnen und Lehrer. Dafür müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Drittens, Ganztagsschulen. Die CSU hat in ihrem Antrag lapidar von der Einrichtung von Ganztagsangeboten zur besonderen Förderung gesprochen.

(Zuruf von der SPD: Es soll geprüft werden!)

Sie sagt nichts darüber, wann, wo und nach welchen Kriterien Schulen beantragen können, Ganztagsschule zu werden.

(Beifall bei der SPD)

Es wird nach Gutsherrenart verfahren. Die Rede ist von 30 Schulen bis zum Jahr 2006, und niemand weiß objektiv, wer sich bewerben kann und wie die Kriterien aussehen.

(Maget (SPD): Ganze 30!)

Ja, ganze 30. – Für uns ist klar: Ganztagsschulen müssen bayernweit, bedarfsgerecht und regional ausgewogen eingerichtet werden. Aber das wissen Sie alles, und Sie werden in nicht allzu ferner Zeit auch dahin kommen.

Viertens, Durchlässigkeit. Zwischen den einzelnen Schularten und den einzelnen Klassenstufen muss endlich Durchlässigkeit bestehen. Noch so viele Notenhürden werden für den Erfolg unserer Kinder nicht entscheidend sein. Ich sage es noch einmal: Misserfolge begründen sich auf nicht ausreichende Förderung.

Fünftens, Kindergärten. Der Kindergarten muss eine kindgerechte Bildungseinrichtung sein. Wir gehen aufgrund der Pisa-Studie so weit, dass wir sagen: Das letzte Kindergartenjahr vor der Einschulung muss kostenfrei und verpflichtend sein, wenn es uns ernst sein soll mit dem gerechten Ausgleich und mit der Chancengerechtigkeit.

Sechstens, das ist eigentlich schon aus der OECD-Studie von 1998 deutlich geworden: Wir brauchen mehr Schulautonomie und eine Stärkung der Schulen, Kompetenzen müssen verlagert, Bürokratie muss abgebaut werden. Zwar sind Sie uns mittlerweile in weiten Teilen gefolgt. Aber Sie müssen den Schulen auch ein ausreichendes Budget zur Verfügung stellen.

Sie können es sich eigentlich ganz einfach machen. Sie müssen nur den zwölf Empfehlungen des Forums Bildung der Kultusministerkonferenz zustimmen und sie umsetzen.

(Beifall bei der SPD)

Sie müssen nichts Neues erfinden. Sie müssen nur endlich Ihre bildungspolitischen Ideologien ablegen.