Sie müssen sich nur einmal in die Rolle eines Kindes versetzen, das voller Neugierde auf die Welt in die Schule kommt. Die Kinder möchten etwas lernen. Sie sind gespannt darauf. Alle Kinder, die in die Schule kommen, strengen sich an. Sie werden aber, nach nur kurzer Eingewöhnungszeit, durch die Noten ständig darauf hingewiesen, dass sie verschiedenste Dinge nicht können würden. Die leistungsschwächeren Kinder bekommen dadurch den Eindruck, sie könnten sich anstrengen, wie sie wollen, es sei immer vergeblich. Diese Kinder denken dann: Ich tauge nichts. Was tut ein solches Kind? – Es resigniert, weil alle Anstrengungen nichts nutzen. Je früher wir den Kindern Noten geben, desto früher entmutigen wir sie. Daran ändert auch Ihr differenziertes System nichts.
Selbst wenn Sie die Deutschnote in verschiedene Kategorien aufspalten, ändert das nichts an der Tatsache, dass durch eine Ziffer die Leistung benotet und dem Kind deutlich gemacht wird, dass es auf seine Arbeit wieder einen Vierer, einen Fünfer oder einen Sechser bekommen hat. Hier gefällt mir das skandinavische System besser. Dort herrscht das „Paradies“, weil sehr lange, bis zur 8. Klasse, keine Noten vergeben werden. Stattdessen werden intensive Elternkontakte gepflegt und die Eltern über den Entwicklungsstand ihrer Kinder informiert. Die Verbesserungen werden auf diese Weise besser dokumentiert und verbalisiert. Die Kinder fühlen sich in diesen Ländern durch die Noten nicht abqualifiziert. Deshalb lehnen wir Noten in der 2. Klasse ab.
Noten sind subjektiv und sagen nichts über die Leistungsentwicklung aus. Ein Kind, das sich von 40 Fehlern auf 20 Fehler im Diktat verbessert hat, hat immer noch die Note 6. Noten sind somit demotivierend. Warum wurden die Noten in der 2. Klasse wieder eingeführt? – Frau Ministerin, Sie haben das als Hausaufgabe von Herrn Dr. Stoiber aufbekommen. Eines muss man Ihnen jedoch lassen: Sie sind eine Weltmeisterin im Verschleiern und Beschönigen.
Als ich gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ Ihre Ausführungen zur Notengerechtigkeit gelesen habe, habe ich mir gedacht: Das macht sie sehr clever. Sie spricht von Notengerechtigkeit. Gerechtigkeit ist ein sehr positiv besetzter Begriff. Wenn es Ihnen jedoch allein um Notengerechtigkeit ginge, dann hätten Sie in den Klassen beginnen sollen, in denen es bereits Noten gibt, nämlich in der 3. und der 4. Klasse. Es gibt keinen Grund, Noten bereits in der 2. Klasse einzuführen. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Debatte etwas mit der Schulstruktur zu tun hat, mit dem Übertritt an das Gymnasium und die R6. Sie versuchen, ein neues Diagnoseinstrument einzuführen, um noch früher deutlich zu machen, für welche Schulart ein Kind geeignet ist. Also geht es nicht um Notengerechtigkeit, sondern um die Übertrittsentscheidung.
Ein zweiter Schwerpunkt Ihrer Rede war den Störerinnen und Störern gewidmet. Nach unserer Meinung muss
Einen Ansatzpunkt sehen wir in Kindertagesstätten. Diese müssen auch zu Beratungszentren für Eltern ausgebaut werden. Gerade die Kindertagesstätten eignen sich hervorragend dafür, weil die Eltern ihre Kinder ohnehin in den Kindergarten bringen. Das Angebot ist niederschwellig. Für die Eltern ist es keine große Hürde, in den Kindergarten zu gehen und dort eine Beratung anzunehmen. Viele Probleme, die sich bei älteren Kindern zeigen, beginnen schon sehr frühzeitig. Viele Eltern sind nicht in der Lage, ihr Kind so aufwachsen zu lassen, dass es sich geborgen fühlt und später nicht zu auffälligem Verhalten neigt.
Auch die Schulsozialarbeit und die Schulpsychologie sind hier gefordert. Herr Arthur Engelbrecht, der langjährige Vorsitzende des Verbandes der Schulpsychologen, hat mir aus dem Herzen gesprochen, als er am 24. Juni in der „Süddeutschen Zeitung“ im Rahmen eines Interviews zur Problematik der aggressiven Schüler Folgendes gesagt hat:
Wenn der Schulpsychologe rechtzeitig eingeschaltet wird und kontinuierlich handelt, wenn er alle Beteiligten mit einbezieht, kriegt man die meisten Probleme in den Griff.
Wir haben breit gestreute Präventionsprogramme, aber keine Zeit und Experten, die die Ansätze dauerhaft umsetzen, wie derzeit an zwei Schulen in Augsburg und München. Dort müssen vom Unterricht ausgeschlossene Kinder selbst erarbeiten, was sie tun wollen, um sich zu integrieren. Wenn die Staatsregierung es schaffte, von bloßen Vorzeigeprojekten mal in die Fläche zu arbeiten, wäre viel erreicht.
Ich sehe es als vorrangige Aufgabe an, die Schulsozialarbeit und die Schulpsychologie zahlenmäßig auszubauen und von der Jugendsozialarbeit an Schulen, die für die Kommunen einen Mitfinanzierungszwang bedeutet, wegzukommen. Wenn die Schülerinnen und Schüler, was es auch gibt, nicht nur auffälliges Verhalten, sondern auch schwere psychische Störungen aufweisen, ist die Psychiatrie zuständig. Außerdem gibt es für besonders auffällige Schülerinnen und Schüler eine eigene Schulart, nämlich die Schule für Erziehungshilfe. Diese Schulen nehmen auch besonders aggressive Kinder auf. Frau Staatsministerin, diesen Schulen fehlen jedoch Internate.
Eines dürfen wir bei dieser Problematik nicht vergessen: Hier handelt es sich um Kinder, die zum Teil bittere, schwierige Lebensgeschichten hinter sich haben. Diese Kinder stammen aus Familien, in denen Gewalt an der Tagesordnung ist. Diese Kinder wurden in ihrer Familie
schwer misshandelt und emotional vernachlässigt. Sie haben mit sich selber Schwierigkeiten und machen daraus anderen Schwierigkeiten. Diese Kinder müssen oftmals aus ihren Familien herausgenommen werden. Die Schulen für Erziehungshilfe böten einen hervorragenden Ansatzpunkt, wenn sie mit einem Internat ausgestattet werden könnten, um die Kinder aus den Familien herauszunehmen.
Herr Dr. Dürr, ich möchte jetzt der Ministerin meine Meinung zu den Clearingstellen sagen. – Die Clearingstellen haben die Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen unterzubringen, zum Teil auch in geschlossenen Heimen; so nenne ich das jetzt. Sie formulieren das anders. Sie sprechen davon, dass die Kinder und Jugendlichen hier kurzfristig geschlossen untergebracht werden. Dann wird beraten, was damit geschehen soll. Gegen den Willen der Eltern können diese Kinder aber nicht in die Clearingstelle gebracht werden. Das ist ein großer Nachteil. Wenn die Eltern einverstanden sind, könnte man die Kinder auch so in geschlossenen Heimen oder in anderen Heimen unterbringen. Das ist ein großer Schwachpunkt Ihrer Clearingstellen.
Ihr Konzept enthält nichts, von dem man sagen könnte, es wäre zu Ende gedacht. Der schlimmste Fall ist derjenige, dass die Kinder aus der Schule kommen und auf der Straße stehen. Dann ist das Problem zwar in der Schule gelöst, aber es wird auf die Straße verlagert. Dabei lässt man die Kinder allein. Es kann doch gar nicht in unserem Sinn sein, dass die Kinder oder Jugendlichen in die Kriminalität abrutschen und eventuell ins Gefängnis kommen. Deshalb plädiere ich dafür, die bestehenden Präventionseinrichtungen zu stärken, anstatt etwas Neues auszudenken, das letztlich auch keine Lösung darstellt.
Ein weiteres Manko unserer Schulen ist die fehlende Zeit für die Schüler und Schülerinnen, für die Lehrkräfte, für den Unterricht.
Im 45-Minuten-Rhythmus werden die einzelnen Schulfächer abgehakt. – Sie sagen, nicht einmal die Eltern haben Zeit. Das mag sein. Wollen wir denn die Kinder, deren Eltern keine Zeit haben, im Stich lassen? – Ich will sie nicht im Stich lassen. Wir müssen diesen Kindern eben die Zeit geben, die sie benötigen.
In einer Schule, in der die verschiedenen Schulfächer im 45-Minuten-Rhythmus abgehakt werden, bleibt keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit dafür, dass die Schülerinnen und Schüler einmal einen Fehler in Ruhe revidieren dürfen, keine Zeit für eigene Recherchen und Teamarbeit.
Die Ganztagsschule ist eine gute Alternative, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, auch einmal in Ruhe nachzudenken, sich zwischen den Unterrichtsstunden zu erholen, Abstand zu gewinnen und dann wieder an die Arbeit zu gehen. Von wegen keine Zeit! Schauen Sie doch einmal Ihr Verhalten im Plenum an. Die große Fluktuation während der Plenarsitzungen zeigt übrigens, dass kaum jemand von uns das durchhalten würde, was den Schülerinnen und Schülern Tag für Tag zugemutet wird: sich mindestens sechs Schulstunden lang zu konzentrieren und die unterschiedlichsten Themen mit gleich bleibender Motivation und Konzentrationsfähigkeit zu absolvieren. Da bleibt keine Zeit, nebenher zu lesen oder einmal hinauszugehen; da würde jeder Schüler und jede Schülerin sogleich ermahnt werden. Wir muten unseren Schülerinnen und Schülern also sehr viel zu.
Eine Möglichkeit, dieses Zeitproblem zu lösen, ist die Ganztagsschule. Dort können die Unterrichtsmethoden, die Sie und die wir alle zu Recht fordern, besser greifen. Die schnellste Art, zu unterrichten und kurzfristigen Erfolg zu erreichen, ist der Frontalunterricht. Für alles andere braucht man einfach mehr Zeit. Vielleicht sollten wir alle gemeinsam einmal in eine Klasse gehen, das Unterrichtsgeschehen anschauen und unterschiedliche Methoden ausprobieren.
Die Staatsregierung nähert sich der Ganztagsschule aber nur zögerlich. Acht neue Ganztagsschulen werden für das Schuljahr 2003/2004 angekündigt und gefeiert; das sind dann insgesamt 30 Ganztagsschulen bei – man höre und staune – circa 3000 Volksschulen bzw. allgemein bildenden Schulen. Wir möchten die Ganztagsform allerdings nicht auf die Hauptschulen beschränken; denn alle Kinder haben unabhängig von der Schulart, die sie besuchen, das Recht darauf, eine Möglichkeit zum Besuch einer Ganztagsschule zu haben, um durch mehr Zeit den Schulalltag besser bewältigen zu können. Die Ganztagsschule ist pädagogisch sinnvoll, nicht nur für Kinder mit spezifischen Bedürfnissen.
Frau Hohlmeier, Sie betonen auch im Zusammenhang mit der Ganztagsschule, dass sich die Angebote an den Wünschen und Bedürfnissen der Kinder, Familien und Schulen orientieren würden. Wenn das nur so wäre! Bei schulischen Angelegenheiten betont Frau Staatsministerin gern, dass sie sich nach den Wünschen der Eltern richten würde. Das trifft aber nur für die Eltern zu, deren Wünsche gleichzeitig die Wünsche der Staatsregierung sind, zum Beispiel für die Eltern, welche die sechsstufige Realschule, Noten in der zweiten Klasse und die Ganztagsbetreuung haben wollen. Andere Eltern werden nicht gehört, nämlich diejenigen, die eine sechsjährige Grundschule wollen, die keine Noten wünschen, die eine Ganztagsschule vorziehen oder die einfach nur wie bisher ihre Kinder in die Wirtschaftsschule schicken wollen.
Bei Ganztagsschulen ist die Ministerin sehr restriktiv, davon gibt es nur einige Hände voll. Egal, was die Kommunalpolitiker und die Eltern vor Ort wünschen: Ganztagsschule gibt es nur handverlesen. Wenn Sie die Bedürfnisse der Kinder, der Familien und der Schulen wirklich ernst nehmen würden, würden Sie ein demokratisches Verfahren installieren, damit sich jede einzelne Schule im Rahmen der Schulentwicklung für die Ganztagsform entscheiden kann, die dann auch vom Ministerium genehmigt und finanziert werden würde.
Kolleginnen und Kollegen, zu einer demokratischen Gesellschaft gehört eine demokratische Schule. Die demokratische Weiterentwicklung in unseren Schulen geht zur Zeit gar nicht voran. Das Schulforum wurde zwar paritätisch besetzt, aber es hat jetzt auch nicht mehr zu sagen als vor zehn Jahren. Dabei wäre es außerordentlich wichtig, nicht nur an die Eltern zu appellieren, ihrem Erziehungsauftrag gerecht zu werden, sich mehr Zeit zu nehmen und sich in die Schule einzubringen, sondern sie in einem demokratischen Verfahren an der Weiterentwicklung von Schule zu beteiligen.
Schülerinnen und Schüler sowie Eltern sind Stiefkinder in diesem Schulsystem. Dabei sind diese bei der Gestaltung von Schule unerlässlich. So muss das Schulforum in unseren Augen mehr Kompetenzen erhalten, und die Schüler- und Elternvertretungen müssen gestärkt werden.
Auf unsere Schulen kommen viele Reformen zu, wenn sie zukunftsfähig werden sollen. Diese notwendigen Reformen werden allerdings nur dann von den Lehrkräften durchgeführt werden können, wenn die Rahmenbedingungen verbessert werden. Für uns sind drei Rahmenbedingungen von elementarer Bedeutung: die Klassenstärken, die Unterrichtspflichtzeit und Unterstützungssysteme wie Schulsozialarbeit und Schulpsychologie. Wenn die Lehrkräfte dem Anspruch der individuellen Förderung jedes einzelnen Kindes entsprechen wollen, müssen die Klassen kleiner werden. Zustände, wie sie zum Beispiel an den Realschulen mit über 30 Schülern pro Klasse herrschen, sind untragbar. Unser Ziel muss sein: keine Klasse über 25.
Die großen Unterschiede in der Unterrichtspflichtzeit zwischen den Schularten müssen abgebaut werden. Die Lehrkräfte mit den höchsten Unterrichtspflichtzeiten, zum Beispiel die Volksschullehrkräfte, müssen vorrangig entlastet werden. Ein großes Manko sind die fehlenden Unterstützungssysteme wie Schulsozialarbeit und Schulpsychologie. An den Schulen gibt es nicht nur Stö
rer, über die wir vorhin schon gesprochen haben, sondern auch viele Kinder mit einem auffälligen Verhalten. Die Lehrkräfte können das nicht allein bewältigen.
Ich kritisiere hier auch zum wiederholten Mal, dass die Staatsregierung die Kommunen an den Kosten beteiligt. So können Kommunen, die es sich leisten können, Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen an ihren Schulen beschäftigen, arme Kommunen können das nicht.
Das ist nicht sachgerecht; denn es wird nicht danach entschieden, ob die Schülerinnen und Schüler eine Unterstützung brauchen, sondern es wird danach entschieden, ob sich eine Kommune die Schulsozialarbeit leisten kann. Hier macht es sich die Staatsregierung zu leicht. Sie schiebt die Kosten auf die Kommunen ab. Das Konnexitätsprinzip kann noch so sehr in der Verfassung verankert sein, die Staatsregierung erfindet den neuen Begriff „Jugendsozialarbeit an Schulen“, definiert diese Maßnahme einfach als Aufgabe der Kommunen und unterläuft somit das Konnexitätsprinzip, welches jetzt in die Verfassung hineingeschrieben werden soll.
Absehbar bzw. jetzt schon spürbar ist auch ein Lehrkräftemangel an unseren Schulen. Es muss uns doch sehr zu denken geben, dass offensichtlich kaum noch junge Leute Lehrer und Lehrerinnen werden wollen. Sicherlich hat das auch etwas mit dem Image der Lehrkräfte in der Gesellschaft zu tun, wobei das Image der Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer offensichtlich gut ist. Der Lehrkräftemangel hat aber sicherlich auch damit zu tun, dass die Einstellungschancen für Lehrkräfte jahrelang nicht gut waren und dass sich Studierende natürlich immer daran orientieren, wie gut ihre Chancen sind. Deshalb müssen wir endlich einmal ein System finden, welches den Lehrerbedarf zuverlässig prognostizieren kann, damit wir nicht immer wieder Zyklen mit einem extremen Lehrerüberschuss und dann wieder Zyklen mit einem extremen Lehrermangel haben.
Der Lehrermangel hat aber auch etwas mit den Verhältnissen an unseren Schulen zu tun. Die Tatsache, dass der Lehrkräftemangel vor allem in drastischer Weise an den Hauptschulen zu erwarten ist, zeigt, dass eine Reform der Hauptschule dringend notwendig ist. Die Frau Ministerin hat den Appell an uns gerichtet, wir sollten nicht schlecht über die Hauptschule reden. Von uns redet im Prinzip niemand schlecht von der Hauptschule. Uns liegt die Hauptschule sehr am Herzen.