Protocol of the Session on January 23, 2019

(Beifall bei den Grünen und der CDU)

So steht es in der Verfassung, und es steht dort nicht irgend wo, sondern am Anfang, in der Präambel, dort, wo es um die Kernverpflichtungen geht. Das gibt es in dieser Tiefe in kei ner anderen Landesverfassung. Deswegen sage ich: Ja, Euro pa ist für uns Staatsräson. Daran hängen unsere Freiheit, un ser Wohlstand, unser gutes Leben.

Das hat auch die Landespolitik immer wieder betont. Es wa ren meine Vorgänger, die Baden-Württemberg als Motor de finiert haben, der Europa voranbringt: Lothar Späth, Erwin Teufel, Günther Oettinger.

Heute braucht Europa starke Motoren mehr denn je. Denn Bremser gibt es mehr als genug: in Ungarn, in Polen, in Itali en und inzwischen auch bei uns – autoritäre Kräfte, die sich ins nationale Schneckenhaus zurücksehnen. Diesen Kräften sagen wir mit Klarheit: Wer das vereinte Europa infrage stellt, der stellt sich gegen unsere Verfassung und spielt mit der Zu kunft unserer Kinder und Enkel. Das werden wir nicht zulas sen.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der SPD und der FDP/DVP)

(Ministerpräsident Winfried Kretschmann)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in meiner Regierungserklä rung vom Juni 2016 habe ich den Brexit als „Weckruf für al le europäischen Demokraten“ bezeichnet. So, wie damals an gekündigt, haben wir einen breiten Beteiligungsprozess im Land angestoßen, eine Leitbilddebatte zu Europa, über die ich Sie heute informieren möchte.

Zusammen mit meinem Europaminister Guido Wolf habe ich das Gespräch mit hochrangigen Vertretern gesucht: mit Kom missionspräsident Jean-Claude Juncker, mit Österreichs Bun despräsident Alexander van der Bellen, mit dem Verfassungs gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle und natürlich mit Gün ther Oettinger, unserem EU-Kommissar aus Baden-Württem berg.

Wir haben eine Expertenkommission eingesetzt mit Vertrete rinnen und Vertretern des Landtags und des Europäischen Par laments, von Wirtschaft und Gewerkschaften, mit Bischöfen des Landes, mit Kultur- und Medienschaffenden und natür lich mit hochkarätigen Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen. Das Gremium leitete Europaminister Guido Wolf mit Staatssekretär Volker Ratzmann als Stellvertreter.

Aber für uns war auch klar: Wir setzen auf Bürgerbeteiligung, und zwar von Anfang an. Denn Europa darf kein Elitenpro jekt sein; sonst wird Europa scheitern. Deshalb haben wir das direkte Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern gesucht.

(Beifall bei den Grünen – Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Meine Staatsrätin, Gisela Erler, hat im ganzen Land Bürger dialoge durchgeführt – in Bad Mergentheim, Rastatt, Ravens burg, Tuttlingen, Freiburg und Stuttgart. Dabei haben wir auf sogenannte Zufallsbürger gesetzt, also auf Menschen, die wir nach dem Zufallsprinzip aus den Melderegistern ausgewählt und persönlich zu den Dialogen vor Ort eingeladen haben. Das mag manchen ungewöhnlich anmuten. Aber dieses Ver fahren hat einen großen Vorteil: Wir beziehen so nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ ein – um es einmal salopp zu formu lieren –, die bekannten und vielfach engagierten Menschen – die wir selbstverständlich auch immer benötigen. Es äußern sich auch die stillen Bürger, die sonst ihre Stimme nicht so oft erheben. Auch sie sollten die Chance haben, ihre Ideen für Eu ropa einzubringen. Wir wollen auch Brücken zu all jenen bau en, die sich sonst oft übersehen fühlen.

So fanden sehr vielfältige Sichtweisen Eingang in unseren Leitbildprozess. Die Ergebnisse des Verfahrens zeigen, wie wichtig und richtig unsere Politik des Gehörtwerdens ist. Ich freue mich deshalb auch ganz besonders, dass heute einige der Bürgerinnen und Bürger, die sich bei den Europadialogen ein gebracht haben, hier im Landtag zu Gast sind. Herzlich will kommen! Danke für Ihr Engagement!

(Beifall bei allen Fraktionen)

Die Protokolle der Bürgerdialoge füllen Aktenordner. Lassen Sie mich ein paar Eindrücke wiedergeben.

Das Wichtigste gleich zuerst: Die Bürgerinnen und Bürger sind nicht europamüde. In den engagierten und konstruktiven Diskussionen zeigte sich eine beeindruckend positive Grund stimmung gegenüber der EU, wenngleich durchaus auch Kri tik geäußert wurde.

Ganz wichtig: Die Leute haben weniger über die alltäglichen Dinge geredet, sondern vor allem das große Ganze ins Auge gefasst. Viele Bürger wollen ein geschlosseneres und ent schlosseneres Auftreten der EU. Da gab es auch ganz konkre te Fragen und Forderungen: Warum haben wir noch keine ge meinsame Sicherheitspolitik? Wir brauchen eine europäische Armee! Wir möchten einen gemeinsamen europäischen Au ßenminister!

(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktions los])

Die Menschen wollen ein Europa, das enger zusammenführt und uns eine gemeinsame Stimme gibt. Zugleich soll es eine Balance geben zwischen den Besonderheiten der Regionen und den einheitlichen und verbindlichen Lösungen für alle.

(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktions los])

Auch das war ein wichtiger Punkt: Die EU soll nicht überall im Alltag präsent sein. Die Menschen wollen mehr Europa bei den großen, alle verbindenden Fragen. Überraschend ist, dass sie Europa dabei oft mehr zutrauen als der nationalen Ebene. Ihnen ist klar, dass unser Weg in die Globalisierung Europa heißt. Sie wissen sehr wohl, dass wir die EU brauchen, um in der Weltwirtschaft gegenüber China und den USA zu beste hen. So gut wie niemand plädierte bei den großen Fragen für nationalstaatliche Lösungen; auch das war aufschlussreich.

Sie sehen also: Politik kann viel lernen, wenn sie sich an der praktischen Klugheit der Bürgerinnen und Bürger orientiert.

Diese Eindrücke aus den Bürgerdialogen sind keine zufälli gen Schlaglichter. Das zeigt eine europaweite Umfrage vom Dezember: Die Zustimmung der Bürger zur EU ist so hoch wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr, und in Deutsch land sind die Werte besonders gut. Acht von zehn Deutschen halten die Mitgliedschaft unseres Landes für eine gute Sache.

(Zuruf: Richtig!)

Ich sehe darin auch ein Ergebnis der vielen Debatten um Eu ropa in den letzten Jahren. Sie haben das Bewusstsein für Eu ropa gestärkt und nicht geschwächt. Das ist ein gutes Signal.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sieht nun unser Euro paleitbild aus? Welche Schlussfolgerungen haben wir aus dem Dialog mit den Bürgern und Experten gezogen?

Die erste Schlussfolgerung lautet: Wir brauchen ein Europa der Werte. Für manche ist die Europäische Union bloß eine Interessen- oder Wirtschaftsgemeinschaft. Für uns ist sie mehr, nämlich eine Wertegemeinschaft. Wir stehen für ein Europa der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit. Deshalb darf die EU keinen Abbau von Demokratie und Rechtsstaat lichkeit bei ihren Mitgliedsstaaten tolerieren.

(Beifall bei den Grünen, Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP sowie des Abg. Daniel Rott mann AfD)

Aber die europäische Demokratie muss auch liefern. Deshalb lautet eine zweite Schlussfolgerung: Wir brauchen mehr eu

(Ministerpräsident Winfried Kretschmann)

ropäische Handlungsfähigkeit. Deshalb muss geprüft werden, wo wir vom Prinzip der Einstimmigkeit zu Mehrheitsentschei dungen übergehen können.

Und ja, wir sagen auch, dass einzelne EU-Mitgliedsstaaten, die schneller vorangehen wollen, das auch tun sollen. Das ist schon heute beim Euro der Fall. Das kann auch auf anderen Feldern Sinn ergeben, z. B. bei der Sicherheitspolitik.

Wir wollen auch bei den demokratischen Institutionen weiter gehen. Wir brauchen mehr Souveränität für das Europäische Parlament, mit der Europäischen Kommission als verantwort licher Exekutive und einem Ministerrat, der sich in Richtung einer zweiten Kammer entwickelt.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Aber dann Gleichheit bei der Wahl!)

Und warum die europäische Demokratie nicht auch mit einer Vereinheitlichung des Wahlrechts in Europa stärken? Warum nicht auch grenzüberschreitende Wahlkreise?

Das alles würde auch zur stärkeren Herausbildung einer eu ropäischen Öffentlichkeit beitragen, die wir dringend brau chen.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Meine Damen und Herren, für mich ist ganz klar: Wir brau chen mehr Europa, um die großen Aufgaben erfolgreich an zupacken. Selbst die großen EU-Mitgliedsstaaten sind auf den Rang von regionalen Mächten geschrumpft. Der Anteil der einzelnen EU-Länder an der Weltbevölkerung wird bald nur noch in Promille zu messen sein, nicht mehr in Prozent.

Wir können deshalb in der komplexen Welt von heute nur noch auf einem Weg weiterkommen, und dieser Weg heißt Eu ropa. Das gilt für den Kampf gegen die Klimakrise, für die Steuerung der Migration, für die Gestaltung von Globalisie rung und Digitalisierung und natürlich für die Außen- und Si cherheitspolitik.

Europa ist der Schutzschild unserer Völker gegen die neu en Stürme in der Welt.

So hat es der französische Staatspräsident Macron gestern bei der Unterzeichnung des Aachener Vertrags gut auf den Punkt gebracht. Und die deutsch-französische Zusammenarbeit und ihre Vertiefung sind die richtige Antwort auf den Brexit.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Deshalb brauchen wir bei den großen Herausforderungen der Zeit ein gemeinsames europäisches Handeln. Klar ist aber auch: Wir brauchen keinen europäischen Zentralismus. Eine dritte Schlussfolgerung lautet daher: Europa muss mehr Sub sidiarität leben.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD und des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos] – Zuruf von der AfD: Bravo!)

Wir brauchen ein Europa, das die Dinge von unten nach oben denkt.

Subsidiarität, das heißt etwa: Über die Gestaltung der Wasser versorgung vor Ort können die Kommunen selbst viel besser entscheiden als Brüssel.

(Zuruf: So ist es!)

Und die Kreissparkassen oder die örtlichen Volksbanken brau chen nicht die gleiche europaweite Risikovorsorge wie die Großbanken.

(Beifall bei den Grünen und der CDU, Abgeordneten der AfD und der FDP/DVP sowie des Abg. Peter Ho felich SPD)

Wir dürfen nicht alles harmonisieren, sondern brauchen Platz für Verschiedenheit, für ein Europa der Regionen, das den Menschen Heimat gibt. Denn Europa, das sind nicht nur Brüs sel, Straßburg und die nationalen Hauptstädte, es sind auch die vielen europäischen Regionen mit eigenen Traditionen, ei genem Dialekt und eigener Küche.