Protocol of the Session on September 30, 2020

Da kann man sich auch gern einmal selbst beklatschen.

Zu verdanken haben wir dies einer gemeinsamen Gesetzesin itiative der Fraktionen der SPD, der FDP/DVP, der Grünen und der CDU aus der Mitte des Parlaments heraus – aus mei ner Sicht eine starke Leistung.

(Abg. Anton Baron AfD: Der Kartellfraktionen!)

Die Wochenzeitung DIE ZEIT titelte gestern unter Verweis auf die Rolle der Parlamente in der Pandemie: „Das Parlament ist chronisch krank“. Damit kann nicht der Landtag von Ba den-Württemberg gemeint sein.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grü nen, der CDU und der FDP/DVP)

Wir nehmen unsere parlamentarische Verantwortung bei der Pandemiebekämpfung ernst. Wir, die SPD, haben bereits im frühen Stadium der Pandemie darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Verfassungsordnung eben nicht vorsieht, dass ei ne Landesregierung dauerhaft per Verordnung ohne parlamen tarische Kontrolle regiert, und wir haben uns auch im Nach gang dafür starkgemacht, dass das Parlament stärker beteiligt wird. Deswegen wird hier heute auch über diese Verordnung debattiert und letztlich abgestimmt.

Dass das baden-württembergische Pandemie-Begleitgesetz in der bundesdeutschen Medienlandschaft nur wenig Aufmerk samkeit fand, muss dahin gehend verwundern, zumal dieses Gesetz dem Kern unseres demokratischen Rechtsstaats Aus druck verleiht: der parlamentarischen Legitimation politischer Entscheidungen in Form eines Parlamentsvorbehalts.

Eine Hauptforderung der SPD war und ist es nach wie vor, dass die von der Landesregierung verordneten Maßnahmen nachvollziehbar begründet werden. Denn wie hat es die Bun

deskanzlerin vor einigen Tagen auf einem virtuellen Gipfel am Rande der UN-Vollversammlung in New York zutreffend formuliert?:

Unser politisches Handeln basiert auf Forschung und auf Fakten,... Deshalb gilt es bei allen Maßnahmen der Kri senbewältigung jeweils genau abzuwägen, ob sie zum Ziel führen, ob sie verhältnismäßig sind... Eine solche Abwä gung ist unverzichtbar. Denn die Freiheit ist ein zentra ler Wert unserer Demokratie. Zeitweilige pandemiebe dingte Einschränkungen unseres Lebens müssen sehr gut begründet werden.

Hier gibt es nach Überzeugung der SPD auch hier in BadenWürttemberg noch Luft nach oben. Anders als bei Gesetzent würfen hat die Rechtsverordnung den Nachteil, dass keine – schon gar keine schriftliche – Begründung erforderlich ist. Das macht die Nachvollziehbarkeit für die Bevölkerung, aber dann auch später im Rahmen der Inzidentprüfung vor Gericht schwierig. Ich kann hier nur nochmals an die Landesregierung appellieren – abgesehen von der heutigen Beratung –, die Pflicht zur Begründung von einschränkenden Maßnahmen nicht als lästiges Übel zu begreifen, sondern als rechtsstaatli che Verpflichtung.

Heute stimmen wir über die Corona-Verordnung ab. Im Ver gleich zur Fassung der bisher geltenden Verordnung fallen zu nächst Änderungen ins Auge, die sich auf ein Verhalten be ziehen, das in der Regel ohnehin schon, wenn man sich drau ßen vernünftig bewegt, praktiziert wird. Das betrifft z. B. die Maskenpflicht beim Fahrunterricht, in Freizeitparks oder auch in bestimmten Situationen in Gaststätten. Das wird rein de klaratorisch nachgelegt bzw. in der Verordnung verankert.

Darüber hinaus werden auch Dinge geregelt, die man aufsei ten der Regierung bisher offenbar nicht bedacht hatte. Denn erst ab heute gilt – ich konnte es kaum glauben, als ich es ge lesen habe –, dass eine Ausnahme von der Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in der Regel durch ei ne ärztliche Bescheinigung glaubhaft zu machen ist. Vorher hat anscheinend nur die Behauptung genügt, dass man befreit ist. Das muss jetzt im Nachgang natürlich schon verwundern.

Schaut man sich die ab heute geltende Rechtsverordnung der Landesregierung an, fällt auf, dass die vorgenommenen Än derungen offenbar weitgehend auf Unachtsamkeiten bei vor herigen Verordnungen beruhen und dabei weniger auf die Ent wicklung des Infektionsgeschehens reagiert wird. Das Reagie ren auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens scheint aber in der aktuellen Situation dringend geboten. Das RKI hat in seiner jüngsten Stellungnahme – diese Stellungnahmen flie ßen ja immer auch in die Stellungnahmen der Landesregie rung ein – eindrücklich gewarnt – wörtlich –:

Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine dy namische und ernst zu nehmende Situation.... Seit Ende Juli werden wieder deutlich mehr Fälle übermittelt,... Es kommt weiterhin bundesweit zu größeren... Ausbruchs geschehen, insbesondere im Zusammenhang mit Feiern im Familien- und Freundeskreis und bei Gruppenveran staltungen.

Nachdem es zum Ende der Sommerferien die Reiserückkeh rer waren, die teilweise Probleme bereitet haben, stehen jetzt

deutschlandweit die privaten Feierlichkeiten im Fokus. Da muss man einfach nur mal in die Presselandschaft schauen, um zu sehen, dass jeden Tag irgendwo anders in Deutschland ein Hotspot entsteht. Beispielsweise hieß es in der „Stuttgar ter Zeitung“ vom 28. September:

Coronavirus im Kreis Biberach

Sprunghafter Anstieg der Corona-Neuinfektionen

... Der Anstieg ist... auf... private Partys zurückzuführen.

Weiterer Titel:

Geburtstagsparty im Kreis Reutlingen

Hunderte Menschen nach Corona-Ausbruch in Quaran täne

Die „Südwest Presse“ titelte:

Corona im Ermstal

Inzidenzwert in Dettingen jetzt bei 265,2

Das heißt also, in Dettingen ist die Corona-Ampel jetzt dun kelrot.

In Bielefeld führte eine Privatparty dazu, dass 950 Schüler in Quarantäne geschickt wurden.

Last, but not least: Der zentrale Hotspot ist momentan in Hamm: 200 Menschen mit dem Coronavirus infiziert, 3 000 Menschen in Quarantäne, und das alles, weil jemand meinte, er müsse eine dreitägige Hochzeit mit mehreren Hundert Gäs ten feiern.

So hat es auch nicht verwundert, dass sich gestern die Bun deskanzlerin und die Ministerpräsidenten auf neue Obergren zen – unter bestimmten Voraussetzungen – für private Veran staltungen verständigt haben. Wir, die SPD-Fraktion, finden das nachvollziehbar, auch unter dem Grundsatz der Subsidi arität, aber eben auch, dass man auf das reagiert, was sich in den letzten Wochen ereignet hat.

Frau Staatssekretärin Mielich, Sie haben gerade erklärt, dass es wahrscheinlich alsbald noch eine Änderungsverordnung gibt, in der die Beschlüsse, die jetzt in Berlin gefasst worden sind, entsprechend in baden-württembergisches Landesrecht umgesetzt werden. Das ist auch wichtig. Denn wir müssen einfach sehen: Momentan ist es in Baden-Württemberg so, dass Privatveranstaltungen mit unter 100 Personen ohne Hy gienekonzept und mit bis zu 499 Personen mit Hygienekon zept stattfinden können. Ein Hotspot wie in Hamm ist inso weit nach geltender Rechtslage in Baden-Württemberg poten ziell möglich und sogar erlaubterweise zulässig.

Bayern und Nordrhein-Westfalen sind einen anderen Weg ge gangen, auch bisher schon. In Bayern können Hochzeits- und Geburtstagsfeiern nur bis zu einer Teilnehmerzahl von maxi mal 100 Personen – und eben nicht fast 500 Personen wie in Baden-Württemberg – in geschlossenen Räumen stattfinden. In Nordrhein-Westfalen wurde auch eine entsprechende An zeigepflicht bei privaten Feiern in öffentlichen Räumen mit mehr als 50 Personen konzipiert. Dies gibt dem Ordnungsamt

auch die Möglichkeit, bestimmte Gefahrenszenarien schon im Vorfeld zu betrachten und dann auch effektiver zu kontrollie ren und entsprechende Überschreitungen und damit Verstöße gegen die Verordnung zu sanktionieren.

Auch wir – das haben schon mehrere gesagt – appellieren grundsätzlich an das Prinzip der Eigenverantwortung, an das Subsidiaritätsprinzip. Aber es gibt nun mal auch Bereiche – das zeigen die vergangenen Wochen –, in denen durchaus strenge Regelungen notwendig sein werden.

Wir sind es den Menschen im Land, den Unternehmen, den Beschäftigten, den Schülerinnen und Schülern sowie den Fa milien im Land – gerade die Familien haben in den vergange nen Monaten mit am meisten gelitten – schuldig, alles in un serer Macht Stehende zu tun, um eine exponentielle Steige rung der Infiziertenzahlen mit all den damit verbundenen Fol gen zu verhindern.

Während hier absolute Wachsamkeit gegeben ist, erscheinen viele andere Regelungen wiederum eher beliebig. Es ist für die Bürgerinnen und Bürger sowie für Veranstalter nicht nach vollziehbar, dass bei einem Fußballspiel Tausende von Men schen in ein Stadion gehen dürfen und sich ein Bundesliga spiel anschauen dürfen. Wir haben das einmal auf das Stadion des VfB Stuttgart heruntergerechnet: Dort dürfen ca. 12 000 Zuschauer sein. Aber ein Konzert am gleichen Ort, mit der gleichen Anzahl von Zuschauern ist nicht möglich, weil nicht zulässig. Das ist für die Menschen im Land nicht nachvoll ziehbar.

Gerade die Kultur- und die Veranstaltungsbranche brauchen dringend eine verlässliche, wenngleich geordnete Öffnungs perspektive. Es bedarf aus unserer Sicht gerade bei diesen Ver anstaltungen einer kritischen Überprüfung pauschaler Ober grenzen für Besucherinnen und Besucher bei öffentlichen Kunst-, Kultur- und Sportveranstaltungen, zumal hier auch im bisher erlaubten Rahmen kein Hotspot in Baden-Württemberg erkennbar war.

Problematisch sind, wie gesagt, die privaten Feiern, die schwer zu kontrollieren sind. Aber genauso wie die Regionalität ein zentrales Kriterium bei der Pandemiebekämpfung ist, sollte man auch bei Veranstaltungen nicht alles über einen Kamm scheren und genauer hinschauen.

Auf Abstands- und Hygienekonzepte kommt es an. Nur wenn beispielsweise die Kommunen mehr Spielraum haben, die Si tuation vor Ort und die Größe der Veranstaltung zu beurtei len, können wir den Betroffenen aus der Veranstaltungsbran che eine klare, verlässliche Perspektive bieten.

Insgesamt werten wir die heutige Debatte als einen konstruk tiven Beitrag zu dem gemeinsamen Ziel – zumindest des über wiegenden Teils des Hauses –, die richtigen Entscheidungen im Hinblick auf die Pandemiebekämpfung zu treffen und da bei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Blick zu behal ten.

Wir, die SPD-Fraktion, werden der Verordnung zustimmen. Wir erwarten aber auch, dass sich die Landesregierung nach der heutigen Debatte mit der konstruktiven Kritik und unse ren Anregungen schnellstmöglich auseinandersetzt, diese auf

greifen wird und dass diese in der kommenden Änderungs verordnung auch Berücksichtigung finden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU – Abg. Karl Zimmermann CDU: Das ist ja unfair, dass der die gleiche Redezeit hat wie die anderen! – Gegenruf von der AfD: Demokratie, Herr Kollege! – Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE zu Abg. Karl Zimmermann CDU: Du bist schon so lange da bei und hast es immer noch nicht kapiert! – Gegen ruf des Abg. Karl Zimmermann CDU: Das war Iro nie! – Weitere Zurufe)

Jetzt hat Herr Kollege Weinmann das Wort.

(Abg. Nico Weinmann FDP/DVP: Die Kollegin Dr. Baum! Ich bin überrascht!)

Entschuldigung, ja. Frau Abg. Dr. Baum, dann sind Sie an der Reihe.

(Abg. Carola Wolle AfD: Aber bereit gewesen! – Weitere Zurufe – Unruhe)

Entschuldigung, Frau Abg. Dr. Baum. – Das ist nicht richtig, Herr Abg. Weinmann. Sie sind jetzt an der Reihe. Denn Sie sind Antragsteller.

(Abg. Anton Baron AfD zu Abg. Dr. Christina Baum AfD: Ja, Christina, das passt! – Weitere Zurufe, u. a.: Sie können ja „Schnick, Schnack, Schnuck“ machen!)

Nein, er hat mich durcheinandergebracht. Sie sollten mir nicht widersprechen, Herr Abg. Weinmann.