Protocol of the Session on July 30, 2009

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

Nun hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil gesprochen, das einen Stein im Wasser darstellt, der – davon bin ich auch überzeugt – noch viele Diskussionen nach sich ziehen wird, der Wellen geschlagen hat und auch noch weitere schlagen wird. Das ist klar. Das ist ja auch in den Stellungnahmen zu diesem Urteil zum Ausdruck gekommen. Viele sind euphorisch und loben; andere tadeln, und manche halten es – Zitat – für das „grundsätzlichste Grundsatzurteil“ überhaupt. Andere halten den Tag der Verkündung für – ich zitiere – einen „schwarzen Tag“ in der Geschichte Europas, und manch einer spricht sogar von einem autistischen und selbstgerechten Verfassungsgericht.

Warum sage ich das? Die einen loben die Stärkung der Demokratie, die anderen befürchten Abstriche bei der Handlungsfähigkeit Deutschlands. Ich glaube, es wird um einen Mittelweg gehen. Ich halte das Urteil für gut, weil es in der Tat die demokratische Beteiligung fordert, aber auch stärkt und festschreibt.

(Beifall des Abg. Thomas Blenke CDU)

Meine Damen und Herren, das Verfassungsgericht betont zunächst die visionäre Offenheit unserer Verfassung für Europa. Alle Vorredner haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das Gericht gesagt hat: Jawohl, der Lissabon-Vertrag ist in Ordnung; der Weg Deutschlands in Europa ist gut; die Integration wird bejaht. Kritisiert wurde das einfache Gesetz, das Begleitgesetz über die Mitwirkung der Parlamente. Das heißt im Grunde genommen: Man kann vieles machen; das Verfassungsgericht sagt aber: Ihr Parlamente, erste und zweite Kam

mer in Berlin, ihr müsst mitwirken; ihr müsst euch beteiligen; ihr müsst das legitimieren.

(Beifall des Abg. Michael Theurer FDP/DVP)

Das ist für mich in der Tat eine Stärkung der Parlamente, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP sowie des Abg. Reinhold Gall SPD)

Nun ist doch die Frage, was wir daraus machen. In der jetzigen Ausgestaltung sieht das Gericht ein Demokratiedefizit. Es verlangt eine stärkere Beteiligung. Das Gericht benennt auch eine große Zahl konkreter Fälle der dynamischen Vertragsentwicklung im Lissabon-Vertrag, in denen aus Sicht des Gerichts die Parlamente nicht ausreichend beteiligt werden.

Ich darf Folgendes einschieben: Ich kann nur jeden einladen, an einer Bundesratssitzung teilzunehmen. Wir nehmen in allen Parlamenten – in den Landtagen, im Bundestag, im Bundesrat – die Beteiligung manchmal auch nicht ernst genug und nicht genügend pflichtgemäß wahr. Es geht auch um eine Fülle von Themen. Wenn wir in einer Bundesratssitzung 100 Tagesordnungspunkte haben und es bei einem Drittel von ihnen um europäische Fragen geht – um Verordnungen, Richtlinien, Bekanntmachungen, Mitteilungen und vieles mehr –, stehen diese Punkte nach der Geschäftsordnung des Bundesrats immer im hinteren Teil und nicht im vorderen Teil der Tagesordnung.

Ich glaube schon, dass das Urteil auch ein Appell ist, die Pflichten wahrzunehmen. Alle meine Vorredner haben zu Recht darauf hingewiesen: Der Landtag will stärker beteiligt werden. Das sage ich zu; darauf gehe ich noch ein. Aber das ist nicht nur ein Recht. Jedes Recht bedingt auch eine Pflicht. Ich kann nur sagen: Das heißt auch Arbeit und sich damit befassen. Da haben wir möglicherweise – übrigens auch im Bundestag – noch einiges an Defiziten festzustellen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU, der FDP/DVP und der Grünen)

Da müssen wir auch sagen, was wir dort an Umfang der Befassung sehen.

Meine Damen und Herren, wenn also Brüssel Zuständigkeiten reklamiert, die es nach dem Wortlaut des neuen EU-Vertrags zunächst nicht hat, heißt das: Die nationalen Parlamente müssen in die Spur. Die Stärkung der nationalen Parlamente ist aber immer auch eine Stärkung der Bürger,

(Beifall des Abg. Dieter Kleinmann FDP/DVP)

und wir waren uns immer einig: Wir wollen ein Europa der Bürger und nicht ein Europa der Bürokraten.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Das heißt, dieses Urteil ist dann auch in unserem Sinn.

Bei der Umsetzung werden wir dieses Spannungsfeld – das habe ich gesagt – zwischen der Stärkung der Demokratie einerseits und der Handlungsfähigkeit und Europafreundlichkeit andererseits lösen müssen. Darum geht es im neuen Begleitgesetz.

Ich bin Verhandlungsführer für die Bundesländer und derzeit auch Vorsitzender der Europaministerkonferenz und habe deshalb im August an den Sitzungen der Arbeitsgruppen mit dem Bundestag am 3., am 10. und am 17. August sowie auch an den Sondersitzungen des Bundestags am 26. August und am 8. September – am 18. September wird der Bundesrat dann entscheiden – teilzunehmen. Kurzum: Wir wollen – das ist meine Position; ich persönlich sage das, und mir ist es wichtig –, dass wir starke Parlamente haben, ohne die Bundesregierung zu knebeln. Insoweit gibt es überhaupt keine Frage.

Herr Kollege Walter, auch die CSU hat zu unserem Eckpunktepapier – zwar mit einigen Abweichungen und Protokollerklärungen – in dieser Woche ihre Zustimmung signalisiert, und insoweit bin ich zuversichtlich, dass wir bei den Ländern eine einvernehmliche Position bekommen. Es wird jetzt spannend sein, wie die Beratungen im Bundestag und innerhalb der Bundesregierung in den nächsten Wochen vonstatten gehen.

Ich habe bereits am 1. Juli in der Europaministerkonferenz eingeladen, und wir haben jetzt im Grunde genommen seit dieser Woche eine klare Position der 16 Bundesländer. Jetzt wird es darum gehen, wie wir auch mit Bundestag und Bundesregierung klarkommen.

Natürlich ist die Bandbreite der Ländermeinungen auch noch differenziert. Sie geht von der Minimalumsetzung, also dem Allernötigsten, bis zur Forderung nach einer Kompetenzkontrollklage oder einer Mitwirkung bei der Frage einer Aufnahme von Beitrittsverhandlungen oder bei der Frage der Eröffnung neuer Verhandlungskapitel. Das geht natürlich auch auseinander. Ich will dabei mit Realitätssinn vorgehen, und ich denke, wir finden einen Mittelweg zwischen den beschriebenen Polen, die uns das Urteil jetzt vorgibt.

Entscheidend ist – das will ich voranstellen –: Wir brauchen eine gerichtsfeste Umsetzung dieses Lissabon-Urteils des Verfassungsgerichts. Denn wir würden uns ja einen Bärendienst erweisen, wenn wir nicht das umsetzten, was das Urteil fordert. Denn dann hätten wir morgen die nächste Klage, und das Begleitgesetz würde wieder gekippt. Das kann schon gar nicht unser Interesse sein.

(Abg. Dieter Kleinmann FDP/DVP: Sehr richtig!)

Wir wissen auch, was den Zeitdruck angeht: Ich habe gerade das schmale Fenster bis zur Bundestagswahl genannt, in dem wir es jetzt über den Sommer hinweg schaffen müssen, ein neues Gesetz zu erlassen.

Was muss inhaltlich geändert werden? Ich will kurz etwas zur Brückenklausel sagen. Es gibt einen Kern von Forderungen, der uns besonders wichtig ist. Das Gericht nennt eine Reihe sogenannter Brückenklauseln. Was ist das? Dort will das Gericht eine vorherige Zustimmung von Bundestag und Bundesrat. Das heißt, Punkte, bei denen bisher Einstimmigkeit gilt und später die Mehrheit entscheidet, müssen vom Parlament vorher abgesegnet werden. Das halte ich auch für richtig und wichtig. Denn im Normalfall müsste man beim Übergang von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung den EU-Vertrag ändern, wie das ja auch beim Grundgesetz der Fall ist.

Diese Fälle haben es in sich. Es geht dort um Fragen wie die grenzüberschreitende Thematik beim Familienrecht oder beim

Arbeitsrecht – vom Individualarbeitsrecht bis zum Kollektivarbeitsrecht – oder auch um Fragen von Umwelt, Raumordnung, Wasser, Haushalt, Energiewirtschaft und – was das Bundesverfassungsgericht besonders betont, weil es da auch um die Freiheitsrechte des Bürgers geht – um den ganzen Bereich des Strafrechts und des Strafprozessrechts; denn das beinhaltet einschneidende Maßnahmen, die den Einzelnen besonders stark berühren.

Ferner ist die Flexibilitätsklausel angesprochen. Wir haben auch andere Fälle als den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, z. B. diese sogenannte Flexibilitätsklausel. Auf Deutsch heißt das: Die Kommission zieht auf dieser Grundlage Kompetenzen an sich, die sie bis dahin gar nicht hatte. Aktuellstes Beispiel war die Errichtung der Grundrechteagentur. Dass wir hier einen Riegel vorschieben, das haben wir – Erwin Teufel, der hier genannt wurde, und in der Folgezeit auch die Landesregierung unter Günther Oettinger – immer verlangt, übrigens schon im Verfassungskonvent, in dem wir gesagt haben: Es ist nicht in Ordnung, wenn wir im Vertrag von Lissabon bei der Kompetenzabgrenzung zwischen EU und Mitgliedsstaaten nur darüber reden, besser abzugrenzen, und auf der anderen Seite mit einer solchen Klausel ein Einfallstor zulassen. Ein schönes Bild dafür, das ich zitieren möchte, ist: Selbst wenn alle Fenster gut abgedichtet werden, bringt das wenig, wenn wir die Haustür offen stehen lassen.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Deshalb ist es wichtig, dass die EU diese Klausel künftig nur noch in Anspruch nehmen darf, wenn die nationalen Parlamente vorher zugestimmt haben. Das halte ich für sinnvoll; denn wir beklagen ja immer, dass Kompetenzen – der Kollege hat es gesagt – schleichend verschwinden oder übertragen werden. Hier muss also auch eine Wächterfunktion wahrgenommen werden.

Das schmeckt natürlich nicht jedem Bundesorgan, eventuell schon gar nicht der Regierung. Das darf nicht verwundern. Sie verweist da auf die Eilbedürftigkeit vieler Maßnahmen, die mithilfe dieses Artikels erfolgen müssen, etwa Stabilitätsleistungen für Länder, die im Zuge der Finanzkrise ins Trudeln geraten. Da sage ich nur: Auch dort wird man einen Weg der Handlungsfähigkeit finden können und finden müssen. Wenn beispielsweise eine Bank schnell einen Kredit bewilligen möchte, dann gibt es das Instrument des Umlaufbeschlusses für Aufsichtsräte.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Das gibt es in anderen Gremien auch!)

Ich höre, auch in anderen Gremien, z. B. im Bereich der Wohnungswirtschaft, gibt es Umlaufbeschlüsse.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Effizi- enz!)

Vielen Dank für den Hinweis, Herr Kollege Bullinger.

(Abg. Norbert Zeller SPD: Das war aber entschei- dend!)

Ich sage deshalb: Wir sind auch dann handlungsfähig, wenn wir beispielsweise die Europakammer oder den EU-Ausschuss für Eilfälle tagen lassen, die nach dem Lissabon-Vertrag dann neuerdings auch per Umlaufbeschluss agieren können.

Ich möchte zum Schluss doch noch einige Sätze zur Einbindung des Landtags sagen, weil das hier ein wichtiges Thema ist und auch angesprochen worden ist.

Ich behaupte, der Landtag von Baden-Württemberg gehört zu den europafähigsten Landtagen in ganz Deutschland.

(Zuruf von der SPD: Weltweit!)

Weltweit.

(Heiterkeit)

Danke für den Hinweis. Ich bitte um Nachsicht, dass ich diese Feststellung unterlassen habe.

(Abg. Thomas Blenke, Abg. Dr. Dietrich Birk und Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Intergalaktisch!)

In die Präambel der Verfassung ist sehr früh eine klare europapolitische Zielsetzung aufgenommen worden. Mit der zunehmenden Bedeutung Europas für das Land und seine Bürger hat auch dieses Landesparlament stärkere Mitwirkungsrechte gefordert und – das füge ich hinzu – auch erhalten. Der letzte Meilenstein ist übrigens die Einrichtung des Europaausschusses, dessen Vertreter heute auch hier gesprochen haben.

(Abg. Rainer Stickelberger SPD: Gegen den Sie sich lange gewehrt haben!)

Herr Kollege Stickelberger, Sie wissen, wir haben uns im Ständigen Ausschuss gemeinsam – auch in der Zeit, als ich noch Vorsitzender des Ständigen Ausschusses war – als Ständigen Ausschuss, Verfassungsausschuss, Medienausschuss und Europaausschuss verstanden. Ich war davon überzeugt, dass trotz dieses Umfangs die Kapazität, die Kraft und die Überzeugung für Europa im Ständigen Ausschuss gut aufgehoben waren. Wir wollen schon attestieren, dass auch in der Vergangenheit europafreundliche Mitglieder des Rechtsausschusses unterwegs waren, Herr Kollege Stickelberger.

(Abg. Reinhold Gall SPD: So weit können wir es mit- tragen! – Abg. Wolfgang Stehmer SPD: Jetzt zur Sa- che! – Heiterkeit – Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Zur Sache!)