Sechstens: Wir sind der Auffassung, dass die Europäische Union durch die Beitritte von Ländern wie der Türkei oder der Ukraine nicht überfordert werden darf.
Siebtens: Wir lehnen die Vorschläge der Europäischen Union zur Asylpolitik ab, weil sie den Asylkompromiss, der hier glücklicherweise innenpolitisch bundesweit in den Neunzigerjahren gefunden worden ist, wieder unterminieren würden. Wir sind der Landesregierung dankbar, dass sie im Bundesrat zusammen mit anderen unionsregierten Ländern erfolgreich war, während die SPD in dieser Frage eine diffuse Haltung eingenommen hat.
Achtens: Wir sind der Auffassung, dass es Bereiche der Daseinsvorsorge gibt, in denen ein Marktradikalismus fehl am Platze wäre. Es gibt bestimmte deutsche Traditionen, die ich nur einmal mit drei Begriffen ausdrücken will: das Sparkassenwesen, das öffentliche Rundfunkwesen und die Wasser
versorgung. Bei denen muss man sagen: Nicht alles, was man in den Markt überführen könnte, ist dort auch richtig aufgehoben.
Neuntens: Wir sind der Auffassung, dass wir insgesamt weniger Regeln, weniger Bürokratie und in denjenigen Bereichen, in denen der europäische Wettbewerb nicht tangiert ist, auch einen größeren nationalen Handlungsspielraum brauchen.
Zehntens: Wir brauchen das Prinzip der Subsidiarität, den Vorrang der kleineren Einheit, bürgernahe Lösungen, sachnahe Lösungen, Lösungen von Vielfalt unter Berücksichtigung der föderalen Ordnung der Bundesrepublik, unter Berücksichtigung der kommunalen Selbstverwaltung.
Ich sage aus aktuellem Anlass dazu: Wir brauchen auch einen Schutz der Verfassungsordnung und der Verfassungsrechtsprechung. Ich spiele damit auf das Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof an. Wir feiern in diesen Tagen das 60-Jahr-Jubiläum unserer Verfassungsordnung, und wir haben auch gegenüber der Europäischen Union diese Ordnung zu verteidigen.
Was Kompetenzabgrenzung anbelangt, brauchen wir ausdrückliche Kompetenzermächtigungen. Sache von Europa ist es nicht zwingend, wenn einem irgendetwas gefällt, was in Brüssel gesagt wird. Es ist noch keine Kompetenzbegründung, wenn irgendein Problem überall in Europa existiert. Deswegen kann es immer noch eine kommunale Angelegenheit sein, eben dann von europäischen Kommunen. Sache von Europa wird etwas nicht dadurch, dass Europa Geld bietet. Denn einen Einkauf in Zuständigkeiten darf es nicht geben.
Aber Sache von Europa ist es, globale Verantwortung zu übernehmen, den Binnenmarkt zu stärken und die grenzüberschreitenden Probleme zu lösen.
Meine Damen und Herren, die Union versteht sich als eine Partei, als eine politische Richtung, die traditionell europafreundlich ist. Wir wollen ein Europa der Bürger, der Vielfalt, der westlichen Wertegemeinschaft, der weltweiten Verantwortung, der Verteidigung unserer Verfassungsordnung, der Dezentralität. Dazu brauchen wir auch Europa, aber manchmal müssen wir uns gegenüber der Europäischen Union wehren, um diese Prinzipien auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.
Den Appell, zur Wahl zu gehen, kann man nur unterstreichen. Damit könnten wir zum Ausdruck bringen, dass die Bürger hinter Europa stehen.
(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Das waren jetzt lange vier Minuten!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nur noch einmal das Prinzip erklären, das eigentlich einleuchtend ist. Auf der rechten Seite am Rednerpult wird die Gesamtredezeit der Fraktion angezeigt, die 15 Minuten beträgt. Wenn eine Fraktion drei Abgeordne
te reden lässt und der erste Redner fünf Minuten spricht, beträgt die restliche Redezeit der Fraktion noch zehn Minuten. Wenn der zweite Redner auch fünf Minuten spricht, hat der dritte Redner ebenfalls fünf Minuten Redezeit. Danach ist die Redezeit der Fraktion aufgebraucht. Das ist wohl einsichtig. Ich wollte das nur noch einmal erklären.
(Abg. Dr. Stefan Scheffold CDU: Und der Präsident kommt in Rechenschwierigkeiten! – Abg. Jürgen Walter GRÜNE: Das ist einfach ein bisschen zu viel!)
Sehr geehrter Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen! Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist nicht von Europa ausgegangen, aber sie hat Europa infiziert. Das ist im Blick auf die Verwerfungen der zurückliegenden Monate ganz offensichtlich. Notleidende Banken und existenziell bedrohte Industrieunternehmen sprechen schließlich Bände, gerade im industriell geprägten und von Exporten abhängigen Südwes ten.
Aber die Verwerfungen sind eigentlich schon viel früher eingetreten. Eine zumindest für Kontinentaleuropa widernatürliche Doktrin des „Bereichert euch“, eine ausschließliche Bemessung des Wertes von Unternehmen nach Börsenspielregeln, „Shareholder vor Stakeholder“ hatte doch von diesem Kontinent Besitz ergriffen, auch hier. Diejenigen, die die Welle geritten haben, sind mitten unter uns und rappeln sich heute in Talkshows mit neuen Deutungen der Lage wieder auf, teils ignorant, teils vorlaut, aber nicht ganz ohne Resonanz. Ihnen sagen wir mit vielen Menschen im Land: Unser BadenWürttemberg lässt sich nicht verbiegen. Unser Baden-Würt temberg ist ein Land der Balance von öffentlicher und privater Verantwortung. Dieses Land will in Europa ein Modell sein für einen Wettbewerb der Besten und nicht für einen Wettbewerb der Rücksichtslosesten.
Europa wird in den kommenden Jahren deswegen einen Diskurs führen müssen, der gegenüber dem Marktradikalismus nicht abwehrend ist, sondern wehrhaft, der das zivile und soziale Erbe Europas nicht bloß verteidigt, sondern weiterentwickelt, der die technologische Führung Europas auf einer breiten Basis von guter Bildung ausbaut. Man kann nur hoffen, dass der Vertrag von Lissabon bald ratifiziert ist, damit wir für diese Debatten den Rücken frei haben. Denn das, was in der Welt gefordert ist, ist ein Europa, das nicht nur eine Rolle in der Weltwirtschaft spielt, sondern auch Maßstäbe für die Welt insgesamt setzt, die weit über die Wirtschaft hinausgehen.
Baden-Württemberg in der Mitte Europas steht nun einmal in dieser geistigen Auseinandersetzung mittendrin. Wird es Stellung beziehen? Wird es in der Lage sein, seine eigenen Er
folgsfaktoren zum Maßstab künftiger europäischer Wohlfahrt – natürlich bescheiden, aber auch selbstbewusst – zu machen?
Das kommt gleich. – Von ihr geht wenig aus, was eine Vision eines künftigen Europas ausmachen könnte. Sie ist aktiv, keine Frage. Ich freue mich immer über die Präsenz des Ministerpräsidenten in Brüssel. Wahrscheinlich ist er dort lieber als in Berlin.
Aber Tatsache ist: Das geistige Grundmuster unserer Europahaltung ist nicht stimmig; es wäre schön, wenn es sich weiterentwickeln würde.
Der Europabericht der Landesregierung wird von uns als fleißige, akribische Auflistung unserer Europapolitik gewürdigt. Unsere Behörden – die Europaabteilung im Staatsministerium, das Büro in Brüssel, die Fachabteilungen der Ministerien, die nachgeordneten Behörden, etwa die Europazentren – leis ten etwas. Der Bericht liest sich flüssig und ist kompakt geschrieben. Die Diskussionen in den Fachausschüssen zeigen auch, dass das Parlament durchaus an den Fragestellungen teilnimmt.
Wir begrüßen die einzelnen Fortschritte im Landesinteresse, etwa die verbesserte grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung und natürlich auch die erkämpften Klarstellungen bei der Dienstleistungsrichtlinie, mit denen wir das Herkunftslandprinzip abwehren konnten. Wir freuen uns über die Rückenstärkung der EU für die Schnellbahnstrecke Paris–Bratislava, die für unser Land elementar wichtig ist. Das alles sind Aktivitäten, mit denen wir uns in Europa einbringen und bei denen in der Vergangenheit, im Berichtszeitraum, Europa vorangebracht worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein paar Punkte nennen, die für uns aktuell wichtig sind.
Erstens: Arbeitnehmerrechte. Wir sind beunruhigt über die Rechtsprechung der Europäischen Union in diesem Bereich; andere sind das auch. Baden-Württemberg hat als Land ein elementares Interesse an guter Arbeit. Wir sollten uns deshalb in einem Pakt gegen Lohndumping dafür einsetzen, dass in allen EU-Mitgliedsstaaten existenzsichernde Mindestlöhne gelten.
Wir sollten die Institutionen der EU auch im EU-Primärrecht, in einer erweiterten EU-Entsenderichtlinie an soziale Standards und Rechte binden. In Europa muss gelten: gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Das ist unser Prinzip.
Zweitens zu den Steuern. Die Regierung Gerhard Schröder hat, anders als die Regierung Kohl, die Steuern für die Unternehmen herabgesetzt. Das war im europäischen Zusammen
hang notwendig; es war aber auch aus sich heraus begründet. Unser Land ist auf eine hervorragende Infrastruktur angewiesen. Nur auf einer solchen Grundlage können wir im Herzen Europas unsere Vorteile als produktives und innovatives Land zur Geltung bringen. Das ist die andere Seite der Medaille. Öffentliche Infrastruktur, Bildung und Mobilität und vieles andere mehr sind in unserem Land notwendig und müssen finanziert werden. Ein Steuerwettlauf innerhalb der EU nach unten ist deshalb nicht in unserem Interesse. Wenn das Land konzeptionell in Europa eine Rolle spielte, entspräche eine solche Forderung in Wahrheit auch nicht dem Zeitgeist. Wir müssten etwas anderes vertreten. Der Zeitgeist sagt – was John F. Kennedy seinerzeit sagte, gilt heute besonders –: „Fragt nicht, was euer Land für euch tut, sondern fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“ Das ist der Zeitgeist, den wir heute betonen müssen.
Ich will nicht über den Zickzackkurs zur Mehrwertsteuerhalbierung für Gastronomie und Hotellerie reden. Aber ich will doch sagen, dass wir hier insgesamt eine steuerpolitische Linie haben müssen, etwa, dass wir bei der Körperschaftsteuer einen Korridor einrichten müssen, der Chancengleichheit für den Industriestandort schafft, oder dass wir die Frage stellen, wie wir Steuerflucht in Europa besser vermeiden können. Ebendas sind die eigentlichen baden-württembergischen Anliegen bei der Steuerpolitik. So sehe ich das.
Drittens: kommunale Daseinsvorsorge. Wir als SPD sind zufrieden, dass eine Debatte über den Wert der öffentlichen, insbesondere der kommunalen Daseinsvorsorge in Gang gekommen ist. Auch hier im Landtag hatte diese Debatte ja Anfänge. Wir bekräftigen deshalb: Für öffentliche Dienstleistungen als Daseinsvorsorge muss mehr europäische Rechtssicherheit geschaffen werden. Sie dürfen nicht einem einseitigen Zwang zur Liberalisierung ausgesetzt werden.
Beispiel Wasser: Stuttgart betreibt den Rückkauf seines Wassernetzes. Die Zweckverbände im Land modernisieren ihre Anlagen vorbildlich. Ich finde, wir sollten schauen – das gilt für die Regierung und für die CDU; es gilt aber auch für alle anderen Parlamentarier; hier im Landtag sind wir uns einig –: Im Europabericht ist richtig beschrieben, dass wir in der Wasserversorgung einige Dinge ändern müssen, etwa dass wir beim Gesetz zur kommunalen Zusammenarbeit einbauen müssten, dass wir Private nicht mehr zulassen,
Ich höre andererseits, dass EU-Parlamentarier der CDU munter dabei sind, bei Zweckverbänden ausschreiben zu lassen – das ist deren Grundhaltung –, und ich lese und höre, dass die Bundestagsfraktion der CDU/CSU bei einer Novellierung des Vergaberechts durchgesetzt hat, dass hier eine Klarstellung zur interkommunalen Zusammenarbeit wieder herausgestrichen worden ist. So stellen wir uns einen kraftvollen Einsatz für die kommunale Daseinsvorsorge im Land nicht vor, meine Damen und Herren.
Was sollten die langen Linien unseres Europaengagements sein? Ich freue mich, dass man hier auch in eine Debatte, in einen Austausch mit dem Kollegen Müller gehen kann, der das auf seine Weise dargestellt hat. Ich will drei Punkte nennen.
Der erste Punkt ist die Partnerschaft in Europa für unser Land. Die Donau ist eine, ist unsere Chance. Die Reise des Europaausschusses im vergangenen Jahr nach Bulgarien und Kroatien war eindrücklich. Wenn der Rhein die Gründungsachse der EU war, dann ist die Donau jetzt der Strom der Chancen unseres Kontinents, insbesondere für uns in Baden-Württemberg. Wir würdigen die Arbeit des Donaubüros ausdrücklich. Das Büro hat es verdient, dass seine Mitfinanzierung von Mitteln der Landesstiftung auf ordentliche Haushaltsmittel umgestellt wird. Entlang der Donau spielt sich Verbindendes ab. Für unser Land ist das die Chance, seine Stärken auszuspielen, nicht bloß das Land der Exporte zu sein, sondern ein Land des Wissenstransfers und des kulturellen Austauschs, nicht nur dort, aber auch dort, wo wir Geschäfte machen.