Lieber Herr Kretschmann, mir ist klar, dass Ihnen das nicht gefällt, wenn wir über den Faktencheck sprechen, weil Sie meinen, dass Sie dieses Thema für sich gepachtet haben. Bei der Frage der Stromversorgung in der Zukunft geht es einer seits um die Darlegung der Fakten, andererseits aber auch da rum, dass man auf der Grundlage dieser Fakten entscheidet. Dann gilt die Frage: Haben wir wirklich Sicherheit, wenn un sere Freunde in Frankreich sagen: „Für uns kommt ein Atom ausstieg nicht in Betracht“?
Haben wir Sicherheit in Deutschland, wenn Großbritannien sagt: „Wir werden weiter Kraftwerke bauen“?
Haben wir Sicherheit, wenn Polen sagt: „Wir werden weiter Kraftwerke bauen“? Das sind die Fragen, die die Menschen beantworten müssen, und zwar im Zusammenhang mit der Frage: Sind wir bereit, ganz konkret und nicht nur allgemein für erneuerbare Energien zu sein? Wenn die Windkraftanlage vor meiner Tür ist, bin ich dann bereit, das zu unterstützen? Wenn das Biomassekraftwerk vor meiner Tür ist, bin ich dann bereit, das zu unterstützen?
Wenn Stromleitungen über mein Haus führen, bin ich dann bereit, das zu unterstützen? Das sind die Fragen, die die Men schen mit uns gemeinsam diskutieren und dann entscheiden müssen.
(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: Jawohl! Bravo! – Zuruf der Abg. Dr. Gisela Splett GRÜNE)
Das verstehen wir unter einer gesellschaftlichen Debatte un ter neuen Voraussetzungen. Es gibt viele Menschen in diesem Land, die geglaubt haben, dass wir Sicherheit gewährleisten können. Wir glauben, dass wir Sicherheit gewährleisten kön nen, aber wir wissen: Wenn es neue Diskussionen gibt, müs sen wir diese Diskussionen führen. Wir führen sie, wir sind bereit dazu. Wir sind nicht diejenigen, die sagen: „Wir wissen es schon heute“, sondern wir sind zu dieser Diskussion bereit. Eine Position, die lautet: „Wir wissen es aber schon heute si cher“, halte ich zu diesem Zeitpunkt nicht für richtig.
Sie wird den Menschen, den Ängsten der Menschen und den Herausforderungen der Zukunft nicht gerecht. Wir stellen uns dieser ausgesprochen schwierigen Situation. Ich würde mich freuen, wenn manch einer darüber nachdenkt, ob man nicht auch in einem heißen Wahlkampf einen kühlen Kopf bewah ren sollte. Das würde allen helfen.
(Lebhafter Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Zuruf von der CDU: Sehr gut! – Abg. Winfried Kretschmann GRÜNE schüttelt den Kopf.)
Das Wort erteile ich dem Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst Professor Dr. Peter Frankenberg.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Oh-Rufe von der SPD – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Bitte, ja! Jawohl! – Abg. Reinhold Gall SPD: Das ist ein Miss brauch des Parlaments! Unglaublich! – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU zur SPD: Holen Sie Herrn Dr. Schmid! Er kann jetzt viel lernen! – Abg. Reinhold Gall SPD: Was ist denn das für eine Wahlkampfstra tegie, die da abgezogen wird? Wir machen aber jetzt keine Vorlesungen mehr! Die Strategie, die gefahren werden soll, ist doch wieder völlig klar, Herr Präsi dent! – Unruhe – Zuruf: Zuhören! – Glocke des Prä sidenten)
(Abg. Reinhold Gall SPD: Ja, ja! Aber abwechselnd! – Abg. Claus Schmiedel SPD: Die ganze „Bande“ soll jetzt wohl sprechen! – Gegenruf des Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: Bitte? Sofort zurücknehmen! Er spricht von der „ganzen Bande“! – Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Rüge! Rüge! – Abg. Karl-Wil helm Röhm CDU: Herr Schmiedel spricht hier von der „ganzen Bande“! Sofort zurücknehmen! – Leb hafte Unruhe – Glocke des Präsidenten)
(Zuruf des Abg. Reinhold Gall SPD – Abg. Karl-Wil helm Röhm CDU: Herr Schmiedel soll sich entschul digen! Er spricht von „Bande“!)
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich hätte schon alles erklärt, wenn man mich gelassen hätte.
(Abg. Thomas Blenke CDU, auf SPD und Grüne zei gend: Die seismologischen Verhältnisse dort drüben sind etwas seltsam!)
um den Menschen das zu erklären und um die Sorge zu neh men, bei uns in Mitteleuropa, in unserer Region, in BadenWürttemberg und Deutschland, könnte geologisch etwas Ähn liches wie in Japan passieren.
Das Beben hatte eine Stärke von 9,0 auf der Richterskala. Es war nicht ein Beben, das alle 10 000 Jahre auftritt, sondern es hat eine Wiederkehrwahrscheinlichkeit von 10 000 Jahren. Das heißt, es kann morgen wieder auftreten.
(Zurufe von der SPD: Aha! – Endlich sagt das mal einer! – Unruhe – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Pst!)
Die Stärke des Bebens war ursprünglich auf 8,8 geschätzt. Sie von 8,8 auf 9,0 zu setzen heißt, dass das Beben mit der Stär ke 9,0 doppelt so stark war, wie es ein ursprünglich geschätz tes Beben der Stärke 8,8 gewesen wäre.
(Abg. Thomas Knapp SPD: Erklären Sie einmal dem Kollegen Hauk, dass zwischen 8,0 und 9,0 der Fak tor 10 ist und nicht nur der Faktor 2! – Gegenruf des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Zuhören!)
Das Beben von Christchurch, das kurz vorher passiert war, hatte eine Stärke von 6,7 – auf die Größenordnung komme ich gleich noch zu sprechen. Die Stärke dieses Bebens von Christ church ist verglichen mit der ursprünglich geschätzten Stärke von 8,8 des Bebens in Japan 8 000-mal schwächer. Oder um gekehrt: Die Energieentladung bei dem Beben in Japan war 8 000-mal stärker als bei dem Beben von Christchurch.
Wie kommt das zustande? Japan liegt als Inselbogen am Rand der eurasischen Platte, darunter gleitet die pazifische Platte. Wenn man so will, liegen die Kernkraftwerke von Fukushima vorn auf dem Inselbogen. Es könnte also gar keine geologisch sensiblere Position geben als diese.
In einem riesigen Transportband gleitet die pazifische Platte mit einer jährlichen Verschiebung von 8 cm unter die eurasi sche Kontinentalplatte. Dies geht nicht immer wie geschmiert, sondern die Platten verhaken sich. Lösen sie sich häufiger, gibt es mehrere mittelschwere Erdbeben; dann ist es gut. Löst sich die Verhakung seltener, gibt es, wie jetzt, sehr schwere Erdbeben. Jetzt war die Verhakung so stark, dass die Konti nentalplatte um 5 m nach oben geschnellt ist, Japan sich um 2 m und die Erdachse sich um 10 cm verschoben haben.
Dieses Emporschnellen hat den gewaltigen Tsunami ausge löst. Das Kernkraftwerk Fukushima war auf eine Erdbeben stärke von 8,3 ausgelegt. Man muss allerdings sagen: Die
Richterskala ist nach oben offen. Auch bei einer Stärke von 9 ist noch nicht die höchste Stärke von Erdbeben erreicht. Für Erdbeben ist Japan eigentlich mit der sensibelste Raum im zir kumpazifischen Kreis und auf der Erde überhaupt. Das heißt, man muss sagen, die Auslegung war schon knapp kalkuliert.
(Abg. Dr. Rainer Prewo SPD: Was will uns der Dich ter damit sagen? – Zuruf des Abg. Gunter Kaufmann SPD)
das Kraftwerk nicht in dem Maß beschädigt, dass die Küh lung ausgefallen wäre, sondern die Notstromaggregate sind angesprungen. Japan hat ein ganzes Schutzsystem gegen Tsu namis; denn Tsunamis sind eine Erscheinung, die in Japan häufig vorkommt. Für diesen Tsunami waren die Schutzwäl le aber zu niedrig. Da man sich bei dem Kernkraftwerk aber auf den Schutzwall verlassen hat, hat man die Dieselaggrega te ebenerdig gebaut, sodass diese überflutet wurden und aus fielen. Dann stand nur noch die Kühlung über Batteriestrom mit einer endlichen Zeit zur Verfügung.
Wie sieht es bei uns aus? Wir leben nicht an einem Platten rand, sondern durch Afrika und durch Europa zieht sich eine Grabenzone, an der die eurasische Platte in sich gedehnt wird. Das ist das ostafrikanische Grabensystem. Es zieht sich durch Libyen, durch das Mittelmeer, durch die Rhône-Saône-Fur che, durch den Oberrheingraben, dann in die hessische Sen ke und die niederrheinische Bucht.
Das ist richtig. Das ist eine Zone, in der wir eine Bewegung von ungefähr 1 cm pro Jahr haben, in der die Grabenflanken auseinandergehen, der Graben nach unten sinkt und sich die Grabenflanken heben. Es entsteht seismische Aktivität, weil der Prozess nicht kontinuierlich, sondern ruckartig abläuft.
Aus den historischen Gegebenheiten kann man eine Erdbe benkarte für Baden-Württemberg ableiten. Das stärkste bis jetzt registrierte Erdbeben – das kann man nur paläoseismo logisch nachvollziehen – war das von Basel im Jahr 1356, wahrscheinlich mit einer Magnitude von 6,5 auf der Richter skala. Das ist in etwa dieselbe Größenordnung wie die des Be bens in Christchurch. Basel war damals fast vollständig ver nichtet worden. Das ist ein Erdbebenzentrum im südbadi schen, schweizerischen und im entsprechenden elsässischen Raum.
Dann haben wir eine starke Erdbebenzone im Hohenzollern graben. Der Schwarzwald wird gehoben, und auf der westli chen Seite entsteht praktisch ein Knick. Der Hohenzollern graben, der Bonndorfer Graben und andere sind seismisch ebenfalls sehr aktiv. Auch dort haben wir ähnliche Erdbeben, möglicherweise mit dieser Magnitude als – historisch gese hen – Obergrenze, zu erwarten.
Eine zweite starke Erdbebenzone in Deutschland ist die nie derrheinische Bucht. Dazwischen ist es das Gebiet des mittel
rheinischen Beckens mit Koblenz, wo man aus diesen Grün den ein Kernkraftwerk gar nicht hat ans Netz gehen lassen, nämlich das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich. Dort kippt die Scholle, auf der das Kernkraftwerk stand, und macht übrigens den Weg frei für den Laacher-See-Vulkanismus, den einzigen noch aktiven Vulkanismus in Deutschland. Wenn wir hier eine geologische Gefahr haben, dann liegt sie in diesem LaacherSee-Vulkan.
Wenn wir die Sache europäisch sehen, dann müssen wir sa gen: Wir haben eine Plattengrenze. Wir haben eine Platten grenze, die mitten durch das Mittelmeer geht, wo die afrika nische Platte mit der eurasischen Platte – zwei Kontinental platten – kollidiert. Hier haben wir eine sehr hohe Erdbeben gefährdung, die quer durch das Mittelmeer geht.
Wir haben im Mittelmeer auch eine sehr hohe Tsunamigefähr dung. Europa hat kein Tsunamiwarnsystem im Mittelmeerge biet. Das Mittelmeer ist gegenüber dem Pazifik wie eine klei ne Badewanne. Das heißt, Tsunamis können dort wesentlich höher aufschwappen, als sie es im Pazifik tun könnten.
Wenn wir jetzt in Europa auf Kernkraftwerke schauen, soll ten wir uns die Kernkraftwerke am Rande des Mittelmeers an sehen, am Mittelmeer und am Schwarzen Meer, also ins Mar marameer hinübergehend.