Protocol of the Session on March 15, 2011

Meine Damen und Herren! Ich er öffne die 112. Sitzung des 14. Landtags von Baden-Württem berg und begrüße Sie.

Entschuldigt ist heute Herr Abg. Kübler.

Meine Damen und Herren, die Landeswahlleiterin hat mir mit Schreiben vom 8. März 2011 mitgeteilt, dass das Mandat des ausgeschiedenen Kollegen Klaus Dieter Reichardt auf Frau Rebekka Schmitt-Illert übergegangen ist.

Frau Schmitt-Illert, ich begrüße Sie herzlich in unserer Mitte.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Meine Damen und Herren, die CDU-Landtagsfraktion hat mit Schreiben vom 13. März 2011 beantragt, eine weitere Sitzung des 14. Landtags von Baden-Württemberg auf heute anzube raumen und folgenden Tagesordnungspunkt vorzusehen:

Atomunglück in Japan – Folgerungen für die Energiepo litik in Baden-Württemberg

Information durch die Landesregierung – Allgemeine Aussprache

Diesem Antrag bin ich entsprechend Artikel 30 Abs. 4 der Landesverfassung nachgekommen und habe Sie zu dieser heu tigen Sitzung mit Schreiben vom 14. März 2011 eingeladen.

Die CDU-Fraktion schlägt für die Allgemeine Aussprache freie Redezeit vor. Ich gehe davon aus, dass sich dagegen kein Widerspruch erhebt. – Dann ist es so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, fraglos ist es wichtig, dass wir hier und heute unsere parlamentarische Verantwortung für eine technisch sichere Energieerzeugung in unserem Land de zidiert wahrnehmen und vertieft erörtern, welche Konsequen zen bei uns aus den Reaktorhavarien in Japan gezogen wer den müssen.

Parlamentarische Beratung heißt natürlich gerade dabei: strei tiger Diskurs. Deshalb ist es meines Erachtens so wichtig, dass wir diese zusätzliche Sitzung mit einem gemeinsamen Inne halten beginnen und so den Menschen in Japan unsere Anteil nahme bekunden. Lassen Sie uns als Erstes dokumentieren, wie sehr wir alle erschüttert sind angesichts der humanitären Katastrophe, die über Japan hereingebrochen ist, angesichts des unermesslichen Leids, das die Menschen zu tragen haben.

Unser Mitgefühl gilt den Verletzten, den Traumatisierten, den Trauernden; denen, die noch immer verzweifelt nach Ange hörigen suchen, denen, die alles verloren haben bis auf das nackte Leben.

Die apokalyptischen Bilder, die uns erreicht haben und noch immer erreichen – wir hätten sie uns nicht schrecklicher vor stellen können. Trotzdem sollten wir uns bewusst machen, dass Schlimmstes unsichtbar geblieben ist: die Todeskämpfe der Verschütteten oder von der Monsterwelle Mitgerissenen und die Angst davor, was die Zukunft bringt.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, erheben wir uns von un seren Plätzen und geben wir so unserer Betroffenheit und Er schütterung Ausdruck, aber auch unseren Wünschen nach Le bensmut und Kraft für die Menschen in Japan.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.)

Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen ihre Plätze wieder ein.)

Meine Damen und Herren, damit treten wir in die Tagesord nung ein.

Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf:

Atomunglück in Japan – Folgerungen für die Energiepo litik in Baden-Württemberg

Information durch die Landesregierung – Allgemeine Aussprache

Für die Information durch die Landesregierung erteile ich das Wort für eine Erklärung Herrn Ministerpräsident Mappus.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich danke der CDU-Land tagsfraktion, dass sie diese zusätzliche Sitzung des Landtags von Baden-Württemberg kurzfristig beantragt hat. Auch mir ist wichtig, das politische Tagesgeschäft angesichts der Nach richten aus Japan zu unterbrechen. Es ist richtig, dass das üb liche Wahlkampfgeschehen für einige Stunden ruht.

Die Bilder aus dem Erdbebengebiet in Japan haben uns alle fassungslos gemacht. Fast stündlich erreichen uns von dort neue Schreckensmeldungen. In kurzer Zeit haben unvorstell bare Naturgewalten den Nordosten Japans verwüstet. Für die Menschen dort ist nichts mehr, wie es einmal war. Ganze Ort schaften wurden von riesigen Flutwellen hinweggespült. Wo noch vor wenigen Tagen das Leben einer modernen Gesell schaft seinen gewohnten Gang ging, ist nichts als Zerstörung zurückgeblieben.

An den Stränden des Nordens werden täglich Leichen ange schwemmt. Ihre Zahl geht in die Tausende.

Manche Bilder sprengen jede Vorstellungskraft. Ein Schiff wurde in den Vorgarten eines Wohnhauses gespült. Doch es

(Ministerpräsident Stefan Mappus)

sind gerade die menschlichen Schicksale, die uns nicht aus dem Kopf gehen. Ich denke an das Bild einer Frau, die, in ei ne Decke gehüllt, vor den Überresten ihres Hauses steht. Nichts ist ihr geblieben als die Kleider auf dem Leib.

Diese Katastrophe macht uns alle sprachlos. Unsere Gedan ken und Gebete sind in diesen Stunden bei den Not leidenden Menschen in Japan.

Wir gedenken der wahrscheinlich vielen Tausend Toten. Wir denken an das große Leid ihrer Angehörigen. Wir denken an die über 100 000 Menschen, die durch Erdbeben und Tsuna mi obdachlos geworden sind, die nun buchstäblich vor dem Nichts stehen, und wir alle blicken jetzt mit großen Sorgen auf die Entwicklungen in den japanischen Kernkraftwerken.

Bislang gibt es keine Erkenntnisse, ob sich auch Baden-Würt temberger unter den Vermissten oder Getöteten befinden.

Wenn es in der Vergangenheit galt, Hilfe in Katastrophenfäl len zu leisten, dann war Japan stets in vorderster Reihe dabei. Nun braucht das schwer erschütterte Land selbst die Hilfe sei ner Freunde. Gerade das Technologieland Baden-Württem berg hat zum hoch entwickelten Japan enge wirtschaftliche, kulturelle, vor allem aber auch persönliche Kontakte. Über unsere Partnerregion Kanagawa, über zwölf baden-württem bergische Gemeinden, die Partnerschaften zu japanischen Kommunen unterhalten, und über zahllose Wirtschaftsbezie hungen haben sich enge Freundschaften zwischen unserem Land und Japan entwickelt. Viele Menschen haben Kollegin nen und Kollegen, Geschäftspartner und Freunde in Japan. In der Stunde der Not stehen wir zusammen. Wie ich aus unse ren Kommunen höre, sind unsere Partnerstädte bisher weit gehend unversehrt geblieben.

Bad Krozingens japanische Partnerstadt Taketa ist durch eine weitere Partnerschaft mit der Stadt Sendai verbunden. In der Nähe von Sendai lag das Epizentrum des Erdbebens. Taketa plant eine große Spendenaktion für die Stadt Sendai, an der sich auch Bad Krozingen beteiligen wird.

Die Landesregierung war bereits am Wochenende in Kontakt mit den Verantwortlichen der Bundesregierung und dem ja panischen Botschafter und hat konkrete und umfängliche Hil fe angeboten. Wir stehen zudem in Kontakt mit dem Gouver neur unserer Partnerregion Kanagawa und den Bürgermeis tern aller zwölf baden-württembergischen Kommunen, die Städtepartnerschaften mit Japan haben.

Im Moment besteht von japanischer Seite der Wunsch, zu nächst keine weiteren Experten, keine Ausrüstung und keine Hilfsteams mehr ins Land zu schicken. Alle Beteiligten sind der Meinung, dass effektive Hilfen nur auf konkrete Anfragen der japanischen Verantwortlichen und nur in enger Abstim mung mit der Bundesregierung erfolgen können. Selbstver ständlich werden wir zunächst die Ergebnisse der Gespräche der UN und der EU mit den japanischen Verantwortlichen ab warten.

Dem 44-köpfigen deutschen THW-Team, das heute seinen Einsatz in Japan beendet hat, gehörte auch ein THW-Mann aus Heidelberg an. Darüber hinaus ergänzte ein Experte einer Spezialeinheit für radiologische Messungen der Berufsfeuer wehr Mannheim dieses Team.

Nichtsdestotrotz gilt, dass Baden-Württemberg vorbereitet ist, um bei Bedarf jederzeit auch längerfristig wirkende Hilfen wie z. B. bei der Versorgung und Unterbringung von Katast rophenopfern leisten zu können. Das Innenministerium hat am Montagabend mit den Landesverbänden der Hilfsorgani sationen weitere Hilfsmöglichkeiten beraten, die nach Abruf durch die japanischen Behörden kurzfristig zur Verfügung ge stellt werden können.

Selbstverständlich werden wir bei einem möglichen Einsatz von Helfern darauf achten, dass sie in Japan nach menschli chem Ermessen keinen Gefahren für ihr Leben oder ihre Ge sundheit ausgesetzt sind.

Ich appelliere schon heute an die Arbeitgeber in Baden-Würt temberg, die ehrenamtliche Katastrophenschutzhelfer beschäf tigen, bei einer möglichen Freistellung für die Entsendung nach Japan großzügig zu sein.

Für uns steht fest: Baden-Württemberg wird Japan helfen, wo immer möglich und wann immer sinnvoll. Diese Zusage gilt auch langfristig.

Bereits am Samstag habe ich einen Lagestab eingerichtet. Ihm gehören an: Innenminister Heribert Rech, Umwelt- und Ver kehrsministerin Tanja Gönner, der Minister im Staatsministe rium Helmut Rau sowie die Vorsitzenden aller im Landtag vertretenen Fraktionen. Hier werden die aus Japan eintreffen den Nachrichten gebündelt und ausgewertet. Hier findet eine enge Abstimmung mit der Bundesregierung statt, und hier wird auch geprüft, wo und wie Baden-Württemberg möglichst effektiv und zielgerichtet helfen kann. Hilfe und Mitgefühl für unsere japanischen Freunde haben jetzt absolute Priorität.

Aber es ist klar, dass sich auch die Menschen in Baden-Würt temberg große Sorgen um ihre Sicherheit machen und dass es ein großes Informationsbedürfnis gibt. Deshalb hat die Lan desregierung schon am Sonntagvormittag ein Bürgertelefon eingerichtet. Wir informieren auf diesem Weg zeitnah über die Situation in Japan und mögliche Auswirkungen für BadenWürttemberg. Fachleute des Umwelt- und Verkehrsministeri ums stehen den Bürgern dort Rede und Antwort. Dieses An gebot wird gut angenommen und ist schon am ersten Tag in tensiv genutzt worden.

Meine Damen und Herren, neben den Bildern dieser Katast rophe, die uns allen sehr nahegehen, beschäftigen uns auch weitere Fragen. Das Leid Hunderttausender Menschen in Ja pan zeigt uns einmal mehr die Zerbrechlichkeit unseres Wohl stands und unserer technischen Leistungen. Und es führt uns schockierend vor Augen: Menschliches Wissen und techno logisches Vermögen sind immer begrenzt. Viele Menschen machen sich deshalb auch bei uns Sorgen.

Ich will ausdrücklich deutlich machen: Ich verstehe diese Sor gen; ich nehme sie sehr ernst, und ich teile sie auch selbst. Es fällt mir nicht schwer, zu sagen: Was in Japan passiert, hat mich erschüttert, und es hat mich nachdenklich gemacht. Es lässt mich zweifeln an mancher Gewissheit, auf die ich ver traut habe. Auch das gebe ich offen zu.

Jeder weiß, dass ich dafür eingetreten war, die Laufzeiten un serer Kernkraftwerke für eine begrenzte Anzahl von Jahren zu verlängern. Es stimmt, dass diese Entscheidung strittig war

(Ministerpräsident Stefan Mappus)

und dass sich daran viel Kritik entzündet hat. Aber ich glau be nach wie vor: Wir haben sie sorgfältig und nach bestem Gewissen getroffen.

Es war dabei immer klar: Jedes Kernkraftwerk, das in BadenWürttemberg und in Deutschland am Netz ist, muss sicher sein. Die Sicherheit und die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger waren und sind nicht relativierbar. Diesen Grund satz befolgten wir mit allem Menschenmöglichen. Das ist auch heute meine Überzeugung.

Ich glaube, wir sind uns einig: Eine Katastrophe in der Art und der Dimension wie jetzt in Japan ist in Baden-Württemberg nach allen Wahrscheinlichkeiten nicht vorstellbar. Wir haben hier ganz andere geologische Bedingungen, und unser Land wird auch nicht von Tsunamis bedroht. Allerdings: Eine ab solute Garantie, eine definitive Gewissheit gibt es nicht – auch nicht in einem Hochtechnologieland mit noch so strengen Vor schriften. Das muss die Welt gerade bitter mit ansehen, und das bewegt mich sehr in diesen Tagen.

Deshalb: Was die Menschen in Japan jetzt erleben müssen, stellt die Frage nach der Verantwortbarkeit der Kerntechnik neu – auch für mich ganz persönlich. Ich halte es für legitim, im Angesicht dieser unfassbaren Jahrhundertkatastrophe in Japan über die Standpunkte und Argumente in der politischen Streitfrage hier bei uns neu nachzudenken. Dazu bin ich be reit – ohne Denkverbote. Ich habe mich immer rational zur Kernenergie bekannt, weil ich ihren Nutzen gesehen habe. Aber ich bin kein Atomideologe.