Protocol of the Session on October 6, 2010

Wir wollen dieses Projekt, weil wir vor allem die großen Chancen sehen, die es der Stadt Stuttgart, der Region und un serem ganzen Land bringt. Aber genauso deutlich sage ich: Unsere Hand bleibt zum Dialog ausgestreckt.

Unsere Haltung war immer: Wir nehmen nur die Arbeiten vor, die für die Realisierung des Projekts zum jeweiligen Zeitpunkt notwendig sind. Die Projektträger sind deshalb bereit, ein kla res Signal zu geben, und werden deshalb mit dem Abriss des Südflügels vorerst nicht beginnen.

(Unruhe bei der SPD)

Ich habe nach wie vor auch große Achtung davor, dass Kol lege Kretschmann bereit war, gemeinsam mit mir zu einem ersten Gespräch einzuladen.

(Abg. Jürgen Walter GRÜNE: Super!)

Leider wurde unser gemeinsames Angebot ausgeschlagen. Ich habe es ebenfalls sehr bedauert, dass die Funktionäre der Geg nerbewegung den Dialog auch im zweiten Anlauf unmittelbar wieder abgebrochen haben.

Meine Gesprächsbereitschaft gilt. Deshalb werde ich mich morgen mit einigen Schülerinnen und Schülern aus Stuttgart treffen, die am vergangenen Donnerstag im Schlossgarten mit dabei waren. Ich sehe dieses Treffen als eine Chance dafür, eine erste Brücke zu bauen und gegenseitiges Verständnis zu begründen.

Ich erneuere heute meine Einladung an alle Projektkritiker zu einem Gespräch. Mein Aufruf lautet: Schaffen wir gemein sam einen Rahmen dafür, dass der Dialog möglich wird und dass wieder die Sachargumente die Diskussion bestimmen. Ich bin zuversichtlich, dass es einen solchen Weg zur Versöh nung gibt.

Um zusätzliches Vertrauen aufzubauen, führt dieser Weg aus meiner Sicht über einen unparteiischen Vermittler, der ohne Vorbedingungen alle Seiten einbezieht – so, wie ich es mehr fach vorgeschlagen hatte. Vor allem anderen geht es jetzt da rum, dass geredet wird.

Herr Kretschmann, ich greife Ihren Vorschlag auf. Ich habe deshalb Herrn Bundesminister a. D. Dr. Heiner Geißler gebe ten, Fachleute, Projektgegner, Projektbefürworter und andere mehr an einen Tisch zu bringen. Er ist bereit, als objektiver Vermittler aufzutreten.

Herr Dr. Geißler verfügt über langjährige Erfahrungen im Be reich des Interessenausgleichs und der Schlichtung. Heiner Geißler stammt aus Baden-Württemberg, und er kennt Land und Leute. Er genießt hohes Ansehen über alle Parteigrenzen hinweg. Ich danke ihm, dass er diese schwierige Aufgabe übernimmt.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Abge ordneten der Grünen)

Ich bin davon überzeugt, dass es ihm gelingen wird, einen gu ten Gesprächsfaden zu knüpfen. Mein Angebot ist und bleibt: Lassen Sie uns über alle offenen Fragen diskutieren. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass sich die Bürger bei all diesen Fra gen einbringen können und an der Zukunft ihrer Stadt mitar beiten.

Sprechen wir ganz konkret über die Architektur im Rosen steinviertel. Wir wollen dort keine bauliche Gigantomanie, sondern die Architektur behutsam entwickeln.

(Zuruf des Abg. Jürgen Walter GRÜNE)

(Ministerpräsident Stefan Mappus)

Sprechen wir ganz konkret über die neuen Bäume im vergrö ßerten Schlossgarten. Sprechen wir ganz konkret über die Nut zerfreundlichkeit des neuen Bahnhofs. Ich kann mir dazu ei ne umfassende „Dialogagenda Stuttgart 21“ vorstellen.

(Lachen der Abg. Theresia Bauer GRÜNE – Unruhe bei den Grünen)

Neben den Gesprächen auf Spitzenebene könnten wir viele einzelne, thematisch klar zugeschnittene Informations- und Gesprächskreise zu allen Diskussionspunkten und Gestal tungsfragen einrichten.

(Unruhe bei der SPD und den Grünen)

Hier sollen dann Projektgegner, -befürworter und Fachleute zusammenkommen und öffentlich über die konkreten Einzel fragen sprechen. Dies können u. a. die Gestaltung des Schloss gartens, Aspekte der Geologie, der Schutz der Mineralquel len, technische Fragen – vor allem auch Sicherheitsthemen –, Optimierungen im künftigen Nahverkehr, das Baustellenma nagement und der Anwohnerschutz, das Kostenmanagement sowie die Barrierefreiheit an Bahnsteigen und Gebäuden sein. Das ist mein Vorschlag an alle, die guten Willen haben und die sich konstruktiv beteiligen wollen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie des Abg. Wolfgang Drexler SPD)

Meine Damen und Herren, manche haben mir geraten, das Projekt infrage zu stellen. Vermutlich hätte mir dies sogar manchen Beifall eingebracht. Ich könnte es mir tatsächlich leicht machen und diesen Ratschlägen folgen. Aber, meine Damen und Herren, es muss doch darum gehen, dass wir die Zukunft in Baden-Württemberg und in der Landeshauptstadt weiterentwickeln. Machen wir also Stuttgart 21 gemeinsam zu einem echten Bürgerprojekt. Nutzen wir das Engagement der Menschen nicht, um Verhinderungsdenken zu mobilisie ren, sondern um diese Jahrhundertchance für Stadt und Land gemeinsam zu ergreifen und zu gestalten.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Dass unser Land Stuttgart 21 und die Neubaustrecke nach Ulm braucht, haben die Industrie- und Handelskammern Boden see-Oberschwaben, Ostwürttemberg und Ulm vor Kurzem de monstriert. Sie organisierten eine Fahrt mit einer historischen Dampflok von Stuttgart nach Ulm. Diese historische Dampf lokomotive bewältigte die Filstaltrasse zwischen Stuttgart und Ulm stellenweise nur mit Tempo 70. Genauso schnell fährt dort ein moderner ICE mit über 10 000 PS, gebaut für Spit zengeschwindigkeiten von über 300 km/h. Warum fährt der Zug so langsam?

(Zuruf des Abg. Siegfried Lehmann GRÜNE – Abg. Thomas Oelmayer GRÜNE: Unsäglich!)

Das ist so, meine Damen und Herren, weil der ICE auf einer Trasse fährt, die zwischen 1844 und 1850 errichtet wurde, 40 Jahre vor der Erfindung des Automobils,

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: So ist es!)

30 Jahre, bevor Thomas Edison seine Patente für die Glüh lampe anmeldete, in einer Zeit, in der in Preußen gerade das Dreiklassenwahlrecht eingeführt wurde.

Sehr geehrte Damen und Herren, Baden-Württemberg zählt zu den wirtschaftsstärksten Regionen Deutschlands und Eu ropas. Wir sind stolz auf unseren Wohlstand, auf unsere Inno vations- und Schaffenskraft. Wir blicken stolz auf Weltmarkt führer, wir blicken stolz auf Erfindungen, Patente und Talen te. Kann es sich dieses moderne Land leisten, an einer Schlüs selstrecke des Landes eine Infrastruktur vorzuhalten, die rund 160 Jahre alt ist?

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Abge ordneten der SPD)

Aber noch viel mehr: Kann es sich unser Land leisten, dass der Zugverkehr der Zukunft wegen dieser veralteten Gleise Baden-Württemberg bald einfach links liegen lässt

(Zuruf der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

und uns auf der schnelleren Strecke über Frankfurt, Würzburg, Nürnberg, München umfährt? Meine Antwort ist Nein. Des halb braucht Baden-Württemberg Stuttgart 21.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Abge ordneten der SPD)

Das Bahnprojekt Stuttgart–Ulm mit Stuttgart 21 und der Neu baustrecke hat für die Zukunft des Lebens-, Wirtschafts- und Arbeitsstandorts Baden-Württemberg aus meiner Sicht eine überragende strategische Bedeutung. Europäische Partner im Westen bis Paris und Zukunftsmärkte in Osteuropa bis Bra tislava werden durch kürzere Reisezeiten näher an BadenWürttemberg heranrücken.

(Unruhe bei den Grünen – Zuruf des Abg. Thomas Oelmayer GRÜNE)

Die Anbindung von Flughafen und Messe schafft eine Zent ralität, wie es sie in Deutschland nirgendwo sonst gibt.

Viele Regionen des Landes gewinnen.

Das Projekt schafft und sichert Wachstum und Beschäftigung. Das belegen solide wissenschaftliche Untersuchungen. Die verbesserte Erreichbarkeit schafft für die Wirtschaft im Land zusätzliche Umsätze von rund 500 Millionen € im Jahr. 10 000 neue Arbeitsplätze werden geschaffen, Arbeitsplätze, die Fa milien ernähren, die Sozialbeiträge und Steuern erwirtschaf ten. Allein in der Bauzeit werden Investitionen in BadenWürttemberg ermöglicht, die das Vierfache des Engagements des Landes ausmachen.

Denken wir einmal an die vielen Bau-, Metall-, Transport- oder Elektrounternehmen im ganzen Land, die von diesen Aufträgen profitieren. Wer will ihnen ernsthaft sagen, dass ihr Wachstum schlechtes Wachstum ist, dass die Arbeitsplätze, die sie schaffen, schlechte Arbeitsplätze sind?

Meine Damen und Herren, Baden-Württemberg hat nach den neuesten Zahlen das stärkste Wirtschaftswachstum aller Bun desländer in diesem Jahr: 5,0 % reales Wachstum allein im ersten Halbjahr.

(Abg. Thomas Oelmayer GRÜNE: Auch ohne Stutt gart 21!)

Unser Wachstum braucht Wege. Deshalb braucht Baden-Würt temberg aus wirtschaftlicher Sicht das Bahnprojekt Stuttgart– Ulm, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Abge ordneten der SPD – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sehr gut!)

Hinzu kommt: Gerade für Stuttgart bietet das Bahnprojekt ei ne historische städtebauliche Chance: die Entwicklung neuer Stadtquartiere im Herzen dieser Stadt. Wie kaum eine andere Großstadt wird Stuttgart von seiner topografischen Lage be stimmt. Mit Stuttgart 21 kann die Stadt moderne Urbanität ge stalten, und zwar ohne Flächenverbrauch. Statt im Umland weiteren Wohn- und Lebensraum auf der grünen Wiese zu schaffen, ermöglichen die frei werdenden Gleisflächen, dass Stuttgart im Zentrumskern wächst. Rund 100 ha Fläche ste hen für die städtebauliche Entwicklung der Stuttgarter Innen stadt zur Verfügung. 50 ha werden für Wohnen und Arbeiten genutzt.

Über die nächsten zwei Jahrzehnte entwickeln sich hier neue Quartiere zum Leben, zum Arbeiten und zum Wohnen.

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Genau!)

Es entstehen rund 20 000 Arbeitsplätze und 11 000 Wohnun gen. Die Stadtteile im Stuttgarter Norden und Osten, die noch heute von der Gleiswüste zerschnitten sind, wachsen wieder zusammen. Der Rosensteinpark und das Rosensteinviertel ge hen zukünftig direkt ineinander über.

Meine Damen und Herren, so viele städtebauliche Chancen im innersten Kern für eine Großstadt gab es in Deutschland zuletzt in Berlin nach der Wende.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Abge ordneten der SPD)