Protocol of the Session on April 1, 2004

Beides sind die zwei Seiten der einen Medaille einer Gesellschaft, die um die Mitte und das Fundament ihres eigenen Gemeinwesens weiß und zugleich jene Weltoffenheit praktiziert, die nicht zuletzt auch in manchem Schritt der Säkularisierung christlicher Werte erreicht worden ist. Das ist eine lange, eine komplizierte Geschichte mit gutem Ergebnis, und dieses gute Ergebnis muss man auch formulieren können. Dabei darf man nicht so schnell so ängstlich werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Das Urteil von 1975 über die christlichen Gemeinschaftsschulen, das Herr Kollege Birzele bereits zitiert hat, enthält hierzu sehr deutliche Aussagen, die genau diese beiden Seiten der Medaille aufgreifen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit komme ich zu einem zweiten mir wichtigen Stichwort, dem Stichwort Integration. Auch darauf sind einige Vorredner eingegangen.

Eine Gesellschaft, in der Menschen aus unterschiedlichen nationalen, kulturellen und religiösen Herkünften leben, braucht Integration. Das beschäftigt uns quer durch die Ressorts. Wir haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Maßnahmen und Investitionen beschlossen, die vor allem unsere Schulen betreffen. An keiner Stelle in unserer Gesellschaft, in keiner Institution geschieht so viel im Hinblick auf Integration wie in unseren Schulen. Ich glaube, dass dies auch eine gute Gelegenheit dazu bietet, unseren Schulen einmal für diese harte Arbeit, die sie zum Gelingen der Integration auf sich nehmen, zu danken.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Ab- geordneten der SPD)

Im Blick auf die Zukunft ist völlig klar: Das erste wichtige Thema in diesem Zusammenhang ist das Thema Sprachförderung. Mit dem Programm der Landesstiftung haben wir hier einen wichtigen Schritt erreicht. Bereits 11 000 Kinder werden gefördert. Die Sprache ist nicht nur ein Schlüssel für erfolgreiche Bildung, sondern sie ist auch ein Schlüssel für gelingende Integration.

Das zweite Thema, das uns seit Jahren beschäftigt, ist der islamische Religionsunterricht. Die Frage ist: Schaffen wir es, an unseren Schulen einen solchen Unterricht einzurichten? Ich habe mehrfach betont, dass ich das für wünschenswert halte. Es kann doch niemand von uns wollen, dass ausländische Kinder ihre religiöse und kulturelle Sozialisation in Koranschulen erfahren. Eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft muss alles tun, um Parallelgesellschaften zu verhindern. Wo der Eindruck entsteht, dass über eine instrumentalisierte religiöse Bildung kulturelle Abgrenzungsversuche erfolgen, muss dem entgegengesteuert werden.

Jene Gruppen, die einen solchen Unterricht in Baden-Württemberg beantragt haben, arbeiten nun schon seit einigen Jahren mit meinem Haus und einigen Experten in einer Arbeitsgruppe. Wer daran die ganze Zeit teilgenommen hat, weiß, auf welch kompliziertem Terrain wir uns befinden. Das, was wir da erlebt haben, ist eben auch ein Stück Realität: Auch da, wo fünf Antragsteller wollen, dass etwas herauskommt, stellen sie fest, dass die Unterschiede und Differenzen im Laufe der Debatte zunächst einmal immer größer werden.

Nirgends in Deutschland konnte deshalb bislang ein Konzept entwickelt werden, das bei den islamischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf Konsens stößt. Deshalb werden wir auch in dieser Frage viel Geduld brauchen, um zu tragfähigen Konsensen zu kommen, aber wir werden unsere Bemühungen in dieser Sache fortsetzen.

Das dritte Thema ist vom Kollegen Kretschmann angesprochen worden. Im Alltag unserer Schulen spielen Sportunter

richt, Schwimmunterricht, Klassenfahrten eine große Rolle. Wir haben dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts entsprochen: Es gibt in Baden-Württemberg ab der siebten Klasse keinen koedukativen Sportunterricht; der Sportunterricht ist nach Geschlechtern getrennt. Dann können wir aber auch erwarten, dass Schülerinnen nicht abgemeldet werden, und wir müssen darauf bestehen, dass sie am Schwimmunterricht teilnehmen.

Wenn Sie sagen, das seien alles ungelöste Probleme, sage ich Ihnen aber auch: Das ist ein bisschen ungerecht den Schulen gegenüber. Die Schulen haben eine klare Vorgabe. Die Schulen bemühen sich darum, dass diese Vorgabe eingehalten wird. Sie verhandeln mit den Eltern, die ihre Kinder abmelden wollen. Aber ich sage Ihnen: Wenn wir den ersten Prozess über diese Frage eröffnen, dann bin ich auch wieder gespannt, wer alles freudig diesen Prozess begrüßt und sagt: Wunderbar, dass wir mit Eltern vor Gericht gehen, die ihre Kinder vom Sportunterricht oder Schwimmunterricht abmelden. Ich will damit sagen: Ich bin der Meinung, dass der Bezug auf die Religionsfreiheit nicht zu Rissen in der Rechtsordnung führen darf, auch nicht im Hinblick auf das Schulgesetz,

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Noll FDP/DVP)

und dass wir darauf bestehen müssen, dass es aber gleichzeitig in der Realität in der Schule vor Ort immer wieder auch vorkommen wird, dass versucht wird, die Dinge über das Gespräch, den Dialog, die Verhandlung zu lösen, und das nicht immer gelingt.

Ich bin davon überzeugt, dass wir Toleranz nicht mit Ignoranz verwechseln dürfen und dass nicht unter Angabe – noch einmal gesagt – religiöser Gründe kulturelle Abgrenzung durchgesetzt wird, die zum Schaden von muslimischen Schülerinnen und Schülern führt. Wir müssen auf der Einhaltung der Rechtsordnung bestehen. Die Auslegung der Religionsfreiheit kann nicht so weit gehen, dass sie in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu Rissen in der Rechtsordnung führt. Zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört auch, Grenzen zum Schutz ebendieser Freiheit zu setzen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Ab- geordneten der SPD und des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Letzter Punkt zu dieser Frage der Integration und zu der Frage, was wir tun, um Integration zu fördern: Natürlich haben wir auch längst in unseren Schulen Regelungen, die Rücksicht nehmen auf die Glaubenspraxis religiöser Minderheiten. Deshalb ist in der Schulbesuchsordnung von Baden-Württemberg festgelegt, dass muslimische Schülerinnen und Schüler am Fest des Fastenbrechens oder am Opferfest aufgrund eines schriftlich zu stellenden Antrags für einen Tag beurlaubt werden. Niemand darf wegen seines Glaubens benachteiligt werden. Das heißt auch, wir achten die religiösen Festtage unserer muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir geben den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit, diese Feste zu feiern. Das halte ich auch für richtig, weil alle berechtigte Furcht vor einem politischen Islamismus und die berechtigte Ablehnung kultureller

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Abgrenzung uns nicht zu einer generellen Ablehnung des Islam als Religion verführen dürfen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Ab- geordneten der SPD)

Das setzt aber auch vertrauensbildende Maßnahmen aufseiten des Islam voraus. Wo bleiben denn die eindeutigen Zeichen der Ablehnung von Gewalttaten, zum Beispiel des Anschlags in Madrid, seitens muslimischer geistlicher Führer?

(Abg. Kiefl CDU: Sehr richtig!)

Wo bleibt die klare Distanzierung gegenüber Gewalt? Auch das gehört zum Thema Integration.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Pfister FDP/DVP und Kretschmann GRÜNE)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Gesetzentwurf heute verabschieden, dann haben wir die vom Bundesverfassungsgericht geforderte gesetzliche Grundlage geschaffen.

Damit ist unsere Arbeit nicht beendet. Wir müssen mehr tun; wir müssen all jene Kräfte und Initiativen tatkräftig unterstützen, die sich um eine Verständigung zwischen Kulturen und Religionen bemühen. Wir müssen diesen Dialog fördern. Das wird nur dann gehen, wenn wir uns auch um die Vergewisserung unserer eigenen kulturellen Grundlagen und ihrer religiösen Wurzeln bemühen. Sie gehören zentral zu dem, was eine Gesellschaft zusammenhält.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Sie gehören zu dem, was Orientierung stiftet und Halt gibt.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig!)

Wir dürfen nicht zulassen, dass Deutschland international als ein Land gilt, in dem sich der politische Islamismus entfalten kann.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig!)

Wir müssen deutlich machen, dass unser gemeinsames Fundament – das gemeinsame Fundament aller, die in Deutschland leben, unabhängig von kultureller, nationaler und religiöser Herkunft – das Grundgesetz und die Landesverfassungen sind.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Wir dürfen bei allen zu Recht geführten ökonomischen Debatten nicht unsere kulturpolitischen Debatten vernachlässigen, die für die Identität einer Gesellschaft wichtig sind. Wir dürfen vor allem im Dialog mit dem Islam nicht den Eindruck erwecken, unsere Identität alleine über Wohlstand, Konsum und Materialismus zu definieren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Wir dürfen kein geistiges Vakuum entstehen lassen, das unsere Gesellschaft orientierungslos werden lässt. Wir müssen

zu unseren kulturellen und religiösen Traditionen, die Eingang in die Verfassung gefunden haben, wirklich aktiv und offensiv stehen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Wir müssen uns beteiligen an der Debatte über die kulturelle Identität Europas. Diese Debatte steht Europa bevor; das zeigt die Debatte über die EU-Verfassung.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Meine Damen und Herren, ich danke den Fraktionen des hohen Hauses sehr dafür, dass wir in den vergangenen Wochen und Monaten die Debatte mit hoher Sensibilität führen konnten. Wir haben es uns nicht leicht gemacht und den jetzigen Weg nach bestem Wissen und Gewissen gewählt.

Ich bitte Sie, diesem Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes Ihre Zustimmung zu geben.

Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der CDU – Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, unter unseren Gästen auf der Zuhörertribüne gilt mein besonderer Gruß einer Delegation der Kantonsparlamente AppenzellAußerrhoden und Appenzell-Innerrhoden unter Leitung von Herrn Großratspräsident Johann Brülisauer und Herrn Kantonsratspräsident Peter Langenauer. Die Delegation wird begleitet von Herrn Generalkonsul Pius Bucher.

Liebe Kolleginnen und Kollegen aus Appenzell, ich möchte Sie und Herrn Generalkonsul Bucher nochmals offiziell hier im Plenum des Landtags von Baden-Württemberg herzlich begrüßen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und informativen Aufenthalt in unserer Landeshauptstadt.

(Beifall im ganzen Haus)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Kretschmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wenn ich der Mehrheit dieses Hauses Irrtum vorgeworfen habe – das ist ganz ohne Pathos gemeint –, meint das nur, dass wir glauben, dass wir richtig und Sie falsch liegen. Wenn das nicht so wäre, hätte ich unseren Gesetzentwurf ja zurückziehen müssen.