Protocol of the Session on February 5, 2004

Deshalb sage ich: Nicht die hoch begabten Schüler, die vielleicht in der Tat Problemlagen mit sich bringen, müssen integrationsfähig sein,

(Abg. Pfister FDP/DVP: Sehr gut!)

sondern die Schulen müssen so integrationsfähig werden, dass sie auch solche hoch begabten Schüler integrieren und fördern können.

(Beifall bei den Grünen – Zurufe von den Grünen: Sehr richtig!)

Unser Ziel muss also die Qualitätsentwicklung des Unterrichts sein, eines Unterrichts, der differenziert und differenzierend ist, der alle Schülerinnen und Schüler gut fördert und jedem Kind anspruchsvolle Aufgaben stellt.

Nun zur Anlaufstelle: Wir brauchen keine neue Anlaufstelle zu schaffen, denn wir haben bereits an der Universität Ulm eine Anlaufstelle für Hochbegabte. Aber es ist ein Armutszeugnis der Landesregierung – und zwar interdisziplinär bei beiden zuständigen Ministerien –, dass diese Anlaufstelle seit Ende 2002 nicht mehr finanziert wird. Nun sagen Sie, diese Anlaufstelle werde durch Spendenmittel finanziert. Wissen Sie, wie diese Spenden aussehen? Schauen Sie sich einmal die Homepage dieser Anlaufstelle an. Dort erfahren

Sie, dass für die Diagnostik von Kindern 230 € als „Spende“ verlangt werden. Für ein Denktraining für Kinder werden 180 € verlangt. Das heißt, dass ausschließlich Eltern von Kindern, die sich dies finanziell leisten können,

(Zuruf des Abg. Wieser CDU)

solche Angebote in Anspruch nehmen können. Hierbei handelt es sich jedoch um eine Pflichtaufgabe des Landes. Diese Einrichtung muss finanziert werden.

Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Ihrem Antrag werden wir nicht zustimmen. Wir wollen, dass das Institut in Ulm eine interdisziplinäre Forschungsstelle bleibt. Gerade die Vernetzung von Wissenschaft und Forschung an einer Hochschule mit einem Service- und Fortbildungsangebot für Schulen, für Lehrkräfte und für Eltern...

(Glocke der Präsidentin)

Frau Abgeordnete, darf ich Sie bitten, zum Ende zu kommen.

... – ich komme zum Schluss – halten wir für eine gute Variante. Deshalb wollen wir die Finanzierung der Anlaufstelle an der Universität Ulm sicherstellen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen)

Das Wort erhält Frau Ministerin Dr. Schavan.

(Zuruf des Abg. Boris Palmer GRÜNE)

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! In Absprache mit Herrn Kollegen Frankenberg will ich die hier aufgeworfenen Fragen beantworten und auf einige Punkte eingehen. Ich tue das nicht ausschließlich als Kultusministerin des Landes, sondern auch als jemand, der vor seiner politischen Arbeit zehn Jahre hauptberuflich in der Hochbegabtenförderung tätig war.

In Deutschland gilt für den schulischen wie für den gesamten tertiären Bereich ein dezentrales Konzept. Deshalb sagen wir zum Beispiel: Es gibt in Deutschland nicht drei, vier oder fünf Universitäten, auf die man alle Hochbegabten schickt, sondern es gibt Werke in der Trägerschaft großer gesellschaftlicher Gruppen, die hoch begabte Studierende an Universitäten, Fachhochschulen, Berufsakademien und an Kunst- und Musikhochschulen fördern.

Aus dem Förderkonzept – ich beginne bewusst mit dem tertiären Bereich – ergibt sich zugleich das Verständnis von Hochbegabung und übrigens auch das Verständnis von Elitenbildung in Deutschland. Das ist eine Förderung, die neben dem Stipendium auf ein Studium generale konzentriert ist. Oder im kürzesten Satz gesagt: Hochbegabtenförderung ist Biografieförderung, weil diejenigen, die aus ihrem Umgang mit Hochbegabten Erfahrungen haben, wissen, dass herausragende Begabungen in eine Gesamtbiografie inte

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

griert werden müssen. Das ist auch ein Stück Lebenskunst. Darauf ist das Konzept aller Begabtenförderungswerke ausgerichtet.

Im schulischen Bereich sind eigentlich in keinem Bundesland in Deutschland ein Konzept und ein Netzwerk der Begabtenförderung so früh und quer durch alle Regionen und alle Schularten auf den Weg gebracht worden. Ich übertrage das und spreche über die Begabtenförderung im tertiären Bereich. Wer von einem ganzheitlichen und biografischen Ansatz spricht – einem Ansatz, der auch dahin führt, zu sagen: wer von Elitenbildung und -förderung in Deutschland spricht –, der spricht auch von der Förderung von Verantwortungseliten und davon, dass es herausragende Begabungen mit sich bringen sollten – das ist so ähnlich wie beim Satz „Eigentum verpflichtet“ –, bereit zu sein, besondere Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen. So haben wir in Baden-Württemberg von der ersten Klasse an immer den Ansatz vertreten: Der entscheidende Punkt ist eine Begabtenförderung, die sich einerseits auf zusätzliche Möglichkeiten des Lernens, auf ein anderes Tempo und mehr Lernstoff – Sie haben die Stichworte genannt –, aber andererseits genauso auf die Verankerung auch in sozialen Kontexten bezieht, die sicherstellen, dass nicht einseitige Entwicklungen passieren.

In der Literatur über Begabung und Begabtenförderung gibt es – neben immer vorhandenen Abweichungen – einen ziemlichen Konsens darüber, dass Hochbegabung natürlich nicht allein am IQ festgemacht werden kann – das ist immer einer der Tests, die dazugehören –, sondern dass damit weitere Kriterien verbunden sind, nicht zuletzt die Tatsache, dass damit nicht schon die herausragende Begabung in einem Bereich, sondern ein Querschnitt durch alle großen Kompetenzbereiche gemeint ist. Deshalb habe ich eben schon ein bisschen geschmunzelt. Ich kann mich noch an Debatten hier im Haus – übrigens auch an Überschriften in der Zeitung – erinnern, wo die größte Schwachstelle, die Sie bei mir festgestellt hatten, die war, dass ich gut mit Eliten und Hochbegabten kann, dass ich diese wahrgenommen habe und dass ich für sie etwas tue.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Wohl wahr! – Zuruf von der SPD: Es gibt aber mehrere Schwachstel- len!)

Das wurde gleichsam als die sozialpolitische Schwachstelle in der Bildungspolitik angesehen. Deshalb sage ich: Willkommen im Klub!

(Beifall bei der CDU)

Ich finde das Klasse und wirklich gut, weil es unser bildungspolitisches Spektrum erweitert. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Es gelten beide Teile des Satzes: Niemand darf zum Modernisierungsverlierer werden, und niemand soll seine Talente verstecken müssen. Das sind die beiden großen Herausforderungen, vor denen jedes Bildungswesen steht.

Deshalb gibt es in Baden-Württemberg – ich nenne jetzt nur wenige Punkte; sie sind zum Teil auch schon genannt worden – im Bereich der Grundschulen Kinderakademien. Sie sind an vielen Standorten gegründet worden. Es gibt struk

turelle Vorkehrungen – dazu gehört der „Schulanfang auf neuen Wegen“. Der Zeitfaktor spielt eine große Rolle. Es gibt seit 1985 diverse Seminare – ich nenne das Stichwort Freiburg-Seminar. Es gibt ausgesprochene Orte der Begabtenförderung – ich nenne als Beispiel das Schülerforschungszentrum Bad Saulgau. Es gibt Wettbewerbe, Kontakte zwischen Gymnasien und Hochschulen, Gymnasiasten, die bereits während ihrer Schulzeit Vorlesungen und Seminare an einer Universität besuchen.

Was mir ganz wichtig ist: Wir haben in Baden-Württemberg die dezentrale Struktur der Begabtenförderung im Bereich der Schule nie auf Gymnasien konzentriert. Wir haben die Begabtenförderung auf den gesamten Bereich der beruflichen Bildung, wir haben sie quer durch die Schullandschaft ausgeweitet. Das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt im Blick auf das Thema, über das wir ja auch reden, nämlich die Frage der Kopplung von sozialer Herkunft und schulischer Leistung.

Deshalb: Der erste Grundsatz unseres Konzepts zur Begabtenförderung in Baden-Württemberg lautet: Für alle Altersgruppen und quer durch alle Schularten das Netzwerk weiter knüpfen, allerdings aufbauend auf einem schon ausgeprägten Fundament, das von anderen Ländern immer stärker wahrgenommen wird.

(Zuruf des Abg. Schmiedel SPD)

Herr Schmiedel!

(Abg. Schmiedel SPD: Das hat mit der Realität nichts zu tun, Frau Ministerin!)

Das können Sie nachprüfen. Wenn Sie die Ergebnisse der PISA- und der IGLU-Studie nachlesen, werden Sie feststellen, dass der Anteil der Schüler und Schülerinnen in der Spitzengruppe in Baden-Württemberg besonders ausgeprägt ist.

Nun zu der Frage: Warum neben einem Netzwerk ein Schulstandort? Diese Idee ist aus den Beobachtungen vergangener Jahre und auch von Fachleuten entstanden, die sagen, dass es in immer mehr Familien mit hoch begabten Kindern auch soziale Probleme gibt.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja!)

Das heißt, das dezentrale Konzept ist in Ordnung. Es gibt auch überhaupt keine Debatte über die Frage: dezentral oder zentral?

(Abg. Pfister FDP/DVP: Völlig richtig!)

Das wäre Quatsch. Ich behaupte: Für die allermeisten hoch begabten Jugendlichen bedarf es überhaupt nicht eines eigenen Ortes.

(Abg. Pfister FDP/DVP: So ist es!)

Ich behaupte auch: Für einen Hochbegabten ist es wichtig, einen anderen Hochbegabten zu treffen, weil sich dann die eigene Hochbegabung relativiert.

(Zuruf der Abg. Renate Rastätter GRÜNE)

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Also ist überhaupt nur ein kleiner Prozentsatz derer angesprochen, um die es jetzt im Zusammenhang mit der Einrichtung einer Hochbegabtenschule geht.

Ich halte es allerdings auch für eine Frage der Gerechtigkeit, dort, wo Eltern mit ihren Kindern und Kinder mit ihren Eltern Probleme haben, wo man sagt: „Es geht in unserem Kontext nicht mehr“, einen solchen Schulstandort zu ermöglichen. Wir wissen, dass viele Eltern ihre Kinder bislang in eine Schule in einem anderen europäischen Land schicken. Es gab viele Anfragen betroffener Eltern.

Deshalb halte ich es für richtig, dass wir uns jetzt den Erfahrungen auch aus der Begabtenforschung und der Begabtenförderung annehmen und einen solchen Schulstandort schaffen – verbunden mit einem Internat, verbunden mit einem eigenen Begabtenförderkonzept

(Zuruf des Abg. Zeller SPD)

und verbunden mit einem Kompetenzzentrum, das die Möglichkeit bietet, Eltern durch Praktiker, Lehrer und Lehrerinnen, Psychologen, Fachleute zu beraten, zu begleiten, diagnostische Arbeit zu leisten, aber auch Familien zu begleiten, die dies wünschen oder für die dies wichtig ist.

Das Ulmer Zentrum – darauf ist ja in der Stellungnahme zu dem vorliegenden Antrag eingegangen worden – war immer nur für einen begrenzten Zeitraum geplant. Die Entscheidung ist weder vom Kultusministerium noch vom Wissenschaftsministerium getroffen worden. Die Universität selbst hat im Rahmen ihrer Autonomie die Aufgabe dieses Instituts beschlossen. Es war ein ganz kleines Institut, das dem, was jetzt mit dem Kompetenzzentrum verbunden ist, nur in einem Segment entsprach.