Protocol of the Session on November 26, 2003

a) Antrag der Fraktion der SPD und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – (Was sind) Ganztagsschulen in Baden-Württemberg – Drucksache 13/1498

b) Antrag der Fraktion der FDP/DVP und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – Bundesmittel für den Ausbau des Angebots von Ganztagsschulen und Kriterien ihres Einsatzes in Baden-Württemberg – Drucksachen 13/1544, 13/1645 (Berichtigung)

c) Antrag der Fraktion der SPD und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – Ganztagsschulen in Baden-Württemberg – Anträge der Schulen und Schulträger – Drucksache 13/1793

d) Antrag der Fraktion GRÜNE und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – Ausbau von Ganztagsschulen – Umsetzung der Vereinbarung der Länder und des Bundes in Baden-Württemberg – Drucksache 13/2235

e) Antrag der Fraktion der SPD und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – Ausgestaltung des Investitionsprogramms der Bundesregierung für mehr Ganztagsschulen in Baden-Württemberg – Drucksachen 13/2279, 13/2496 (Ergänzende Stellungnahme)

f) Antrag der Fraktion der SPD und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – Geplantes Ganztagsgymnasium und -internat für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd – Drucksache 13/2509

g) Antrag der Fraktion der SPD und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport – Weitere Umsetzung des Investitionsprogramms der Bundesregierung für mehr Ganztagsschulen in BadenWürttemberg – Drucksache 13/2510

Meine Damen und Herren, das Präsidium hat freie Redezeit vorgesehen.

Das Wort erhält Herr Abg. Bayer.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir freuen uns darüber, dass mit dem Investitionsprogramm der Bundesregierung die Ganztagsschulidee endlich auch in Baden-Württemberg langsam richtig Schwung bekommt,

(Beifall bei der SPD)

wenn auch mit einigen Verzögerungen und mit problematischen Einschränkungen, auf die ich nachher noch eingehen werde.

Wir haben festgestellt: Das Handling des Investitionsprogramms in Baden-Württemberg ist insgesamt kein Beleg für ein wirklich überzeugtes Eintreten für Ganztagsschulen. Nach außen präsentieren Sie, Frau Schavan, plötzlich stolz, dass Baden-Württemberg viel Geld verteilt, verschweigen aber dabei, dass das Geld eigentlich vom Bund stammt.

(Abg. Sieber CDU: Was?)

Mehr noch: Intern sind Sie nicht bereit, das Ihre zur Entwicklung der Ganztagsschulidee in Baden-Württemberg zu tun. Darauf werde ich nachher noch im Einzelnen eingehen.

(Beifall bei der SPD)

Wir können jedenfalls keinen Paradigmenwechsel auf der Seite derjenigen feststellen, die für die Bildungspolitik hier im Lande verantwortlich sind. Zumindest habe ich noch kein klares Bekenntnis der Kultusministerin zum Ganztagsprogramm der Bundesregierung vernommen. Skepsis ist angebracht.

Zunächst zum Grundsätzlichen vier Aspekte:

Erstens: Wir brauchen aus pädagogischen Gründen gute Ganztagsschulen. An Ganztagsschulen ist mehr Zeit, unter anderem für neue Unterrichtsmethoden jenseits des herkömmlichen 45-Minuten-Takts. Es gibt einen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen individuellem Lernen und Arbeiten im Team. Dieses Lernen umfasst auch Sport, Musik, Angebote der Kinder- und Jugendhilfe,

soziales Engagement und vieles mehr – eben eine Lehr- und Lernkultur, in der die Kinder durch die Vielfalt der Angebote in der Schule wichtige Erfahrungen machen und ihre Fähigkeiten erproben und erleben können.

Ganztagsschulen eröffnen die Chance, den ganzen Menschen zu fördern. Es geht um die Weiterentwicklung und die Verbesserung der Qualität von Unterricht und Schule.

(Beifall bei der SPD)

Es geht um ein Lernen mit Kopf, Herz und Hand, wie es bereits Pestalozzi gefordert hat. Das, meine Damen und Herren, ist eine völlig andere Ganztagsschulphilosophie als die der Landesregierung, die eine Notwendigkeit von Ganztagsschulen, wenn überhaupt, nur in sozialen Brennpunkten sieht.

Zweitens: Wir brauchen aus familienpolitischen Gründen gute Ganztagsschulen. In den meisten europäischen Ländern ist es ein selbstverständliches Anliegen, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. In Deutschland ist das noch immer ein Balanceakt. Ganztagsschulen nehmen diesen Bedarf ernst. Sie gewährleisten die optimale Förderung, Betreuung und Versorgung der Kinder und ermöglichen erst dadurch eine Berufstätigkeit der Eltern ohne deren schlechtes Gewissen, weil diese Eltern wissen, dass ihre Kinder nicht nur gut aufgehoben sind, sondern vielmehr eine ausgezeichnete, differenzierte Förderung und Anregung erfahren.

Ganztagsschulen können und wollen dabei den Rückhalt in den Familien nicht ersetzen. Sie ergänzen sinnvoll das Familienleben.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es! Richtig!)

Natürlich gibt es auch Eltern, die mit der Erziehung ihrer Kinder punktuell oder grundsätzlich überfordert sind. Aus diesen Gründen wünschen sie sich für ihre Kinder mehr und gezieltere Angebote und eine Förderung und Hilfe, die sie selbst nicht oder nicht mehr geben können. Viele Eltern brauchen aber auch ganz einfach kinderfreie Zeit, um ihrem Beruf nachgehen zu können.

Die Zahlen kommen nicht von ungefähr, meine Damen und Herren. Nach einer neuen Forsa-Umfrage wünschen sich 80 % der deutschen Bevölkerung ein flächendeckendes Netz von Ganztagsschulen. Daher ist es ausgemachter Quatsch oder ideologisch begründete Borniertheit, wenn hier in diesem Hause verkündet wird – wie vor einigen Monaten geschehen –, dass mit der Einrichtung von Ganztagsschulen den Eltern Rechte entzogen werden sollten.

(Beifall bei der SPD – Abg. Schmiedel SPD: So ein Quatsch! Wer sagt denn so etwas? – Abg. Dr. Caroli SPD: Unglaublich!)

Drittens: Wir brauchen aus ökonomischen Gründen gute Ganztagsschulen. Sie alle kennen die vielfältigen Signale aus der Wirtschaft, auch die Position der Unternehmensberatung McKinsey. Alle weisen deutlich auf die ökonomischen Vorteile von ausreichender Erziehung, Bildung und Betreuung, auf den Standortvorteil, den Gemeinden mit ganztägigen Betreuungsangeboten haben, und auf die Notwendigkeit, die Frauen der am besten ausgebildeten Frauen

generation als Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben, hin. Nicht von ungefähr fordert selbst die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, dass 20 % der Schulen Ganztagsschulen werden sollen, ganz einfach deshalb, weil sich die Unternehmen heutzutage das Potenzial, die Ideen, die Kreativität und die Erfahrung der Frauen für die Arbeitswelt nicht entgehen lassen können und wollen.

(Beifall bei der SPD)

Viertens: Gute Ganztagsschulen brauchen wir auch aus gesellschaftspolitischen Gründen. Die Welt verändert sich rasend, Anforderungen wachsen, Kernsätze, die gestern noch galten – „Familie erzieht, Freizeit erfreut, Beruf ernährt“ –, stimmen heute nicht mehr. Wenn sich die gesellschaftlichen Koordinaten so verschieben und sich die Lebensbedingungen so verändern, dann können Schulen als Vorbereiter auf die Welt nicht dieselben bleiben.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Jawohl!)

Die bei der PISA-Studie erfolgreichen Länder zeigen eines ganz eindeutig: Sie haben eine lange und kontinuierliche Modernisierungsgeschichte ihres Schulwesens hinter sich.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: So ist es!)

In vielen Ländern, auch und vor allem in Europa, versteht man überhaupt nicht, warum wir so sehr am Halbtagssystem festhalten.

(Abg. Schmiedel SPD: Das versteht man hier auch nicht!)

In den PISA-Siegerländern bedeutet Schule ganz selbstverständlich, dass Schülerinnen und Schüler in der Schule ein Mittagessen bekommen und auch am Nachmittag individuell betreut werden.

(Abg. Röhm CDU: Deutlich weniger!)

Aus all diesen Gründen brauchen wir mehr gute Ganztagsschulen mit pädagogischen Konzepten, und zwar nicht nur reduziert auf ihre reine Betreuungsfunktion. Ansonsten hätten nämlich die Kritiker Recht, die von „Aufbewahrungsstätten mit Abfütterung“ sprechen. Das kann niemand wollen.

(Beifall bei der SPD)

Im Gegenteil, Ganztagsschulen müssen umfassende Lernund Lebensräume werden.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr richtig!)

In dieser Erkenntnis hat die Bundesregierung das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ aufgelegt.

(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Und wer zahlt die Folgekosten?)

Ich komme noch darauf. – Mit einem Gesamtvolumen von 4 Milliarden € ist es eines der größten Bildungsprogramme, die es jemals in Deutschland gab.

(Abg. Schmiedel SPD: Genau! – Zuruf des Abg. Dr. Caroli SPD)

Es ist gut, dass Baden-Württemberg so sehr von diesem Ganztagsschulprogramm profitiert.

(Zuruf des Abg. Röhm CDU)

528 Millionen € sind nicht nur ein Geldsegen zur Ankurbelung der Wirtschaft, sondern tragen auch zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei.