Die Überlegungen sind in einer Modellphase. Das ist sicher schwierig wie immer, wenn man neue Wege geht. Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass wir damit über die Modellphase hinaus, die ja wissenschaftlich begleitet wird, einen wirklichen Paradigmenwechsel im Bereich der Behindertenhilfe erreichen.
Fazit: Das Land ist und war ein verlässlicher Partner für Menschen mit Behinderungen und wird es bleiben. Ich freue mich – ich glaube, mit Ihnen allen zusammen –, dass wir das mit dem Tag der behinderten Menschen im Parlament dokumentieren wollen und können. Ich hoffe sehr, dass Menschen mit Behinderungen über das Jahr 2003 hinaus – es soll ja in der Bevölkerung Bewusstsein für die Probleme von Menschen mit Behinderungen schaffen – mittendrin in unserer Gesellschaft und nicht außen vor bleiben.
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen bietet in der Tat einen guten Anlass, um über die aktuelle Situation behinder
ter Menschen auch hier in Baden-Württemberg zu diskutieren. 1 Million Menschen in Baden-Württemberg, also fast jeder Zehnte, sind von einer Behinderung betroffen; davon sind 70 % schwerbehindert. Die Zahl ist in den letzten zehn Jahren um 10 % gestiegen und wird sich in den kommenden Jahren weiter erhöhen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es gehört: Die Behindertenpolitik ist kein Randbereich des politischen Handelns, sondern eine soziale und bürgerrechtliche Politik für alle. Behindertenpolitik ist eine gesamtgesellschaftspolitische Gestaltungsaufgabe.
So weit sind wir uns, denke ich, alle einig. Die Unterschiede fangen an bei der Umsetzung dieser Politik. Das Sozialministerium führt in der Antwort auf die Große Anfrage aus, dass mit dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen vor allem für die Rechte dieser Menschen sensibilisiert und die Diskussion über Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit vorangetrieben werden soll.
Das ist mir zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir sind ja hier kein Debattierklub, sondern wir sind auch in der Verantwortung, über Maßnahmen nicht nur zu diskutieren, sondern Maßnahmen auch zu beschließen und Entscheidungen zu treffen.
Hier setzt meine Kritik an. Ich denke, es ist nicht meine Aufgabe, hier die Regierung zu loben; dafür ist auch die Zeit zu kurz.
Wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, was den Menschen mit Behinderungen heute viel mehr gebracht hätte als eine Diskussion über Behindertenpolitik? Den Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg hätte es viel mehr gebracht, wenn wir heute endlich das Landesgleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen verabschiedet hätten.
Am 1. Mai 2002 ist das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz wurde in der Behindertenpolitik erstmals ein Paradigmenwechsel erreicht. Behinderte Menschen sind nicht mehr Objekt staatlichen Handelns, sondern nehmen als Expertinnen und Experten in eigener Sache ihre Rechte selbstbewusst wahr.
Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen setzt Maßstäbe im Bereich der Barrierefreiheit. Gemeint ist da
mit nicht nur die Beseitigung räumlicher Barrieren, sondern auch der ungehinderte Zugang zu elektronischen Medien. Das Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen setzt auch einen Maßstab für die Bundesländer.
Wir hätten erwartet, dass sich das Land Baden-Württemberg mit dem gleichen Schwung wie der Bund und mit dem gleichen Geist der Zusammenarbeit mit den betroffenen Expertinnen und Experten daranmacht, ein Landesgleichstellungsgesetz zu erarbeiten, um die Chancengleichheit für Menschen mit und für Menschen ohne Behinderung in Baden-Württemberg umzusetzen. Ich fordere die Landesregierung auf, den seit über einem Jahr versprochenen Gesetzentwurf endlich vorzulegen, sonst sind die Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg nicht mittendrin, sondern außen vor.
Wichtig bei der Diskussion ist auch ausdrücklich, den Blick auf die besonderen Lebenslagen von behinderten Mädchen und jungen Frauen zu richten. Denn für junge Frauen und Mädchen stellt eine Behinderung eine besondere Benachteiligung dar. Es ist einfach nicht bekannt, dass behinderte Männer und Frauen unterschiedliche Bedürfnisse, unterschiedliche Fähigkeiten und Wünsche haben. Vor allem in den Bereichen Ausbildung und Beruf sind gravierende Defizite für Mädchen und junge Frauen festzustellen.
Sowohl im neuen SGB IX als auch im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes sind die Belange behinderter Frauen verankert. Dies muss sich auch im Landesgleichstellungsgesetz widerspiegeln.
Weiterhin muss das Landesgleichstellungsgesetz auch die Überarbeitung der Gesetze beinhalten, für die das Land Kompetenzen besitzt, zum Beispiel in den Bereichen Verkehr, Schule und Baurecht.
Lassen Sie mich noch einen Satz zum Baurecht sagen. Es zeugt wirklich von Ignoranz, wenn Ministerpräsident Teufel im Rahmen seiner 110 Vorschläge zur Entbürokratisierung das Kind mit dem Bade ausschüttet und unter dem Motto Entbürokratisierung die Vorschriften für das barrierefreie Bauen lockern will. Da muss ich mich ausnahmsweise einmal den Worten von Wirtschaftsminister Döring anschließen, der dazu gesagt hat: „Ein bisschen mehr Sachverstand ist oft kein Schaden.“
Als nächsten Punkt möchte ich noch die Entwicklung der Eingliederungshilfen ansprechen. Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nur durch eine große Solidargemeinschaft finanziell getragen werden kann. Das heißt, daran müssen sich alle Seiten – die Kommunen, das Land und der Bund – beteiligen.
Die Eingliederungshilfe ist aufgrund der Differenziertheit und der Überregionalität des Hilfsangebots auf Landesebene bisher bei den Landeswohlfahrtsverbänden angesiedelt,
und das ist sehr gut so. Eine qualitativ weiterhin gute Betreuung behinderter Menschen bei einer aufgrund der demographischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts in den nächsten zehn Jahren deutlich ansteigenden Zahl von Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfängern und bei begrenzten kommunalen Finanzen kann nur mit einer gemeinsamen Strategie aller Beteiligten bewältigt werden.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der Abg. Heike Dederer GRÜNE – Abg. Wieser CDU: Sehr gut! – Abg. Dr. Lasotta CDU: Wohl gespro- chen!)
Mit einer Verlagerung der LWV-Aufgaben auf die Stadtund Landkreise, wie sie jetzt im Zuge der Verwaltungsreform vorgeschlagen wurde, können die Probleme nicht gelöst werden. Wir begrüßen eine Reform und eine Weiterentwicklung der Strukturen der Behindertenhilfe, sehen aber beim derzeitigen Stand der Diskussion nicht, wie durch eine Auflösung der beiden LWVs und deren Eingliederung in die Stadt- und Landkreise eine effizientere und schlankere Verwaltung und damit eine Kosteneinsparung entstehen sollen. Im Gegenteil, es werden Doppelstrukturen aufgebaut, und das Ganze wird bürokratischer und teurer.
Frau Dr. Gräßle, es ist nicht egal, in welche Richtung die Entwicklung bei der Behindertenpolitik in Baden-Württemberg geht.
Ich möchte Ihnen die Antwort des Gemeindetags zu unserem Fraktionsantrag zur geplanten Auflösung der LWVs zitieren. Die entsprechende Drucksache liegt leider noch nicht vor, weil die Landesregierung zur Stellungnahme ungefähr zweieinhalb Monate braucht. Die Stellungnahme wird also erst bis zum 31. Oktober vorgelegt.
Es ging darum, die Effizienz der beiden geplanten Organisationsvarianten, also des Eingliederungsmodells und des Fusionsmodells, durch ein externes Gutachten untersuchen zu lassen, um die Synergieeffekte darzulegen. Dies wurde von den Ministerien abgelehnt, die sich im Vorfeld schon auf das Eingliederungsmodell verständigt hatten, obwohl entsprechende Einschätzungen beider LWVs vorlagen, die darauf hingewiesen haben, dass eine Eingliederung der Aufgaben in die Stadt- und Landkreise deutliche Synergieverluste zur Folge hätte.
Um die Gleichbehandlung und die Verhinderung eines Versorgungsgefälles innerhalb des Landes Baden-Württemberg zu erreichen sowie um Qualität und Mindeststandards zu gewährleisten, müssen aus Sicht des Gemeindetags zentrale Elemente gegeben sein, die im favorisierten Eingliederungsmodell praktisch nicht vorhanden sind. Deshalb lautet
unsere Forderung: Diskutieren Sie beide Modelle. Für uns ist das Fusionsmodell noch lange nicht vom Tisch. Diskutieren Sie außerdem die Eckpunkte der Reform im Dialog mit allen Beteiligten, auch mit den Vertreterinnen und Vertretern der behinderten Menschen, damit nicht ausgerechnet im Europäischen Jahr für Menschen mit Behinderungen hier im Land Baden-Württemberg eine Verwaltungsreform auf dem Rücken der behinderten Menschen ausgetragen wird.
(Die Rednerin hustet. – Abg. Dr. Lasotta CDU: Der Herr Schebesta ist gerade unterwegs! – Abg. Sche- besta CDU reicht der Rednerin ein Glas Wasser. – Abg. Schebesta CDU: Mehr ist leider nicht hinten!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich uns alle dazu auffordern, daran mitzuwirken, dass das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen neue, kraftvolle Impulse bringt. Wir sollten uns nicht nur auf schöne Reden hier im Plenarsaal – vorhin wurde ja schon von „Sonntagsreden“ gesprochen – oder auf einen einmaligen „Tag der Behinderten“ in jeder Legislaturperiode im Landtag beschränken.