Protocol of the Session on January 31, 2002

(Abg. Teßmer SPD: Alte Kamellen! Abg. Dr. Lasotta CDU: Das ändert sich laufend!)

Täglich ändert sich das.

Meine Damen und Herren, auch das ist eine Bestätigung der Richtigkeit unseres Kurses. Wenn Herr Kollege Dr. Salomon in seiner gestrigen Haushaltsrede für den Kraftakt der Schaffung zusätzlicher Lehrerstellen in den Jahren des Doppelhaushalts 2002/03 und nach klarer Festlegung dieser Koalition darüber hinaus seine ausdrückliche Anerkennung ausgesprochen hat, so hat er schlichtweg damit Recht.

Meine Damen und Herren, die Daten bezüglich der Schaffung zusätzlicher Lehrerstellen sind hinlänglich oft genannt worden. Ich muss und will Sie damit nicht erneut traktieren. Diese Daten belegen, dass wir das Mögliche und Erforderliche getan haben, um auch künftig eine angemessene und gute Unterrichtsversorgung zu gewährleisten, und zwar vor dem Hintergrund weiter wachsender Schülerzahlen das ist richtig, Herr Zeller sowie neuer Aufgaben für die Schule einerseits, aber auch vor dem Hintergrund

der unumgänglichen Erfordernisse der Konsolidierung unseres Haushalts andererseits.

Sicherung der Unterrichtsversorgung ist übrigens keineswegs allein eine Frage von Lehrerstellen und finanziellen Mitteln.

(Abg. Seimetz CDU: So ist es!)

Wir gewährleisten sie auch durch die Fortführung der Springerreserve für Krankheitsvertretungen, und wir gewährleisten die Unterrichtsversorgung nicht zuletzt durch intelligente Lösungen bei der Lehrereinstellung wie etwa der vorgezogenen Einstellung von Bindungslehrern oder im Bereich der beruflichen Schulen mit der Erleichterung des Quereinstiegs. Beides sind sinnvolle Reaktionen auf einen knapper werdenden Lehrerarbeitsmarkt.

Aber all dies hat natürlich seinen Preis. Die Dimension des finanziellen Kraftakts in haushaltspolitisch extrem schwieriger Zeit lässt sich an einem Wert ablesen, meine Damen und Herren. Der Anteil der Bildungsausgaben, ohne Hochschule, an den Gesamtausgaben des Landes steigt im Doppelhaushalt 2002/03 auf über 20 %. Falls sich jemand nicht mehr daran erinnert: Im letzten Jahr der großen Koalition von CDU und SPD lag er gerade einmal bei 14 %.

Dass Bildungspolitik in Baden-Württemberg Priorität hat, lässt sich freilich auch qualitativ und inhaltlich belegen. Schule, die erstarrt, ist keine gute Schule. Schule in BadenWürttemberg ist in Bewegung, und zwar in der richtigen Richtung. Das ist zum einen das Verdienst engagierter Lehrerinnen und Lehrer, die sich neuen Anforderungen stellen, Gestaltungsspielräume nutzen und sich aktiv an der Schulentwicklung beteiligen. Das hat aber zum anderen auch die Setzung der richtigen bildungspolitischen Rahmenbedingungen und Impulse als Voraussetzung. Hinsichtlich der erforderlichen Maßnahmen im Bereich der Betreuung habe ich solche bereits angesprochen.

(Abg. Wintruff SPD: Was sagen Sie zu den Musik- schulen?)

Dass Baden-Württemberg darüber hinaus im schulischen Bereich neue Impulse setzt, neue Konzepte entwickelt und umsetzt, will ich abschließend hervorheben. Dazu gehört die Ausweitung der eigenverantwortlich zu gestaltenden Handlungsspielräume der Schule mit einem eigenen Pilotprojekt im Bereich der beruflichen Schulen. Dazu gehören das Impulsprojekt zur Weiterentwicklung der Hauptschule sowie die Maßnahmen zur Modernisierung der Realschulen, wie etwa mit dem Projektbereich „Wirtschaften, Verwalten und Recht“ oder der Einführung bilingualen Unterrichts an mehr als 100 Realschulen. Dazu gehört die Reform der gymnasialen Oberstufe, deren Stärkung der Kernfächer wir immer begrüßt haben, sowie die Einführung des generell achtjährigen Gymnasiums, die wir lange gefordert haben. Dazu gehören die Maßnahmen des „Schulanfangs auf neuen Wegen“ für die Grundschule, die eine Reduzierung der objektiv in diesem Maß unbegründeten Zurückstellungen vom Schulbesuch in Höhe von zuletzt 10 % auf das sinnvolle Maß bewirkt haben und auch durch die Flexibilisierung der Einschulung zu einer Herabsetzung des durchschnittlichen tatsächlichen Einschulungsalters geführt haben. Auch und gerade hier ich will noch einmal daran

erinnern lässt PISA herzlich grüßen. Dazu gehört nicht zuletzt die eingeleitete flächendeckende Einführung der Grundschulfremdsprache, die über die unmittelbar praktischen Verwendungsaspekte und damit auch beruflichen Aspekte hinaus eine Ausweitung der grundlegenden Bildungsinhalte für alle Schülerinnen und Schüler bedeutet.

Die anhaltenden Proteste von Elternseite gegen die Einführung des Grundschulfranzösisch an der so genannten Rheinschiene erreichen natürlich auch uns Parlamentarier. Jetzt, da es wirklich praktisch zu werden beginnt, scheint sogar eine neuerliche Welle dieser Proteste bevorzustehen. Ich will daher an dieser Stelle klar sagen: Am vielfach begründeten Sinn, die Sprache des Nachbarn zu erlernen, gibt es für uns keinerlei Zweifel. Ob es nicht vielleicht gar grundsätzlich besser ist, mit einer Sprache wie zum Beispiel Englisch zu beginnen, mag dahingestellt sein. Richtig ist in jedem Fall, dass der Beginn mit Französisch den Erwerb der Weltsprache Englisch grundsätzlich nicht verbaut. Unabhängig davon hätten und hatten wir uns gewünscht, mit der flächendeckenden Einführung der Grundschulfremdsprache auch die Möglichkeit der Wahl durch die Eltern zu eröffnen. Aber hier sind uns finanziell die Hände gebunden.

Der in diesem Zusammenhang vom Landeselternbeirat unterstrichenen Forderung nach Fortführung der Grundschulfremdsprache auch in der Haupt- und in der Realschule ist in der Konzeption für die flächendeckende Einführung der Grundschulfremdsprache Rechnung getragen worden.

Meine Damen und Herren, dies sind nur einige Beispiele, die ich auch der Opposition nennen möchte. Ich appelliere an Sie, sich vor dem skizzierten Hintergrund offensiv für diese Konzepte einzusetzen und hinsichtlich der zweifellos noch erforderlichen Informations- und Überzeugungsarbeit der Eltern vor Ort einen konstruktiven Beitrag zu leisten.

Meine Damen und Herren, nicht nur das Beispiel der Einführung der Grundschulfremdsprache zeigt: Die Bildungspolitik unseres Landes ist für die vor uns liegenden Aufgaben gut gerüstet. Die darin liegenden Herausforderungen werden wir in konstruktiver Auseinandersetzung bewältigen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU Abg. Wintruff SPD: Was sagt die FDP zur Musikschu- le?)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Rastätter.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Wie Sie schon bei meinen Vorrednern festgestellt haben, bewegt uns immer noch das Thema PISA. Auch ich werde natürlich bei meinen Ausführungen zum Doppelhaushalt auf die PISA-Ergebnisse eingehen.

Die Ergebnisse sind nicht neu. Wir hatten schon in den Jahren zuvor von der OECD durchgeführte internationale Vergleichsstudien. Aber jetzt, nachdem wir die Ergebnisse von drei Kompetenzbereichen auf einmal vorliegen haben,

sind diese Ergebnisse für unser deutsches Bildungswesen schlicht und ergreifend erdrückend. Manche sagen bereits, wir seien eigentlich gar nicht so schlecht, wir lägen doch im unteren Mittelfeld. Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen uns nichts vormachen. Unsere Referenzländer sind nicht Länder wie Mexiko, Russland oder Griechenland, nein, die richtigen Referenzländer für uns sind hoch entwickelte Industriestaaten weltweit, wie zum Beispiel Neuseeland, Australien, Kanada oder die mitteleuropäischen Staaten. Und da sind wir ganz eindeutig Schlusslicht.

Die TIMSS-Studie, deren Ergebnisse wir bereits seit einigen Jahren kennen, hat uns schon Warnsignale gegeben, aber außer der Einrichtung von einigen Bund-Länder-Modellversuchen zur Steigerung der Effizienz des naturwissenschaftlich-mathematischen Unterrichts, an denen übrigens auch baden-württembergische Schulen teilnehmen, ist nicht viel passiert. Aber jetzt haben wir keine Alternative mehr. PISA muss als Chance begriffen werden.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr richtig!)

Die tief greifende Irritation, die wir doch alle empfinden, kommt in der Frage zum Ausdruck: Wieso sind wir als traditionelles Bildungsland, als Kulturnation nicht imstande, bei unseren Schülern die Potenziale, die Leistungen in gleicher Weise zu fördern wie andere erfolgreiche Länder? Diese Irritation, meine Damen und Herren, darf nicht verdrängt werden, sondern wir müssen uns ihr stellen und die tiefer gehenden Ursachen und Zusammenhänge dafür untersuchen.

(Beifall bei den Grünen Abg. Heike Dederer GRÜNE: Sehr richtig!)

Denn nur dann, wenn wir den Blick nicht verengen, sondern die kulturellen Voraussetzungen für Leistung und Lernen in unserer Gesellschaft berücksichtigen, wenn wir die Grundannahmen unseres Bildungswesens mit in den Blick nehmen, können wir die nachhaltigen Reformprozesse einleiten, durch die unsere Schülerinnen und Schüler die gleichen Möglichkeiten bekommen, die sie anderswo haben.

(Abg. Dr. Lasotta CDU: Und die Kinder fordern!)

Natürlich fordern, das ist doch klar. Das, was da ist, muss auch entwickelt werden. Da gebe ich Ihnen völlig Recht.

Eines will ich gleich an dieser Stelle zu Frau Kultusministerin Schavan sagen ich gebe ihr nämlich in diesem Punkt völlig Recht :

(Demonstrativer Beifall bei der CDU)

Das Thema PISA geht uns alle an. Es geht alle Bundesländer an. Alle sind betroffen. Niemand kann sich herausreden. Selbst wenn es graduelle Unterschiede im Ländervergleich gibt, darf das kein Grund sein, uns nicht mit den tief gehenden Ursachen zu befassen.

(Beifall bei den Grünen Abg. Dr. Lasotta CDU: Also gehen Sie davon aus, dass Baden-Württem- berg im Ländervergleich besser abschneidet!)

(Renate Raststätter)

Ich bin keine Prophetin, und ich warte das Länderergebnis genauso wie meine Ministerin in aller Ruhe ab.

(Heiterkeit Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP/DVP Abg. Kleinmann FDP/DVP: „Mei- ne“ Ministerin! Abg. Seimetz CDU: Sehr gut, Frau Rastätter!)

Nebenbei bemerkt: Sie ist meine oberste Dienstherrin, denn ich bin beurlaubte Lehrerin.

(Heiterkeit Beifall der Abg. Boris Palmer GRÜ- NE und Dr. Lasotta CDU Abg. Dr. Lasotta CDU: Bravo! Abg. Kleinmann FDP/DVP: Was denn noch alles?)

Aus der Fülle der Fragen, die sich uns stellen, möchte ich jetzt nur drei exemplarisch nennen.

Erstens: Wie kann die Koppelung von sozialer Herkunft und Leistung verändert werden? Denn es kann uns nicht egal sein,

(Abg. Heike Dederer GRÜNE zur CDU: Zuhören!)

dass Kinder aus akademisch vorgebildeten Elternhäusern eine dreimal so hohe Chance haben, höherwertige Bildungsabschlüsse zu erreichen.

Zweitens: Wie kann die große Diskrepanz zwischen den Leistungserwartungen, wie sie in unseren Bildungsplänen festgelegt sind und wie sie auch die Lehrkräfte haben, und den tatsächlichen Leistungserträgen überwunden werden? Diese Diskrepanz ist übrigens bei uns so groß wie in keinem anderen Land. Nach der Erwartung der Lehrkräfte an den Gymnasien zum Beispiel müssten alle unsere Gymnasiasten in der obersten Kompetenzstufe 5 sein. Fakt ist aber, dass wir tatsächlich nur eine sehr kleine Spitzengruppe haben.

(Abg. Teßmer SPD: Da brauchen Sie aber jetzt nicht nach rechts zu gucken!)

Drittens: Wie kann der Unterricht so verbessert werden, dass der in Deutschland in den weiterführenden Schulen sich hartnäckig haltende, fragend-entwickelnde Unterricht verändert wird? Denn diese Unterrichtsform unterfordert unsere Schüler, verhindert kreatives Lernen und führt zu Erschöpfungszuständen bei Lehrkräften, denn dieser Unterricht ist extrem anstrengend und wird auch der pädagogischen Kompetenz unserer Lehrkräfte nicht gerecht.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Was muss dazu an der Lehrerausbildung verändert werden? Wie muss die Fortbildung der Lehrkräfte verändert werden?

Meine Damen und Herren, es gibt Handlungsfelder, wo bereits Begonnenes fortgesetzt werden kann und wo neue Entwicklungen in Gang gesetzt werden müssen. Dazu haben wir Grünen Anträge zu diesem Haushalt eingebracht. Heute stehen fünf Anträge zur Abstimmung. Ich möchte diese kurz auch im Kontext von PISA begründen.

Erstens: Niemand bezweifelt, dass der frühen Sprachentwicklung und Sprachkompetenz der Kinder die allergrößte

Bedeutung zukommt. Jürgen Baumert, der Direktor des Max-Planck-Instituts in Berlin und der Leiter der deutschen PISA-Studie, sagt ganz klar: Wir differenzieren früh in unterschiedliche Bildungsgänge, aber wir gehen mit den Folgen nicht intelligent um. Das heißt, wer früh selektiert, muss im vorschulischen Bereich und in der Grundschule mehr investieren. Von den frühen Angeboten profitieren insbesondere die Kinder, die herkunftsbedingte Nachteile haben. Das sind ausländische Kinder, das sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien, das sind aber auch sehr leistungsfähige Kinder, die nicht genügend „Futter“ im vorschulischen und im Grundschulbereich bekommen. Deshalb sagen wir Grünen, und wir sagen es nicht zum ersten Mal: Die Grundschule braucht mehr Zeit und mehr Ressourcen. Wir müssen jetzt Nägel mit Köpfen machen und in Baden-Württemberg endlich eine echte Halbtagsgrundschule von fünf Zeitstunden mit einer Öffnungszeit von fünfeinhalb Stunden für alle Kinder einrichten.