Protocol of the Session on December 13, 2001

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Zweiter Punkt: 15-jährige Schüler und Schülerinnen in Deutschland sind weit überdurchschnittlich nicht in Klasse 10, sondern zu 60 % in Klasse 9 und zu 21 %, glaube ich, erst in Klasse 8. Das unterscheidet uns massiv von den allermeisten anderen Ländern.

(Abg. Pfister FDP/DVP: Stimmt leider! Ist empi- risch belegt!)

Auf Anfrage an die Autoren des Max-Planck-Instituts, was für Zusammenhänge auch im Blick auf die Möglichkeiten bei PISA sich daraus ergeben, ist die Antwort ganz klar: In Deutschland ist viel zu lange die Legende gepflegt worden, dass Schule eigentlich ein Anschlag auf die Kindheit ist, deshalb Schule möglichst spät beginnen muss, möglichst viele zurückgestellt werden, möglichst viele sitzen bleiben und am Ende Schüler und Schülerinnen im Schnitt unterfordert sind. Das ist der von den Autoren von PISA aufgezeigte Tatbestand.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Rückert CDU zur SPD: Zuhören!)

An diesem Punkt gibt es zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland schon jetzt festzustellende gravierende Unterschiede.

(Abg. Drexler SPD: Sie sind seit 1948 für die Schulpolitik zuständig!)

In der PISA-Studie ist ausgeführt – das ist nicht Ideologie, das ist Fakt, das kann man in den Bundes- und Landesstatistiken nachlesen –, dass die Rückstellungsquote in Deutschland bei 12 % liegt. 12 % aller Kinder werden nicht eingeschult.

(Zuruf der Abg. Christine Rudolf SPD)

Vor Jahren haben wir hierzu eine Debatte geführt. Lesen Sie mal die Protokolle nach! Lesen Sie mal die Reden von damals nach! Das bereitet mir großes Vergnügen.

(Zuruf von den Grünen: Mir auch!)

Die Schlagzeilen lauteten: „Schavan will Fünfjährige einschulen“, „Unglaubliche Überforderung von Kindern“. Wir haben bis zum letzten Schuljahr bereits eine Halbierung der Rückstellungsquote erreicht. Wir lagen schon im Schuljahr 2000/2001 nicht bei 12, nicht bei 10, sondern bei 6 %. Baumert hat in Berlin erklärt, wenn alle Länder in Deutschland den Wert der Oberen erreichen würden, gäbe es schon eine massive Veränderung.

(Beifall der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Nächster Punkt: Die Sitzenbleiberquote in Deutschland beträgt 24 %. Die niedrigste Sitzenbleiberquote hat BadenWürttemberg. Hier ist die Sitzenbleiberquote in der Grundschule 2,2 %, in der Realschule 3,2 %, im Gymnasium 2,2 %. Aussage Baumert, Max-Planck-Institut: Wenn sich alle Länder an der niedrigsten Sitzenbleiberquote orientieren würden, die es jetzt schon gibt, gäbe es eine massive Veränderung. Bei uns sitzen nicht 60 % der 15-Jährigen in Klasse 9 und 13 % in Klasse 8, sondern hier ist der Anteil der Schüler und Schülerinnen, die bereits im Alter von 15

Jahren die zehnte Klasse erreicht haben, deutlich höher als in den anderen Ländern. Die Autoren von PISA sagen, es sei wichtig, dass Jugendliche in der Schule nicht latent unterfordert werden, und das werden sie, wenn sie zu spät eingeschult werden und zu häufig die Klassen wechseln müssen. Dass sich die Leistungspotenziale, die Talente von Jugendlichen in Deutschland nicht genügend entfalten können, hat auch und wesentlich mit schulischer Unterforderung zu tun, die wiederum ihren Grund darin hat, dass Schule im Vergleich zur Kinder- und Jugendzeit schlechtgeredet worden ist,

(Zuruf des Abg. Bebber SPD)

dass lange Zeit der Eindruck erweckt worden ist, kindliches Wohlfühlen sowie Lernen und Leistung seien Gegensätze. Es ist völlig an Kindern und Jugendlichen vorbeigedacht, wenn wir den Eindruck erwecken, Wohlbefinden sowie Lernen und Leistung seien zweierlei. Für Kinder gehört das zusammen.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Damit komme ich zu einem gravierenden weiteren Tatbestand. Er betrifft die Schwachen.

(Zuruf des Abg. Schmiedel SPD)

Er betrifft die Tatsache, dass in keinem Land soziale Herkunft und schulischer Erfolg so wenig entkoppelt sind wie in Deutschland. Ich glaube, dass das ein gravierender Tatbestand ist. Natürlich haben alle Minister gefragt: Was ist denn da der entscheidende Punkt? Da stoßen Sie wieder auf das Gleiche, dass nämlich gesagt wird: Bildung beginnt nicht bei der Einschulung, sondern Bildung beginnt zu Hause.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Zuruf des Abg. Drexler SPD)

Dieser Satz wird für Kinder in Deutschland hochvirulent, wenn Sie bedenken, dass jedes vierte Kind am Schulbeginn mit einer verzögerten Sprachentwicklung

(Abg. Christine Rudolf SPD: Ankommt!)

ankommt – danke schön –, weil mit diesem Kind nicht genügend gesprochen wurde. Jetzt können Sie noch so viele schulische Förderprogramme auflegen und noch so viele schulische Aktivitäten entwickeln – solange sich diese Gesellschaft ihrer Bildungsaufgabe und ihrem Bildungsauftrag nicht stellt, kann Schule nur begrenzt erfolgreich sein. Auch das ist eine Erkenntnis von PISA.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Wacker CDU: So ist es!)

Nun wird interessant sein, wie sich die Frage des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und schulischer Leistung im Ländervergleich innerhalb Deutschlands ausdifferenziert.

(Abg. Christine Rudolf SPD: Wenn Sie ein biss- chen besser sind, reicht Ihnen das schon?)

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

Denn es ist augenscheinlich, dass die Frage der Entkoppelung ganz wesentlich damit zu tun hat, welche Anschlussmöglichkeiten es in einem Bildungssystem gibt. Wer jetzt, was die letzten Tage natürlich auch getan wurde – – Frau Rudolf, Sie haben, nachdem Sie lange Anlauf genommen haben, dann endlich auch das Tor getroffen,

(Abg. Christine Rudolf SPD: Danke schön!)

indem Sie erklärt haben: dreigliedriges Schulsystem.

(Abg. Christine Rudolf SPD: Ich habe nur eine Frage gestellt!)

Es hat ja gar keinen Sinn, dass ich Ihnen diese Frage beantworte. – Hören Sie SWR 2, hören Sie Ingo Richter, Sozialdemokrat, noch ein Sozialdemokrat alter Schule, Direktor des Deutschen Jugendinstituts, der auf die Frage, ob das etwas miteinander zu tun habe, erklärt hat: „Überhaupt nichts hat das miteinander zu tun.“ Überhaupt nichts! PISA ist die erste Studie, die klar macht: Die Frage der Organisation – integrierte Systeme oder gegliedertes Schulwesen – hat für die Leistungsfähigkeit und auch für die Frage der Entkoppelung keine Bedeutung. Deshalb rate ich allen sehr, übrigens auch im Blick auf die Ergebnisse unserer Gesamtschule – gestandene Sozialdemokraten erklären in den letzten Tagen, die Bildungsreformen der Siebzigerjahre seien gescheitert; ich muss das gar nicht sagen, das tun die schon selbst –:

(Heiterkeit der Abg. Dr. Inge Gräßle CDU)

Überlegen Sie sich gut, ob Sie jetzt wieder zu den Ideen der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts zurückkehren wollen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Pfister FDP/DVP: Schlachten der Siebzigerjahre! – Zuruf des Abg. Drexler SPD)

Eine entscheidende Frage im Blick auf die schwachen Schüler, die so genannten Lernschwachen, eine entscheidende Frage für die Entkoppelung von sozialer Herkunft und schulischer Leistung und übrigens auch eine entscheidende Frage im Blick auf die Gruppe ausländischer Studierender ist die Frage, wie sich das Bildungswesen so aufbaut, dass auf jeden Abschluss ein Anschluss folgt. Deshalb können wir davon ausgehen, dass die Tatsache, dass in unserem beruflichen Schulwesen in Baden-Württemberg jeder Abschluss gemacht werden kann, dass wir eine Abiturquote von 9 % eines Jahrgangs allein in den beruflichen Gymnasien haben, hier zumindest ein erster wichtiger Schritt ist. Bei uns gehen überhaupt nur noch 7 % der Mädchen und 14 % der Jungen nach Klasse 9 der Hauptschule in eine Lehre. Alle anderen gehen in weiterführende Schulen, erwerben andere Abschlüsse,

(Zuruf von der SPD: Warum?)

zum Teil Abschlüsse, die ihnen einen besseren Einstieg in qualifizierte Ausbildung, Beschäftigung und Arbeit ermöglichen. Deshalb die 20 %, von denen in der Jugendenquetekommission die Rede war.

Wir sind nicht tatenlos geblieben. Es hat eine Menge von Maßnahmen gegeben: Jugendberufshelfer, neue Angebote

in der beruflichen Bildung. Das Ergebnis ist – diese Zahl müssen Sie mit nennen –: Es sind nicht nur 20 % gefährdet, sondern wir in Baden-Württemberg haben ein Bildungswesen – vor allem im Bereich der beruflichen Schulen, wir haben eine Kooperation zwischen Bildung und Wirtschaft –, das wesentlich mit dazu beiträgt, dass die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen bei 4,5 % liegt und damit europaweit die niedrigste Quote überhaupt ist.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Noll FDP/ DVP)

Auch da muss ich sagen: Wenn dieser Wert in ganz Deutschland erreicht würde, stünden wir völlig anders da, auch bei internationalen Vergleichen.

Eine weitere Erkenntnis von PISA: Es ist immer wieder gesagt worden, Kinder mit allein erziehenden Elternteilen oder aus unvollständigen Familien hätten weniger Chancen als Kinder aus so genannten normalen Familien. PISA zeigt deutlich, dass es keine Leistungsunterschiede gibt. Es gibt überhaupt keine Unterschiede im Hinblick auf die Kompetenzen: ob Lesekompetenz, ob mathematische Grundbildung oder naturwissenschaftliche Bildung. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen. Wir müssen uns auch mit solchen Ergebnissen einmal auseinander setzen und dürfen uns nicht nur Facetten herauspicken, von denen wir glauben, dass sie die alten Schlager bedienen.

Eine weitere Feststellung. Was nahezu niemand von uns gedacht hat: Es gibt keinen wirklichen Zusammenhang zwischen dem Vergnügen am Lesen und dem Lesenkönnen.

(Abg. Pfister FDP/DVP: Völlig richtig!)

Das größte Vergnügen am Lesen haben russische Fünfzehnjährige.

(Abg. Pfister FDP/DVP: Richtig!)

Sie haben mit die niedrigste Lesekompetenz. Das hätte niemand von uns angenommen. Jeder hätte gesagt: „Wenn du Vergnügen daran hast, dann kannst du es auch.“ Das sagt auch allgemein etwas über den Zusammenhang von Vergnügen und Können aus. Es ist schön, Vergnügen am Können zu haben, aber Vergnügen ersetzt noch nicht Können.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie der Abg. Christine Rudolf SPD – Heiterkeit)