Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 84. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin. Ich begrüße Sie, unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich. Ganz besonders willkommen heißen möchte ich unsere heutigen Gäste aus unserer argentinischen Partnerstadt Buenos Aires.
Der Delegation gehören an: Der stellvertretende Regierungschef und Präsident des Stadtparlaments von Buenos Aires, Herr Diego Santilli, der Abgeordnete und Vorsitzende des Ausschusses für Stadtentwicklung, Herr Augustín Forchieri, und der Staatssekretär für Bürgerwohl, Herr Héctor Gatto. – Herzlich willkommen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Massaker in Orlando erschütterte vor knapp zwei Wochen die USA. 49 Männer und Frauen wurden von einem Einzeltäter in einem Club erschossen, über 50 Menschen wurden teils lebensgefährlich verletzt. In diesem Club verkehrten vor allem Homosexuelle. Ein Ort der Musik, des Tanzes und der Lebenslust wurde mit den unzähligen Schüssen ein Ort des Schweigens und der Trauer. Unser Mitgefühl gehört daher den Opfern und ihren Angehörigen. Nach allem, was wir wissen, war dies der infamste Anschlag auf eine Minderheitengruppe, der jemals in den Vereinigten Staaten verübt wurde.
Wir leben in Zeiten ausufernder Gewalt – Gewalt gegen Andersgläubige, Gewalt gegen Flüchtlinge, Gewalt gegen Ausländer, Gewalt gegen Homosexuelle, Gewalt gegen Polizisten, ja, auch Gewalt gegen Politiker. Vor den Gewalttaten kommt der Hass – der Hass auf Menschen, die vermeintlich anders sind als andere. Das Minderheitenrecht, auf das wir Demokraten so stolz sein können, wird immer häufiger missachtet. Und ich möchte anmerken, dass es nicht selten auch Politikerinnen und Politiker sind, die den Hass erst schüren und damit salonfähig machen. Ich denke, es reicht der Blick auf den Präsidentschaftswahlkampf in den USA. Ich denke, es reicht der Blick auf die „Schlacht“ um den Brexit. Ich denke, es reicht der Blick auf die politischen Gewalttaten in Europa und Deutschland. Und das sind nur einige Beispiele. Vielerorts herrscht ein vergiftetes Klima. Erzeugt wird ein Bewusstsein, das die jeweilige Gesellschaft spaltet. Wir alle müssen uns die Frage stellen, ob wir in einer derartigen Gesellschaft leben wollen. Für die Mitglieder des Abgeordnetenhauses darf ich wohl sagen: Nein, wir wollen die offene, die bunte Gesellschaft. Wir wollen Freiheit, und wir wollen Toleranz.
Wir sollten nicht nur nach Orlando schauen. Auch in Berlin nehmen die gewalttätigen Übergriffe auf homosexuelle Menschen zu. Das zeigt leider auch der MANEOReport. Wir dürfen davor nicht die Augen verschließen, sondern müssen entsprechend reagieren. Wir müssen Homophobie und Transphobie bekämpfen, und die heterosexuelle Mehrheit muss deutlich machen, dass wir alle gleichberechtigte Mitglieder einer demokratischen und vielfältigen Gesellschaft sind. Das sollten wir heute – mehr denn je – als einen Auftrag empfinden. – Vielen Dank!
Um den Gefühlswechsel auch hinzubekommen, möchte ich jetzt Frau Abgeordnete Dr. Ina Czyborra recht herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren. – Alles Gute!
Ich habe dann wieder Geschäftliches mitzuteilen. Am Montag sind folgende fünf Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:
− Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema: „BER-Debakel und kein Ende in Sicht – Senat hinterlässt schwere Hypothek für die Zukunft“
− Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „Ob öffentliche Verwaltung, Wohnungsbau, Flüchtlingspolitik, Energiepolitik oder Sanierung der Infrastruktur: Fünf Jahre SPD-CDU-Koalition – fünf verlorene Jahre für Berlin“
− Antrag der Piratenfraktion zum Thema: „Berlin braucht und will kein Wahldebakel im September – Übergangsregierung ohne CDU muss die Wahlen sicherstellen.“
Am Dienstag hat mich ein Schreiben des Regierenden Bürgermeisters erreicht, in dem er mir seine Absicht mitgeteilt hat, in der heutigen Sitzung eine Erklärung gemäß Artikel 49 Abs. 3 der Verfassung von Berlin zum Thema „25 Jahre Hauptstadt: Eine weltoffene Metropole ist Deutschlands Gesicht in der Welt“ abzugeben. Ich werde ihm für diese Erklärung gleich das Wort erteilen.
Die Fraktionen haben sich im Ältestenrat darauf verständigt, die Aussprache über die Erklärung des Regierenden Bürgermeisters mit der Aktuellen Stunde zu dem von der Fraktion der SPD beantragten Thema „25 Jahre Bundeshauptstadt Berlin“ zu verbinden. Die anderen Anträge auf Aktuelle Stunde haben damit ihre Erledigung gefunden.
Dann möchte ich auf die Ihnen vorliegende Konsensliste sowie auf das Verzeichnis der Dringlichkeiten hinweisen. Ich gehe davon aus, dass allen eingegangenen Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. Sollte dies im
Ich möchte Ihnen bereits jetzt mitteilen, dass im Einvernehmen in der gestrigen Sitzung des Ältestenrates gemäß § 59 Abs. 5 unserer Geschäftsordnung ich nach der Fragestunde folgende Gegenstände der Tagesordnung außer der Reihe behandeln lassen werde: zunächst die Tagesordnungspunkte 6 bis 7 K, dann die Tagesordnungspunkte 11 bis 19 Y. Anschließend rufe ich in der vorgesehenen Reihenfolge die Tagesordnungspunkte 3 bis 5 und 8 bis 28 auf.
Erklärung des Regierenden Bürgermeisters gemäß Artikel 49 Abs. 3 VvB „25 Jahre Hauptstadt: Eine weltoffene Metropole ist Deutschlands Gesicht in der Welt“
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt mit Sicherheit viele Daten in der Berliner Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die für die Stadt eine Zäsur bedeuteten. Das Ende der Blockade, der 17. Juni, der Mauerbau und natürlich der Mauerfall gehören dazu, und sie sind fest im kollektiven Gedächtnis unserer Stadt verankert.
In diesen Tagen erinnern wir an einen weiteren Jahrestag, der für Berlin eine große Bedeutung hat. Am 20. Juni entschied der Deutsche Bundestag, dass Berlin nicht nur auf dem Papier, sondern mit Parlament und Regierung deutsche Hauptstadt werden soll. Jahrzehnte hatte das damalige Westberlin für den festen Willen nach Freiheit gestanden, und der 17. Juni 1953 hat genauso wie die friedliche Revolution 1989 gezeigt, dass auch die Ostberliner für diese gemeinsame Freiheit einstanden und dabei auch Repressionen, Haft und sogar ihr Leben riskierten. Überall in der Welt wird diesem Berliner Freiheitswillen seit Jahrzehnten große Anerkennung und mitunter Bewunderung gezollt, und er ist untrennbar mit unserer Stadt verbunden.
Am letzten Wochenende haben sich Tausende Berlinerinnen und Berliner am Brandenburger Tor zum Gedenken an die Opfer von Orlando versammelt, wie schon zuvor nach den furchtbaren Anschlägen in unseren Partnerstädten Paris und Brüssel. Sie traten ein gegen Gewalt und Terror, für ein weltoffenes, tolerantes, buntes und freies Berlin ohne Ausgrenzung und Rassismus – ein Berlin, in dem die Menschen ihr Leben führen können, Flüchtlinge ein Zuhause finden und die Stadtgesellschaft Nein zu den reaktionären Kräften sagt, die unsere weltoffene Stadt bedrohen. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe,
den weltweiten Ruf Berlins als Stadt der Toleranz und Freiheit gegen Angriffe von außen und innen zu schützen.
Berlin war schon immer eine besondere Stadt in Deutschland. Nach dem Mauerfall wussten die Menschen gerade hier in Berlin, dass der Wille nach Freiheit, die Courage der Ostberliner Demonstranten auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 und auch das jahrzehntelange Bekenntnis Westberlins zur Freiheit am Ende Mauern und Systemgrenzen überwunden hat.
Umso erstaunter waren dann viele von uns über die Diskussion, ob der Regierungssitz überhaupt von Bonn nach Berlin verlegt werden sollte. Was schon damals übersehen wurde und heute, wie ich finde, genauso wichtig ist: Deutschland braucht auch angesichts unserer furchtbaren Geschichte ein Symbol der Freiheit, und das konnte und kann in der weltweiten Wahrnehmung nur Berlin sein. Die Stadt lebt diese Werte, verfügt zudem über eine unvergleichliche Kultur- und Wissenschaftslandschaft, bietet Freiräume für Ideen und gehört deswegen mittlerweile zu den beliebtesten und spannendsten Metropolen der Welt.
Doch dieses Selbstverständnis ist in Gefahr. Bundesweit und leider auch in Berlin wollen diejenigen, die unser solidarisches Gemeinwesen bekämpfen, in die Parlamente einziehen. Leider nehmen das viele Parteien, Medien und Bürger fast beiläufig oder selbstverständlich hin. Wir wollen aber Fortschritt und keinen Rückschritt in eine verklemmte Gesellschaft. Berlin soll eine moderne Metropole bleiben ohne Biedermänner, Chauvinismus und Ausgrenzung. Ich jedenfalls finde es nicht selbstverständlich, dass eine rechtspopulistische Kraft in das Berliner Abgeordnetenhaus einzuziehen droht. Ich finde es nicht selbstverständlich, dass Rechte über die Bezirksämter Verantwortung für unser Gemeinwesen erhalten können. Ich finde es besonders in Berlin nicht selbstverständlich, dass Politiker wieder Macht bekommen wollen, die Schießbefehle salonfähig machen wollen. Ich finde es ganz und gar nicht selbstverständlich, dass wir das nicht gemeinsam verhindern können.
Ich knüpfe an das an, was der Präsident gesagt hat, und sage es noch einmal in aller Deutlichkeit: Jeder Mensch, egal welcher Herkunft, welchen Geschlechts oder Lebensentwurfs oder welcher Religion, soll in unserer Stadt auch weiterhin ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben führen. Wir brauchen jetzt die Engagierten und Mutigen aus Kultur, Zivilgesellschaft, Parteien, Medien und Sozialpartnern, die gemeinsam dafür kämpfen, dass Rechtspopulisten in Berlin keine Chance bekommen. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, um aufzustehen? Ein jeder von uns ist gefordert.
Es geht darum, den Erfolg dieser Stadt nicht zu gefährden. Dieser Erfolg ist hart erarbeitet. Eine wichtige Grundlage dafür wurde vor 25 Jahren mit dem Hauptstadtbeschluss gelegt. Es lohnt sich, an diesen Beschluss zu erinnern und besonders ins Gedächtnis zu rufen, welchen Weg Berlin in den letzten 25 Jahren zurückgelegt hat. Am 20. Juni 1991 hat der Bundestag beschlossen, dass Parlament und Regierung ihren Sitz in Berlin haben sollen. Dem Beschluss ging eine leidenschaftliche, eine historische Debatte voraus. Viele haben sich daran mit großer Leidenschaft und guten Argumenten beteiligt, von Willy Brandt über Wolfgang Thierse und Hans-Dietrich Genscher bis Gregor Gysi und auch Wolfgang Schäuble. Er sagt damals im Bonner Wasserwerk:
Es geht heute nicht um Bonn oder Berlin, sondern es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muss, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will.
Viele Beobachter sagen, Wolfgang Schäubles Rede hat der Debatte eine neue Wendung gegeben und das Pendel in Richtung Berlin ausschlagen lassen. Er steht beispielhaft für diejenigen, denen zu verdanken ist, dass Berlin Hauptstadt geworden ist – er, der ohne Scheu davon überzeugt war, dass Berlin ein neues, ein liberales Deutschland prägen würde, der die Hauptstadt Berlin als letzten Baustein einer Vollendung der Einheit Deutschlands sah. Aufgrund dieses Engagements habe ich dem Senat und dem Abgeordnetenhaus vorgeschlagen, Wolfgang Schäuble zum Ehrenbürger unserer Hauptstadt zu ernennen. – Ich danke Ihnen, dass es für diesen Vorschlag aus den Reihen des Parlaments so viel Unterstützung gibt und dass wir ihn mit großer Geschlossenheit gemeinsam tragen können!
Viele hatten sich damals von dem Beschluss den beinahe sofortigen Aufstieg zu einer wirtschaftlich erfolgreichen 5-Millionen-Metropole erhofft, indem mindestens alle DAX-Unternehmen mit ihren Konzernzentralen nach Berlin kommen. Wir wissen, es kam anders. Mit dem Ende der Berlinförderung 1994 setzte endgültig das Produktionssterben ein. Wir mussten zwei öffentliche Verwaltungen zu einer fusionieren. Beides ging mit einem erheblichen Arbeitsplatzabbau einher, Hunderttausende Menschen verloren in kurzer Zeit ihre Arbeit. Die Stadt musste mit dem Zusammenwachsen der beiden Stadthälften eine Aufgabe angehen, die sonst nirgendwo in Deutschland nach der Wende bewältigt werden musste. Strukturen brachen weg, Menschen verließen Berlin, und schnell träumte man nicht mehr von der 5-MillionenMetropole, sondern es wurden Konzepte für die schrumpfende Stadt entwickelt. Berlin blieb aber Sehnsuchtsort für viele, zog weiterhin Menschen an, Touristen, die die
einzigartige Kulturlandschaft genossen, aber auch viele Menschen, die länger bleiben, hier ihr Glück versuchen wollten, Ideen hatten, die man nur hier in Angriff nehmen konnte, oder sie wollten einfach der Enge der Provinz entkommen. Berlin bot Platz für alles, und man konnte in der Stadt günstig leben und auch gut feiern.
Gleichzeitig wollte Berlin schnell die Spuren der Teilung überwinden. Beide Stadthälften mussten zusammenwachsen und lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Lang gewohnte Fördermittel für Berlin entfielen, und während der Regierungssitz gebaut wurde, wuchsen in Berlin die Schulden, bis die Stadt quasi zahlungsunfähig war. Der Jahrestag des Hauptstadtbeschlusses gibt uns die Gelegenheit, diese Phase Berlins noch einmal zu verinnerlichen: Der geforderte Mentalitätswechsel, der Verkauf landeseigener Unternehmen, der Solidarpakt, Sparen bis es quietscht – das alles war kein Selbstzweck. Berlin stand das Wasser bis zum Hals. Auch Fraktionen hier im Haus, die sich daran nur noch sehr ungern erinnern wollen, haben damals dafür plädiert, noch mehr, auch kommunale Wohnungen zu verkaufen.
Der Irrglaube, dass Private ohnehin alles besser können, war weit verbreitet, auch in Bezug auf Daseinsvorsorge. Das alles wird sehr gern vergessen.
Wenn wir selbstkritisch zurückblicken, dann wissen wir gerade heute, dass tatsächlich nicht alles gelungen ist. Es wurden Fehler gemacht, und es gibt jetzt zum Glück auch viele Korrekturen: