Protocol of the Session on October 8, 2015

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 70. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin. Ich begrüße Sie. Ich begrüße unsere Gäste und Zuhörerinnen und Zuhörer sowie die Medienvertreter recht herzlich.

Zunächst habe ich wieder Geschäftliches mitzuteilen. Der Antrag der Fraktion Die Linke Drucksache 17/1703 „Schülerinnen und Schüler mit Behinderung fördern – ohne Wenn und Aber“ wird von der antragstellenden Fraktion zurückgezogen. Der Antrag ist in der 50. Sitzung am 19. Juni 2014 an den Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie und an den Hauptausschuss überwiesen worden.

Am Montag sind folgende fünf Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

− Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „25 Jahre Einheit Berlins“

− Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „25 Jahre Einheit Berlins“

− Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema: „Organisierte Verantwortungslosigkeit – ist der BER noch zu retten?“

− Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „Abschottung, Ausgrenzung und Abschiebung statt Willkommenskultur – mit Heilmann, Henkel und Czaja Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik?“

− Antrag der Piratenfraktion zum Thema: „Abschottung, Ausgrenzung und Abschiebung statt Willkommenskultur – mit Heilmann, Henkel und Czaja Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik?“

Die Fraktionen haben sich im Ältestenrat auf die Behandlung des Antrags der Piratenfraktion verständigt, sodass ich dieses Thema für die Aktuelle Stunde unter dem Tagesordnungspunkt 1 aufrufen werde. Die anderen Anträge auf Aktuelle Stunde haben damit ihre Erledigung gefunden.

Dann möchte ich auf die Ihnen vorliegende Konsensliste sowie auf das Verzeichnis der Dringlichkeiten hinweisen. Ich gehe davon aus, dass allen eingegangenen Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. Sollte dies im Einzelfall nicht Ihre Zustimmung finden, bitte ich um entsprechende Mitteilung.

Entschuldigung von Senatsmitgliedern für die 70. Sitzung: Der Regierende Bürgermeister ist ganztägig abwesend – Grund ist die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder in Bremen vom 8. bis 9. Oktober –, und Frau Senatorin Scheeres ist ganztägig abwesend. Grund ist die Teilnahme an der Kultusministerkonferenz.

Ich rufe auf die

lfd. Nr. 1:

Aktuelle Stunde

gemäß § 52 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

„Abschottung, Ausgrenzung und Abschiebung statt Willkommenskultur – mit Heilmann, Henkel und Czaja Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik?“

(auf Antrag der Piratenfraktion)

Für die Besprechung der Aktuellen Stunde steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Es beginnt die Piratenfraktion. – Herr Kollege Lauer, bitte schön. Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste! Meine Fraktion hat hier mit einem gleichlautenden Antrag der Linksfraktion diese Aktuelle Stunde zum Thema „Abschottung, Ausgrenzung und Abschiebung statt Willkommenskultur – mit Heilmann, Henkel und Czaja Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik“ einberufen, weil man die drei vorgenannten Herren immer wieder daran erinnern muss, in diesem Bundesland ihre Arbeit zu tun, was sie nicht machen.

Worum geht es konkret? – Wir haben in Berlin anhaltend die Situation, dass Flüchtlinge kommen. Im Moment kommen ungefähr 1 000 Flüchtlinge am Tag. Es werden im LAGeSo aber nur 250 Flüchtlinge am Tag registriert, die dann eine Bescheinigung darüber bekommen, dass sie als Asylsuchender gemeldet sind, und diese Gemeldeten müssen sich dann zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge begeben, um dort ihr Asylverfahren zu beantragen. Das Einzige, was Berlin an dieser Stelle machen könnte, um diesen ganzen Prozess zu beschleunigen, und das seit Monaten, seit Jahren, denn, wie gesagt, das Asylverfahren findet beim Bund und die Erstregistrierung im Land Berlin statt, ist, dass die Flüchtlinge, die hier ankommen, im Land Berlin möglichst schnell registriert werden.

Das aber passiert nicht. Das ist natürlich doof für die CDU, weil man sich ja gern als Hardliner gibt, insbesondere in Fragen des Asyls, zumindest hier auf Landesebene. Ich habe gestern mit großer Freude vernommen, dass die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel in einem Interview in der ARD mitgeteilt hat, dass wir das schaffen und dass wir die Einwanderung nach Deutschland nicht begrenzen können, dass das niemand kann. Es ist schön, dass die Kanzlerin sieht, dass wir das schaffen, nur wenn man sich die Arbeit von Czaja, Henkel und Heilmann in Berlin anschaut, dann kriegt man natürlich ein bisschen seine Zweifel daran, ob wir das schaffen.

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Fangen wir mal mit Herrn Henkel an. Wie hat er die letzten zwei Wochen genutzt? Hat er zum Beispiel der Polizei eine Dienstanweisung erteilt, dass sie Flüchtlinge, die sie hier antrifft, nicht mehr wegen illegaler Einreise nach § 95 Aufenthaltsgesetz anzeigt? Hat er das in den letzten zwei Wochen gemacht? Wir haben am Ende der letzten Plenarsitzung darüber gesprochen. Das ist eine unfassbare Arbeit für die Polizei, das ist eine unfassbare Arbeit für die Berliner Staatsanwaltschaft. Man könnte dieses Verfahren mit einer Dienstanweisung beenden, aber getan hat sich nichts. Stattdessen schwadroniert der Innensenator über ein Abschiebezentrum für Menschen vom Westbalkan

[Kurt Wansner (CDU): Sehr gut!]

aus der CDU ruft jemand: Sehr gut! –, ansonsten ist Stille im Saal –, um die Leute von dort möglichst schnell abzuschieben und ihnen beim ersten Behördenkontakt klarzumachen, dass ihr Ersuchen auf Asyl nicht besonders erfolgsträchtig ist. Das ist sehr bemerkenswert: Eine Berliner Landesbehörde soll schon mal ein Präjudiz darüber fällen, wie ein unabhängiges Asylverfahren einer Bundesbehörde aussehen wird. Das finde ich sehr bemerkenswert.

Gleichzeitig möchte Herr Senator Henkel, wenn z. B. eine Abschiebung direkt aus dem Klassenzimmer passiert – – Man hat eine Klasse mit Kindern, es sind auch Flüchtlingskinder dabei. Dann wird ein Flüchtlingskind rausgenommen, und das kommt nie wieder, denn es wird abgeschoben, und die Schülerinnen und Schüler sind traumatisiert. Das schiebt der Senat ganz lapidar mit den Worten beiseite: Die Schule soll doch den Kindern mal einfach kindgerecht beibringen, dass so etwas wie eine Abschiebung passieren kann, und insbesondere sollen den Kindern vom Westbalkan keine falschen Hoffnungen und Illusionen gemacht werden – das steht da so drin, Senator in diesem Land – , dass sie hier jemals so etwas wie Asyl bekommen. Das ist die Willkommenskultur der Christlich Demokratischen Union in diesem Land. Das ist nicht besonders christlich, Herr Henkel!

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Es geht aber weiter: Der gute Herr Heilmann – „gut“ war jetzt falsch – fordert, man solle Mitarbeiter der Verwaltung in die Flüchtlingsunterkünfte bringen, die dort Flüchtlinge vom Westbalkan ansprechen. Ich stelle mir das sehr interessant vor. Wie soll das funktionieren? Gehen die dort durch die Reihen und sagen: Kommst du vom Westbalkan? –, und dann sagen die: Ja, klar! Worum geht es? – Mitarbeiter der Verwaltung sollen also Leute vom Westbalkan ansprechen und quasi dazu überreden, das Land wieder zu verlassen.

[Martin Delius (PIRATEN): Tolle Idee!]

Das ist eine großartige Idee. Herr Heilmann! Wie antiintuitiv ist das? Wenn ich versuchen würde, Sie hier im Plenum zu überreden, 2016 nicht der Spitzenkandidat der CDU zu werden, was meinen Sie, wie erfolgreich das wäre?

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN]

Ja, Sie grinsen!

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN]

Sie haben keine Mitarbeiter am Landesamt für Gesundheit und Soziales, um Flüchtlinge zu registrieren. Das ist nämlich das Einzige, was das Land Berlin machen kann: Flüchtlinge registrieren, dann zum BAMF schicken. Die Flüchtlinge sollen nicht registriert werden.

[Senator Mario Czaja: Das weiß er seit gestern Abend! Das hat er gelernt gestern Abend!]

Nein, Herr Czaja, Sie sind nicht dran! Nachher spricht Herr Henkel, aber Sie haben auch noch mal die Möglichkeit, sich zu äußern. Das mache ich sehr gerne, wir können noch mal alle fünf Minuten sprechen. – Sie schicken also nicht Leute ins LAGeSo, um die Flüchtlinge schneller zu registrieren, Sie wollen Menschen der Verwaltung in Flüchtlingsheime schicken. Die sollen die Leute dort überreden, dass sie wieder von alleine ausreisen, und im Zweifelsfall soll es sogar Ausreisehilfen geben.

Ich erinnere da mal an die eigene Argumentation der Christlich Demokratischen Unionsfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, ein denkwürdiger Redebeitrag von Herrn Burkard Dregger, der damals davon sprach: Wenn sich auf dem Westbalkan rumspräche, dass das Land Berlin im Winter nicht abschiebt, dann würden diese Menschen vom Westbalkan das Land Berlin ja quasi überfluten.

Herr Heilmann! Was passiert im Land Berlin nach Ihrer eigenen Argumentation der CDU, wenn sich im Westbalkan herumspricht, dass man hier von – – Ja, reden Sie ruhig mit Ihrer Mitarbeiterin, Herr Heilmann! Da sieht man ja, Sie interessiert das, wenn Sie hier in der Presse irgendwelche markigen Parolen schwingen können, aber wenn sich das Parlament mit irgendwas beschäftigt, dann haben Sie natürlich keine Zeit zuzuhören. Das wundert mich nicht!

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Herr Heilmann! Was passiert auf dem Westbalkan, wenn sich dort herumspricht, dass erstens das Land Berlin es nicht hinbekommt, Flüchtlinge zu registrieren, man sich also hier quasi sehr lange aufhält und dann auch noch von einem Mitarbeiter der Verwaltung angesprochen wird, eine Rückreisehilfe bekommt, also quasi Geld – denn wie sollte das anders aussehen? Sie haben im Haushalt auch keinen anderen Antrag gestellt.

[Senator Mario Czaja: Gibt es!]

Alles sehr interessant! Sie wollen auch abgelehnten Asylbewerbern das Geld für das Existenzminimum streichen. Das ist gegen die Verfassung, aber da hat unser Verfassungssenator in Berlin auch kein Problem, das mit zu fordern.

Herr Czaja reiht sich in diese Forderungen ein, und das ist – wie gesagt – alles sehr bemerkenswert, noch mal: Das Einzige, was Berlin machen kann, ist, Flüchtlinge zu registrieren. Im Moment kommen 1 000 Flüchtlinge am Tag nach Berlin, macht 7 000 Flüchtlinge in der Woche. Das LAGeSo hat fünf Tage auf, registriert 250 Flüchtlinge am Tag, macht 1 250 Flüchtlinge in der Woche. Das heißt, wir haben schon bei der Registrierung einen solchen Rückstau, Herr Czaja – – Ja, Sie lachen, Sie amüsieren sich! Sie waren ja gestern auf Twitter noch nicht mal in der Lage, mir den Unterschied zwischen den Leuten, die im EASY-Verfahren drin sind, und den angemeldeten Flüchtlingen beim BAMF zu erklären.

[Senator Mario Czaja: Eine Stunde vor der Rede den Nachhilfeunterricht zu machen, ist auch schwer!]

Sehr geehrter Herr Czaja! Das BAMF schafft im Monat bundesweit 20 000 Flüchtlinge. Es wäre Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese Flüchtlinge ordentlich registriert werden. Es wäre Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass am LAGeSo nicht vonseiten der Security ein Handel mit Wartenummern stattfindet. Es wäre Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese Leute in diesem Land untergebracht werden. Die Kanzlerin, Ihre Kanzlerin – enge Brieffreundin von Herrn Rissmann und Herrn Juhnke –,

[Heiterkeit und Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

die Kanzlerin ist an dieser Stelle schon weiter als Sie. Ihre Fraktion ist so verzweifelt, dass Sie der Kanzlerin einen offenen Brief schreibt – und glauben Sie mir, als Pirat weiß ich, wenn die Partei einen offenen Brief schreibt, dann ist das Kind in den Brunnen gefallen!

[Heiterkeit und Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Sie und Ihre Kollegen betreiben hier übelsten Populismus in der Öffentlichkeit. Sie führen die Öffentlichkeit an der Nase herum, denn was Sie einfach nicht sagen können, ist, dass das BAMF überhaupt gar nicht in der Lage wäre, so viele Flüchtlinge zu bearbeiten, wie Sie hier nicht registrieren können. Und das heißt, es gibt auch keine beschleunigten Asylverfahren, selbst wenn Sie sie irgendwie herbeibeten oder -wünschen. Es geht einfach nicht. Machen Sie doch bitte einfach mal Ihre Arbeit, und hören Sie auf, in der Bevölkerung solche Ressentiments zu schüren! – Vielen lieben Dank!

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Für die SPD-Fraktion hat jetzt Frau Radziwill das Wort. – Bitte schön!