Protocol of the Session on May 7, 2015

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 64. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste und Zuhörerinnen und Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich.

Zu Beginn habe ich Geschäftliches mittzuteilen. Am Montag sind folgende fünf Anträge auf Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

− Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „Friedlicher 1. Mai in Berlin“

− Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Friedlicher 1. Mai in Berlin“

− Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema: „70. Jahrestag der Befreiung – Verantwortung für ein weltoffenes Berlin, das Flüchtlingen hilft. Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“

− Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „70. Jahrestag der Befreiung – Verantwortung für ein weltoffenes Berlin, das Flüchtlingen hilft. Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“

− Antrag der Piratenfraktion zum Thema: „70. Jahrestag der Befreiung – Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus und zur Aufnahme von Flüchtlingen.“

Die Fraktionen haben sich im Ältestenrat auf die Behandlung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verständigt,

[Benedikt Lux (GRÜNE): Vielen Dank!]

sodass ich dieses Thema für die Aktuelle Stunde unter dem Tagesordnungspunkt 1 aufrufen werde, und zwar in Verbindung mit dem Tagesordnungspunkt 5. Die anderen Anträge auf Aktuelle Stunde haben damit ihre Erledigung gefunden.

Ich möchte Sie auf die Ihnen vorliegende Konsensliste sowie auf das Verzeichnis der Dringlichkeiten hinweisen. Ich gehe davon aus, dass allen eingegangenen Vorgängen die dringliche Behandlung zugebilligt wird. Sollte dies im Einzelfall nicht Ihre Zustimmung finden, bitte ich um entsprechende Mitteilung.

Wir haben folgende Entschuldigungen von Senatsmitgliedern für die heutige Sitzung: der Regierende Bürgermeister ab ca. 16.40 Uhr – Grund ist die Teilnahme am Festakt zum zehnjährigen Bestehen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas – sowie Herr Senator Dr. Kollatz-Ahnen, abwesend von 15 Uhr bis ca. 17.30 Uhr. Grund ist das Abstimmungsgespräch gemeinsam mit den Finanzministerinnen und Finanzministern

und Vorbesprechung zur Neuregelung der Erbschaftsteuer beim Bundesminister der Finanzen.

Ich rufe nun auf

lfd. Nr. 1:

Aktuelle Stunde

gemäß § 52 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

„70. Jahrestag der Befreiung – Verantwortung für ein weltoffenes Berlin, das Flüchtlingen hilft. Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“

(auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen)

in Verbindung mit

lfd. Nr. 5:

8. Mai 1945 – Tag der Befreiung – Gesetz über die Änderung des Gesetzes über die Sonn- und Feiertage

Antrag der Fraktion Die Linke und der Piratenfraktion Drucksache 17/2243

Erste Lesung

Ich eröffne die erste Lesung der Gesetzesberatung. Für die Besprechung der Aktuellen Stunde bzw. die Beratung des Gesetzes stehen den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Es beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Frau Kollegin Pop, bitte schön! Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute Nachmittag werden einige von uns den Festakt anlässlich des 10. Jahrestages der Übergabe des Denkmals für die ermordeten Juden Europas an die Öffentlichkeit miteinander begehen. An diesem zentralen Ort des Mahnens werden wir gemeinsam daran erinnern, dass solch ein Menschheitsverbrechen nicht wieder geschehen darf, dass Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit in unserer Stadt, in unserer Gesellschaft keinen Platz haben.

[Allgemeiner Beifall]

Das Denkmal hier ganz in der Nähe, am Rand des Tiergartens, erinnert seit nunmehr zehn Jahren an den millionenfachen Mord an den europäischen Juden und den Zivilisationsbruch des Holocaust und an einen Krieg, der vor nunmehr 75 Jahren von Deutschland ausging. Dieser Krieg, im Rassenwahn des Nationalsozialismus als Vernichtungskrieg geplant, wütete im Osten Europas ganz besonders in mörderischer Weise und überzog den ganzen Kontinent mit Tod und Zerstörung.

Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Heute gedenken wir der Millionen Opfer, der Ermordeten, der Verfolgen, derer, die in diesem gnadenlosen Krieg alles verloren haben. Der entfesselte Krieg kehrte sich gegen Deutschland selbst. Deutschland und Berlin lagen bei Kriegsende in Trümmern. Zahlreiche Bilder zeigen in diesen Tagen das Ausmaß der Zerstörung. Viele, insbesondere Frauen, erlitten neues Leid. Daran soll auch erinnert werden.

Der Blick in die Zukunft ließ die meisten erschaudern. Für viele war willentlich die Chance auf einen Neuanfang nicht sichtbar. In Berlin folgte auf den Krieg mit der Berlin-Blockade die Spaltung der Stadt, die zum Mauerbau und der Teilung Berlins, Deutschlands und des gesamten europäischen Kontinents führte. Im Westen Deutschlands setzte sich erst mit der epochalen Rede Richard von Weizsäckers – der vor Kurzem verstorben ist – zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die Haltung durch, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung war.

Es war ein langer Weg zu dieser Einsicht. Wurde das Kriegsende zunächst mit Begriffen wie Niederlage, Zusammenbruch oder Stunde null eher verschämt in die hinteren Bereiche des kollektiven Unterbewusstseins geschoben, während man am einsetzenden Wirtschaftswunder partizipierte, war es erst an der folgenden Generation, Fragen zu stellen und damit das Stillschweigen und kollektive Verdrängen von Schuld und Verantwortung aufzubrechen. Die Folgen für die westdeutsche Gesellschaft, für das Selbstverständnis der Bundesrepublik, waren so dramatisch wie unabwendbar. Die deutsche Gesellschaft hat sich – und tut es immer noch – schmerzhaft und auch sehr konfliktreich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt, mit Ursachen und Folgen von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust. Erst dadurch konnte aber werden, was heute gilt, dass der 8. Mai nicht der Tag der Niederlage, sondern der Befreiung war und ist.

[Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der CDU]

Auch in Ostdeutschland fiel es lange nicht leicht, das Wort von der Befreiung vorbehaltlos anzunehmen. Wie der Theologe und Bürgerrechtler Richard Schröder zutreffend sagte, und ich zitiere ihn:

Der 8. Mai hatte uns im Osten eine Befreiung ohne Freiheit gebracht.

Und weiter:

Wir lebten wieder in einer Diktatur ohne Rechtssicherheit. Es waren eben nicht nur Kriegsverbrecher und Nazis, die nach 1945 enteignet wurden, es wurden auch Nazigegner enteignet, es gab wieder willkürliche Verhaftungen.

Der versprochene Neuanfang nach Kriegsende entpuppte sich sehr schnell als die Errichtung eines neuen Unrechtsstaates. Das Versprechen von Freiheit und Frieden muss

ten sich die Ostdeutschen 44 Jahre nach Kriegsende selbst erkämpfen. So ist auch die friedliche Revolution von 1989 in den großen Zusammenhang des letzten Jahrhunderts zu stellen und darin auch zu sehen.

Der diesjährige 8. Mai ist ein besonderer Tag des Erinnerns und des Gedenkens und vielleicht der letzte seiner Art. Voller Respekt und Anteilnahme hören wir Zeitzeugen wie letzten Samstag hier, die uns berichten und uns an ihrem Leben und Erleben des Grauens teilhaben lassen, Zeitzeugen, die trotz ihres inzwischen sehr hohen Alters unermüdlich das Gespräch vor allem mit jungen Menschen suchen, die ihre Lebensaufgabe darin sehen, die Erinnerung wachzuhalten. Ihnen sind wir zu Dank verpflichtet.

[Allgemeiner Beifall]

Doch wir sehen auch mit Trauer, dass wir uns auf Zeiten vorbereiten müssen, in denen niemand mehr aus eigenem Erleben Zeugnis geben kann. Jetzt ist es auch an uns, einer neuen Generation, diese Verantwortung zu übernehmen. Es ist eine Generation – zumindest wenn ich für meine spreche –, für die Frieden in Europa immer eine Selbstverständlichkeit gewesen ist. Jetzt stehen wir in der Verantwortung für das Nichtvergessen, für das „Nie wieder!“ und werden unseren Weg finden müssen, dieser Verantwortung gerecht zu werden.

[Allgemeiner Beifall]

Lassen Sie uns deswegen darüber reden, ob ein Gedenktag am 8. Mai diesem Anspruch gerecht wird, ob das Erinnern einen, diesen festen Platz für die künftigen Generationen in Berlin – aber nicht nur in Berlin – braucht.

Im letzten Jahr feierten wir den 65. Jahrestag der Beendigung der Blockade Berlins. Ich erinnere mich an eine sehr bewegende Begegnung mit einem der damaligen US-Piloten eines Rosinenbombers, der mit seiner Frau, beide schon sehr betagt, die weite Reise von Boston nach Berlin auf sich genommen hatte, um wohl zum letzten Mal an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Er sagte mir, wie unglaublich beeindruckt er vom heutigen, von unserem Berlin sei, welche Offenheit und Vielfalt ihm hier begegnen würden, ihm, der Berlin ganz anders kennengelernt hat. Wer hätte das gedacht? Wer hätte diese Entwicklung unserer Stadt vorhergesehen? Es war nicht unbedingt zu erwarten, wenn man sich die Vergangenheit vor Augen führt. Gerade deswegen kommt uns Berlinerinnen und Berlinern auch eine besondere Verantwortung für die Vergangenheit, aber auch für die Zukunft zu.

[Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der CDU und der LINKEN]

Wenn wir heute auf unsere Stadt schauen, können wir nicht anders als dankbar zu sein und uns auch zu freuen: Wir leben in einer internationalen, weltoffenen und dynamischen Stadt. Berlin ist nicht nur deutsche Hauptstadt, sondern mitten in einem vereinten Europa. Unsere Stadt

steht wie keine andere für die Überwindung von Mauern und Grenzen.

Auch die jüdische Gemeinde wächst wieder in unserer Stadt. Das ist eins der größten Wunder, dass sie zurückkommen, um wieder in dieser Stadt zu leben. Die Stadt, von der aus der Zivilisationsbruch der Shoah ausging, wird heute wieder zur Heimat von Jüdinnen und Juden aus aller Welt. Dafür müssen wir unendlich dankbar sein. Dies ist uns aber auch Verpflichtung, uns gegen jede Form des Antisemitismus zu wenden, ganz gleich, wie dieser daherkommt.

[Allgemeiner Beifall]

Wir sind dabei nicht allein, denn die meisten Berlinerinnen und Berliner wissen um den unschätzbaren Wert der Vielfalt und Weltoffenheit unserer Stadt. Berlin hat eine lange Tradition als Toleranz-, als Einwanderungsstadt. Ohne die frühe Siedlungs- und Zuwanderungspolitik schon zu Preußens Zeiten stünden heute vielleicht noch immer zwei Dörfer namens Berlin und Cölln im märkischen Sand und nicht die aufregendste Stadt Europas. Auch der industrielle Aufschwung Berlins ab Mitte des 19. Jahrhunderts, das rasante wirtschaftliche Wachstum der Stadt wäre ohne Zuwanderung nicht möglich gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Berlin unzählige Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten auf. Später kamen Türken, Russen und Polen, dann die Flüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg. Heute sind es Flüchtlinge aus Syrien und Irak, aus Mali und Eritrea und aus vielen anderen Ecken der Welt. Zahlreiche Berlinerinnen und Berliner heißen sie willkommen. Sie kümmern sich um sie, sie sammeln Spenden, bieten Deutschunterricht und Unterstützung im Umgang mit Behörden und Ämtern an. Die Hilfsbereitschaft, die wir sehen, ist sehr groß. Das ist das wahre Gesicht unserer Stadt.

[Allgemeiner Beifall]