Protocol of the Session on March 21, 2013

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 29. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin und begrüße Sie, unsere Gäste und Zuhörer sowie die Medienvertreter sehr herzlich.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor Beginn der Beratungen habe ich eine traurige Pflicht zu erfüllen. Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.

[Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.]

In der vergangenen Woche, am Dienstag, dem 12. März 2013, starb unsere Kollegin Marion Seelig nach langer und schwerer Krankheit. Sie war Abgeordnete von Januar 1991 bis zu ihrem Todestag. Als Mitglied der Fraktion Die Linke bekleidete sie die Position der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden.

Geboren wurde Marion Seelig am 3. Januar 1953 in Berlin. Nach dem Abitur wollte sie Journalistik studieren, wurde aber nicht zum Studium zugelassen. Ihr Vater hatte die DDR noch vor dem Bau der Mauer verlassen. Statt zu studieren, absolvierte Marion Seelig ein Volontariat bei der „Berliner Zeitung“ und arbeitete dort bis 1974 in der Redaktion mit. 1975 wechselte sie als Redakteurin in das Berliner Haus für Kulturarbeit und arbeitete daneben freiberuflich als Hörspielautorin und Schriftstellerin.

Unter dem Dach der Kirche in der DDR begann Marion Seelig Anfang der Achtzigerjahre in der Berliner Zionsgemeinde mit der Friedensarbeit: Sie gab Kinderseminare, organisierte die ersten Menschenrechtsseminare in der DDR und arbeite seit 1987 in der „Kirche von unten“ mit. Schon 1982 unterzeichnete sie eine Eingabe der Gruppe „Frauen für den Frieden“ gegen die Einberufung von Frauen zum Militärdienst im Falle einer Mobilmachung.

Marion Seelig stand in Opposition zur DDR. Sie zu verlassen, kam für sie aber nicht infrage. Sie wollte die Reform von innen und setzte sich für die von der Regierung Verfolgten ein: 1988/1989 nahm sie an Mahnwachen teil, ebenso an Protest-Gottesdiensten, und sie sammelte Spenden für die Opfer und Familien der Inhaftierten. Die Übergriffe auf die Umweltbibliothek, die Verhaftungen bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, die Relegierung von Schülern der Erweiterten Oberschule Carl von Ossietzky – all diese Maßnahmen steigerten noch ihre Oppositionshaltung.

Im September 1989 gründete Marion Seelig die Vereinigte Linke mit, eine politische Gruppierung in der Endphase der DDR, die Mitglieder aus vielen linken Gruppen sowie kritische Mitglieder aus der SED versammelte. Nach der Wende vertrat Marion Seelig die Vereinigte Linke am zentralen Runden Tisch.

Seit Januar 1991 war Marion Seelig Abgeordnete im Abgeordnetenhaus von Berlin. Über die offene Liste der damaligen PDS zog sie parteilos ins Parlament ein. 1998 trat sie dann der PDS bei. Hier im Abgeordnetenhaus widmete sich Marion Seelig in allen Legislaturperioden der Innen- und Sicherheitspolitik, war durchgängig Mitglied im Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Recht. In der 12. und 17. Wahlperiode saß sie zudem im Ausschuss für Verfassungsschutz, in der 16. Wahlperiode im Ausschuss für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten, Immunität und Geschäftsordnung. Über viele Jahre leitete sie mit Engagement den Unterausschuss für Datenschutz und Informationsfreiheit.

In einem kleinen Selbstportrait begründete Marion Seelig ihre Haltung zur Innen- und Sicherheitspolitik: Sie schrieb dort, dass sie der Einschränkung von Bürgerrechten Einhalt gebieten möchte. Die Sensibilisierung dafür, dass Bürgerrechte nicht einfach da sind, sondern oft auch erstritten und verteidigt werden müssen, durchzog ihr politisches Leben und Denken – erst in der DDR, dann auch im vereinigten Berlin.

Marion Seelig hinterlässt drei erwachsene Kinder und einen Ehemann. Unsere Anteilnahme gehört ihrer Familie.

[Gedenkminute]

Ich danke Ihnen, dass Sie sich zu Ehren unserer verstorbenen Kollegin erhoben haben, und bitte Sie noch einen Moment um Ruhe. – Vielen Dank!

Ich habe dann wieder Geschäftliches mitzuteilen. Am Montag sind folgende fünf Anträge zur Durchführung einer Aktuellen Stunde eingegangen:

1. Antrag der Fraktion der SPD zum Thema: „Hohe Dynamik, überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum, erfolgreicher Mittelstand: Berlin ist ein guter Standort für starke Wirtschaft und gute Arbeit“,

2. Antrag der Fraktion der CDU zum Thema: „Hohe Dynamik, überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum, erfolgreicher Mittelstand: Berlin ist ein guter Standort für starke Wirtschaft und gute Arbeit“,

3. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema: „Berlins öffentlicher Dienst braucht einer Perspektive – der Senat muss handeln“,

4. Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema: „Jeder setzt auf das eigene Pferd – SPD/CDU-Koalition bei Berliner Liegenschaftspolitik zerstritten“,

5. Antrag der Piratenfraktion zum Thema: „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Berlin – konsequente Aufklärung, Prävention und Verfolgung statt Lippenbekenntnissen und Wahlkampfgeplänkel“.

Zur Begründung der Aktualität erteile ich zunächst einem Mitglied der Fraktion der SPD das Wort. – Herr Kollege Jahnke!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wirtschaftliche Entwicklung Berlins in den letzten Jahren ist gekennzeichnet durch Wachstumsraten, die über dem Bundesdurchschnitt liegen, durch einen Abbau der Arbeitslosigkeit, der stärker ausfällt als in jeder anderen Region Deutschlands, und eine Gründungslandschaft, die ihresgleichen sucht. Der Strukturwandel der Berliner Wirtschaft ist inzwischen unübersehbar. Nach Jahren der Deindustrialisierung, des Nullwachstums und des Klagens über die wirtschaftlichen Defizite dieser Stadt hat ein Mentalitätswechsel in Berlin stattgefunden, der sich insbesondere auch in einer zunehmend selbstbewussten Unternehmerschaft widerspiegelt. Schon seit einiger Zeit belegt der von den Kammern erhobene Geschäftsklimaindex diese positive Stimmung in der Berliner Wirtschaft. Und gerade erst vor wenigen Tagen hat eine neue deutschlandweite Mittelstandsbefragung der Beratungsgesellschaft Ernst & Young ergeben, dass Berlin im Ländervergleich in Bezug auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Infrastruktur und auch die Bildungslandschaft als Topstandort für mittelständische Unternehmen bewertet wird.

Dies unterstreicht abermals die Wirkung einer erfolgreichen Stadtpolitik unter der Regierung Klaus Wowereits in den letzten zehn Jahren. Kein Bundesland in Deutschland hat seit 2005 ein stärkeres Wirtschaftswachstum und einen höheren Zuwachs an Arbeitsplätzen erreicht. Allein im vergangenen Jahr entstanden in Berlin mehr als 40 000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze.

„Berlin ist Stadt des Aufstiegs“, so der Titel eines Papiers, das der Regierende Bürgermeister gemeinsam mit unserem Fraktionsvorsitzenden und dem Landesvorsitzenden der SPD kürzlich verfasst hat. Hierin werden die Kernpunkte unserer Wachstumsstrategie benannt, und der weitere Weg wird deutlich. Den Berlinerinnen und Berlinern wird gemeinhin eine große Klappe nachgesagt, doch seien Sie versichert, dass wir nicht größenwahnsinnig werden, sondern die wirtschaftliche Situation Berlins sehr realistisch sehen. Wir wissen, von welchem Niveau wir nach Jahren des industriellen Niedergangs und verfehlter Wunschvorstellungen in den Neunzigerjahren zu starten hatten. Noch immer belegt Berlin in jenen Erhebungen, die von Bestandsgrößen, insbesondere der Arbeitslosenquote, ausgehen, keinen vorderen Platz – im Gegenteil. Der Aufholprozess kann sich nur dadurch vollziehen, dass Berlin überdurchschnittliche Wachstumsraten erreicht. Dieser Prozess ist in Gang gekommen, wie all jene Untersuchungen zeigen, die eben nicht nur die Statusgrößen vergleichen, sondern die Dynamik messen. Hier belegt Berlin stets einen der vorderen Plätze.

Bei den Gründungen von Unternehmen liegt Berlin ganz an der Spitze. Insbesondere in den technologiegetriebenen Bereichen der Cluster Gesundheitswirtschaft, Optische Technologien, Energie, Mobilität, Informations- und

Kommunikationstechnik liegen die Wachstumsraten und Arbeitsplatzzuwächse bundesweit deutlich über dem Durchschnitt. Der Steuerungskreis Industriepolitik beim Regierenden Bürgermeister koordiniert die weiteren Aktivitäten in diesen wichtigen Feldern. Im Bereich Tourismus ist Berlin unter den deutschen Städten mit über 25 Millionen Übernachtungen die unumstrittene Nummer eins und hat europaweit immerhin Platz 3 hinter London und Paris. Und auch dieser Prozess ist noch nicht am Ende.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Berlin wirkt anziehend auf Menschen aus aller Welt, insbesondere auf junge Menschen. Wir sind eine wachsende, sich verjüngende Metropole. Diesen urbanen Wachstumserfolg nicht nur als Quantität zu feiern, sondern ihn als Herausforderung zu verstehen und aktiv zu gestalten, ist primär das Ziel unseres Regierungshandelns. Alle positiven wirtschaftlichen Kennziffern nutzen den Menschen in Berlin nur, wenn sie mit einer Stadtpolitik einhergehen, die für die wachsende Metropole ein lebenswertes Umfeld schafft mit ausreichendem Wohnraum, einem breiten Bildungsangebot, der Beteiligung älterer Menschen, und wenn der ökonomische Wachstumsprozess nur durch gute Arbeit gekennzeichnet ist. Es liegt nicht im Interesse der Menschen in dieser Stadt, dass immer mehr Mc-Jobs im Niedriglohnsektor und in der Leiharbeit entstehen, sondern es geht um tarifgebundene Dauerarbeitsplätze.

In den landeseigenen Unternehmen und bei öffentlichen Auftragsvergaben wird dies zuallererst umgesetzt. Bundesweit wird die SPD weiterhin für einen gesetzlichen Mindestlohn über alle Branchen kämpfen. Und wir werden Erfolg haben. Längst sickert auch in anderen politischen Lagern die Erkenntnis durch, dass Menschen nicht mit Hungerlöhnen abgespeist werden können, wenn wir ein wirtschaftlich prosperierendes Land bleiben wollen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Abschließend lässt sich resümieren: Berlin befindet sich auf einem stabilen Wachstumspfad. Unsere wirtschaftliche Basis, insbesondere auch die industrielle Basis, mit zunehmend exportorientierten, international wettbewerbsfähigen Unternehmen wächst kontinuierlich und wird auf Dauer Berlin auch finanziell unabhängiger machen. Es ist gewiss kein Zufall, sondern durchaus ein Zeichen des gewachsenen ökonomischen Ansehens und Selbstbewusstseins unserer Stadt, dass nun seit über 80 Jahren erstmalig wieder ein Berliner an der Spitze des Deutschen Industrie- und Handelskammertages steht. Die herzlichsten Glückwünsche auch von hier aus an Herrn Dr. Schweitzer!

[Beifall bei der SPD und der CDU – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Für die heutige Aktuelle Stunde zeichnet sich, wie der Präsident gleich sagen wird, die Mehrheit für ein anderes Thema ab, doch ich denke, das Thema der wirtschaftlichen Entwicklung dieser wachsenden Metropole in einem sozialen und ökologischen Umfeld begleitet uns in den meisten Debatten mit als unerlässliche Grundlage allen politischen Handelns. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Vielen Dank! – Für die CDU-Fraktion Herr Kollege Braun!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, Berlin hat Probleme: den Schuldenberg, die Vorgänge um den Flughafen BER, die Situation an den Schulen, das Dauerproblem S-Bahn, eine teils defekte Infrastruktur – schauen Sie nur auf unsere Straßen – und vieles andere mehr. Wir alle wissen, diese Probleme lassen sich nicht von heute auf morgen beheben. Deshalb permanent mit einem Gesicht wie sieben Tage Schneeregen herumzulaufen, hilft keinem und ist auch falsch.

Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa hat schon vor Jahren festgestellt, dass sich Berlin in einen Magneten für Leute aus der ganzen Welt verwandelt hat. Diese Tendenz hält an. Aus aller Welt kommen Leute, insbesondere sehr gut ausgebildete, nach Berlin, nicht nur als Touristen und um zu feiern, sondern auch, weil sie ihre Zukunft mit der Berlins verbinden wollen. Dies gilt nicht nur für junge Franzosen, Griechen, Spanier und Polen, sondern vor allen Dingen auch für viele junge Deutsche.

Ich kann es noch direkter sagen: Manchmal sehen wir, gerade hier im Abgeordnetenhaus, den Wald vor lauter Bäumen nicht. Eine gerade durchgeführte Befragung von Ernst & Young hat ergeben, dass die Zustimmung der mittelständischen Unternehmen zur Stadt im Vergleich zum Vorjahr stark gestiegen ist. Und während wir in den vergangenen Jahren immer wieder beklagten, in allen Umfragen die letzten Plätze einzunehmen, stehen wir jetzt immerhin auf Platz 6. Im letzten Jahr wuchs die Zahl der Arbeitsplätze um mehr als 40 000. 78 Prozent der Unternehmen sind zufrieden mit der Bildungspolitik. 2009 waren es lediglich 39 Prozent. Die Mittelstandspolitik des Senats bewerteten 81 Prozent positiv. Damit liegt Berlin an zweiter Stelle im Bundesranking. Gleiches gilt für die regionalen Rahmenbedingungen, die Infrastrukturpolitik und die Förderpolitik. Ich zitiere aus dem IHKJahresbericht 2012:

Berlins wirtschaftliches Wachstum hat 2012 dasjenige des Bundes … übertroffen. Um schät

zungsweise 1,5 Prozent legte die Leistungskraft des Landes … zu – deutschlandweit waren es nur 0,7 Prozent. … Bezogen auf den Zeitraum Januar bis Oktober 2012 sind die Exporte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 79,1 Prozent … gestiegen.

Und: Berlin ist die Gründerhauptstadt Deutschlands.

Wir, die CDU-Fraktion, freuen uns über diese guten Daten. Sie sind nicht nur, aber auch ein Beweis dafür, dass dieser Senat gut und erfolgreich arbeitet.

[Beifall bei der CDU und der SPD]

Als Anerkennung für den wirtschaftlichen Aufschwung in Berlin ist zu bewerten, dass Eric Schweitzer zum neuen Präsidenten des DIHK und Elke Hannack zur stellvertretenden DGB-Bundesvorsitzenden gewählt wurden bzw. gewählt werden. Auch das ist eine Verneigung des Bundes vor der Wirtschaftskompetenz in Berlin.

Übrigens: Auch das Interesse der französischen Métro, eines britischen und eines chinesischen Unternehmens an der Übernahme der S-Bahn und die Bebauung an der East Side Gallery sind Zeichen dafür, wie attraktiv Berlin für Investoren ist.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Auch wenn absprachegemäß das von der Koalition angemeldete Thema heute nicht Thema der Aktuellen Stunde sein wird – im Interesse aller Berliner und bei allem Verständnis für Oppositionsarbeit: Lassen Sie uns nicht immer nur über die Probleme der Stadt, sondern wenigstens manchmal auch über unsere Erfolge sprechen! Sie sind es, die der Stadt und den Berlinern Kraft geben. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU und der SPD]

Danke schön! – Für die Fraktion der Grünen Frau Kollegin Pop!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wundere mich dann doch etwas über die Lobhudeleien der vorangegangenen beiden Reden. Ja, man soll nicht alles schlechtreden,

[Zuruf von der SPD: Genau!]

aber wenn alles wirklich so fantastisch und so toll ist, wie Sie es hier dargestellt haben, warum lassen Sie nicht die eigenen Leute, die Beschäftigten des Landes Berlin, an dieser fantastischen Entwicklung teilnehmen, frage ich Sie dann, meine Damen und Herren von der SPD und von der CDU.