Protocol of the Session on November 8, 2012

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall den GRÜNEN]

Das wäre doch die interessantere Frage!

Neukölln war lange Spitzenreiter in dieser Praxis und wurde uns heute hier als schickes Beispiel dargestellt. Aber wie im August im „Tagesspiegel“ von der SPDBildungsstadträtin Franziska Giffey zu erfahren war, hat sich das Vorgehen nicht bewährt. Ich kann das aus den genannten Gründen auch gut nachvollziehen. Warum bleibt man dann, trotz gegenteiliger Erfahrungen, dabei, und wieso haben Sie hier nur diese Idee? – Wie Bußgelder in einer Familie, die von Hartz IV lebt, greifen sollen, kann ich mir, genau wie Herr Mutlu, überhaupt nicht vorstellen. Auch hier gibt es überhaupt keine Auswirkungen, Frau Bentele. Oder können Sie hier mit Erfolgen aufwarten?

Diverse Kleine Anfragen nennen Zahlen zum Schulschwänzen oder zur Schulverweigerung, bei denen ein sozialer Zusammenhang deutlich wird, und da sind wir bei weiteren Ursachen: Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen in soziale Not geraten oder langzeitarbeitslos sind und selbst große psychische Probleme haben, können ihren Kindern meist nicht die Bedingungen schaffen, die sie bräuchten, um gut lernen zu können. Oft wollen oder können sie mit der Schule oder dem Jugendamt auch nicht mehr kooperieren. Und wenn, Herr Langenbrinck, das Kindeswohl gefährdet ist, dann müssen Hilfen zur Erziehung einsetzen. Aber unter welchen Bedingungen die Jugendhilfe arbeitet – mit Mitteln, die vorne und hinten nicht reichen, wenn der Median nicht überschritten werden darf –, wissen wir aus unseren Bezirken mehr als genug.

Schuldistanz kann durch das soziale Umfeld, durch falsche Freunde, aber auch durch Schulangst, ständiges Leistungsversagen oder eben auch durch besondere Persönlichkeitsmerkmale hervorgerufen werden. Gerade bei letzteren Gründen wird deutlich, dass unsere Schule noch keine Schule für alle ist. Sie muss anders werden, und wie Schule anders zu machen geht, zeigt zum Beispiel das produktive Lernen. Ich kann allen nur empfehlen – und ich glaube, bei einigen hier ist das sehr notwendig –, denn ich frage mich: Wer von denen, die heute für die SPD oder die CDU gesprochen haben, hat sich denn schon einmal mit ehemaligen Schulverweigerern unterhalten?

[Joschka Langenbrinck (SPD) meldet sich: Ich! Überraschung!]

Ja, schön! Dann frage ich mich aber, wieso Sie dann hier solche Forderungen stellen können?

Bleiben wir beim produktiven Lernen! Alle, die wissen wollen, wie man es schafft, dass Jugendliche wieder gern lernen, die schon lange nicht mehr in der Schule waren, die eine Vergangenheit mit dem Jugendamt haben, deren

Eltern und Lehrer entnervt aufgegeben haben, die sich selbst schon aufgegeben haben, können das an dieser Schule sehen – ich halte es einmal hoch – und mit produktivem Lernen durchaus erfahren.

Hier lernt man an drei Tagen in der Woche an einem Praxisplatz, den engagierte Mittelständler anbieten und betreuen, und an zwei Tagen in der Schule, wo die Schülerinnen und Schüler anfangen, der Praxis nachzuforschen, und zwar selbständig, mit Hilfe ihrer Lehrer und Lehrerinnen und zusammen mit ihren Mitschülern und Mitschülerinnen. Und dann hören Sie den Nun-wiederSchülerinnen und -schülern zu, die noch nicht einen unentschuldigten Fehltag nach ein bis zwei Jahren dort hatten und einen Schulabschluss erreichen können, wie stolz sie darauf sind und wie dankbar sie gegenüber jenen sind, die mit ihnen diese andere Schulform leben! Das ist Prävention!

Hier waren übrigens in diesem Jahr die Mittel gefährdet; sie sollten gestrichen werden.

[Zuruf von Joschka Langenbrinck (SPD)]

Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, melden Sie sich doch einfach, Herr Langenbrinck!

[Beifall bei der LINKEN]

Anstatt zu überlegen, wie wir die polizeiliche Zuführung besser organisieren können, anstatt ein Programm oder ein Projekt über freie Träger über einen Förderzeitraum von drei Jahren zu finanzieren, anstatt Pädagoginnen und Pädagogen stundenlang mit dem Ausfüllen von Schulversäumnisanzeigen und Schulversäumnisstatistiken zu beschäftigen, sollten wir die Kräfte, Zeit und Mittel dafür verwenden, um die Schule so zu verändern, dass sie unterschiedliche Angebote für unterschiedliche junge Menschen hat, dass sie keine Beschämung zulässt, dass sie Motivation durch Erfolg schafft, dass sie Bindungen entstehen lässt, dass Pädagoginnen und Pädagogen mehr gemeinsame Zeit mit ihren Schülerinnen und Schülern verbringen können und das im Übrigen auch als Arbeitszeit anerkannt bekommen. Von solchen Visionen leben ganze Filme – lassen wir sie doch einmal in Berlin wahr werden! – Danke schön!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Vielen Dank! – Für die Fraktion der Piraten jetzt der Kollege Delius. – Bitte schön!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Verehrte Kollegen! Frau Kittler! Ich kann Ihnen das Gleiche sagen, wie Sie Herrn Mutlu gesagt haben: Ich kann mich Ihren Ausführungen

und damit auch den Ausführungen von Herrn Mutlu voll umfänglich anschließen.

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Ich gehe einfach mal auf die Fragen ein und bedanke mich bei der Senatorin, die erstaunlich akribisch auf die Anfrage geantwortet hat. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich so viel Mühe gibt. Das war sehr hilfreich.

Sie fragen nach den Ursachen. Die Frage, die sie gestellt haben, ist eine typische Klausurfrage für Lehramtsanwärter in den ersten Pädagogiksemestern. Das habe ich mir sagen lassen, das habe ich selbst nicht erfahren, aber es scheint so in den Lehrplänen zu stehen. Wie sinnvoller wäre doch die Frage gewesen, wie der Senat die vielfältigen Ursachen erfasst, die in bestimmten Bereichen dazu führen, dass bei Schülerinnen und Schülern Schuldistanz entsteht! An welchen Schulen kommt das vor, in welchen Bezirken, und wie wird das Ganze aufgearbeitet? In welchen Zusammenhang mit eventuellen Präventions- und auch Repressionsmaßnahmen, wie wir gehört haben, wird das vonseiten des Senats gebracht? Das wäre eine sinnvolle Frage gewesen, gleich zu Anfang.

Frau Kittler hat es schön aufgezählt, die Ursachen sind bekannt: Mobbing, Gewalt, Angst vor Versagen, fehlende Motivation, Stress und Streit, Konflikte in der Familie, der soziale Hintergrund, vielleicht auch temporäre Ursachen, die dazu führen, dass Kinder eine gewisse Schuldistanz entwickeln und dann auch wieder aufgeben.

Prävention ist hier angesprochen worden, das ist mein Stichwort, darauf werde ich mich konzentrieren. Eine gute Präventionsarbeit wäre die Einbindung von Jugendhilfemaßnahmen in Schulen, der Ausbau von Schulstationen und Schulsozialarbeiterinnen, der Ausbau von Förderstunden usw. Das haben wir alles schon einmal gehört, steht auch in verschiedenen Protokollen von verschiedenen Anhörungen der letzten Jahre – ich war ja nicht dabei, aber ich lese sukzessive nach. Ansonsten kann man grundsätzlich sagen, dass eine gute Präventionsarbeit mit der Versorgung von Schulen mit ausreichend qualifizierten Lehrkräften anfängt, mit Räumen, gutem Schulessen, mit allgemein die Attraktivität fördernden Maßnahmen an den Schulen.

Sie fragen nach der Unterstützung für Eltern. Das ist eine interessante Frage. Wir haben in den Redebeiträgen ganz viel darüber gehört, wie die Zwangsmaßnahmen gegenüber den Eltern aussehen – Bußgelder, und wenn es zu häufig vorkommt, kann auch das SMS-Bombardement aus dem elektronischen Klassenbuch eine Zwangsmaßnahme sein. Wie sehen denn aber echte Konzepte zur Unterstützung betroffener Familien und Eltern aus? – Was ich gefunden habe, ist recht kurz, die Liste besteht aus zwei Punkten: Verhängung von Bußgeldern – hatten wir schon. Dann: Entzug des Sorgerechts – darüber haben wir heute auch schon geredet. Das sind zwei repressive

Maßnahmen, von denen ich nicht weiß, wie Eltern, die echte Schwierigkeiten haben – die besonders schweren Fälle sind schon angeführt worden –, ihre Motivation steigern sollen, sich darum zu kümmern bzw. wie ihnen geholfen werden soll, sich um die eigenen Probleme zu kümmern. Das hätte ich gerne gehört!

Sie reden von der Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern: Wir sind gerade in der Diskussion über eine Lehrerbildungsreform, und eine sinnvolle Frage in dieser Großen Anfrage wäre gewesen, welche Maßnahmen z. B. bei den Universitäten zur besseren Strukturierung der Lehrerbildung in genau diesem Bereich notwendig sind – Sie fragen ja nach spezifischen Kompetenzen – oder welche man sich da vorstellen kann. Dann hätten wir eine Handlungsempfehlung für die aktuelle Debatte gehabt.

Abgestimmtes Vorgehen in den Bezirken – auch das ist Ihnen ein ganz wichtiger Punkt. Herr Mutlu hat es schon ausgeführt: Es gibt doch unglaublich unterschiedliche Gründe für Schuldistanzierungen, Schulpflichtverletzungen in den Bezirken. Unterschiedliche Maßnahmen sind dann doch einfach nur angebracht, gerade im Bereich der Prävention! Wenn es in Steglitz-Zehlendorf vor allem der Leistungsdruck ist – jetzt spekuliere ich –, der bei Kindern dazu führt, nicht zur Schule gehen zu wollen,

[Zuruf von Benedikt Lux (GRÜNE)]

dann sind es in Neukölln vielleicht Sprachbarrieren. Da können Sie doch nicht überall die gleichen Maßnahmen ansetzen. Das ist ein Quatsch-Vorstellung!

Reaktionen auf Schulverweigerung – da ist vonseiten der Piratenfraktion und auch der Piratenpartei klar zu sagen: Polizeiliche Maßnahmen müssen die allerletzte Option sein. Sie können doch nicht – bevor Sie nicht darüber geredet haben, was Sie sich alles an Prävention vorstellen können – schon jetzt darüber reden, dass Sie klare Richtlinien dafür haben möchten, wann die Polizei einschreitet!

[Alexander Morlang (PIRATEN): Wir haben doch die Bundeswehr! – Beifall und Heiterkeit bei den PIRATEN und der LINKEN]

Wir können auch die Bundeswehr im Innern einsetzen, genau! Guter Vorschlag!

Dann fragen Sie nach dem Jugendgericht Hannover. Entschuldigen Sie bitte! Wie soll denn ein Sorgerechtsentzug nach 20 Tagen die Probleme und Ursachen und die schwerwiegenden Sorgen von Kindern und Jugendlichen und den betroffenen Eltern lösen? Da danke ich für den Hinweis von Frau Bentele, da kann ich Ihnen auch zustimmen, das ist ein echtes Problem – Sorgerechtsentzug kann ich mir nicht als pauschale Lösung vorstellen. Das macht das Ganze nur schlimmer.

Ich gehe darüber hinweg, was Sie noch so alles für Repressalien fordern bzw. wie Sie sich das vorstellen. Es wäre noch eine interessante Frage, an welchen Stellen Schulpflichtverletzungen gehäuft auftreten. Bei welchen Schulen tritt das gehäuft auf? Was ist da denn die Voraussetzung? Wie kann man darauf einwirken? Ich meine nicht die Eltern, Sie konzentrieren sich auf die Eltern, ich meine, dass die Ursachenbekämpfung bei der Schule anfängt. Da wollen doch die Kinder nicht hingehen!

Ein Kapitel Ihrer Großen Anfrage lautet „Datenaustausch und Datenschutz“. Grundsätzlich ist zur Schülerdatei zu sagen, dass die Umsetzung genauso wie die rechtlichen Rahmenbedingungen extrem kritisch zu sehen sind. Sie sind darauf eingegangen, dass es jetzt große Einschränkungen auf den Zugriff der Daten geben soll. Das ist schon mal ein erster Schritt, enthebt aber nicht von der Datensparsamkeit, die ein Grundprinzip sein sollte, und verhindert auch nicht, dass diese Daten trotzdem geknackt werden und in die Öffentlichkeit gelangen können. Wenn sogar die Server des BKA von irgendwelchen kriminellen Hackern geknackt werden können, dann kann das auch mit den Schülerdateien und Schülerdaten passieren, und dann haben Sie ein echtes Problem. Ich würde ganz vorsichtig damit sein, das als Allheilmittel und Hilfe für die Veränderung von Schulpflichtverletzungen in den Raum zu stellen.

Es wurde auch die Frage nach Rotterdam gestellt, und das ist wieder interessant, weil wir da zu den Punkten kommen, die die Piratenfraktion bzw. die Piratenpartei gesondert fordern: Der Blick ins Ausland ist ja löblich, aber Sie können die Situation in Rotterdam und in den Niederlanden doch wirklich nicht mit der in Berlin vergleichen. In den Niederlanden gibt es die Möglichkeit der Freistellung – –

[Özcan Mutlu (GRÜNE): Buschkowsky war in Rotterdam!]

Ja, das ist ja auch der Grund für die Frage, das ist völlig klar. Buschkowsky war da, und er hat eine tolle Lösung mitgebracht. – Wussten Sie, dass es in den Niederlanden die Möglichkeit der Freistellung von der Schulpflicht gibt? Wussten Sie das? Das ist doch mal eine Maßnahme für die extrem schweren Fälle, kontrollierte Freistellung von der Schulpflicht zu ermöglichen, damit sie in anderen Bildungsprogrammen, fernab von einer Schulbesuchspflicht, vielleicht die Möglichkeit finden, erst einmal wieder den Zugang zum Erwerb von Bildung und Wissen zu bekommen. Das ist das, was die Piraten fordern. Sie haben das ein bisschen verkürzt dargestellt, aber das wäre die Maßnahme!

In Rotterdam hat man eine extreme Vielzahl an freien und kleinen Schulen, die zu 100 Prozent staatlich gefördert werden, wo alternative Lernorte entstehen, die vielleicht attraktiver sind als die Schule direkt neben der Haustür. Darüber können Sie mal nachdenken!

Zum elektronischen Klassenbuch kann ich nur sagen: Schön gedacht, hat in anderen Bundesländern auch schon mal nicht funktioniert und ist dort wieder eingestampft worden, gerade bei dem Untis, das Sie mir in der Kleinen Anfrage geschildert haben. Ich weiß gerade nicht, welche Software verwendet wurde, ob Magellan oder Untis; es wäre schön, wenn wir das im Bildungsausschuss noch mal genauer diskutieren würden. Auch das wurde schon mal aus Datenschutzgründen abgeschafft, darauf muss man achten. Ansonsten schießen Sie natürlich mit Kanonen auf Spatzen. Wenn Sie eine SMS verschicken wollen, dann kann das ein handelsübliches Handy oder eine Open-Source-Software, die Sie auch im schulinternen Netz steuern können, sodass das Sekretariat keine Mehrarbeit hat. Das können Sie sich auch ausdrucken lassen und dokumentieren, es funktioniert alles rechtssicher.

Worüber Sie vielleicht auch noch nicht nachgedacht haben: Was passiert denn, wenn das elektronische Klassenbuch zum SMS-Versand, was, wie gesagt, Kanonen auf Spatzen ist, eine Fehlfunktion hat und Eltern eine SMS bekommen, obwohl das Kind in der Schule ist? Da möchte ich schon gerne einen echten Menschen haben, der dann auch weiß, dass das Kind tatsächlich nicht da ist, warum das Kind nicht da ist, welches Elternteil welche Telefonnummer hat und welche Uhrzeit die richtige ist. Da hilft ein elektronisches Klassenbuch nicht.

Was im Übrigen die Frage nach den Brennpunktschulen sollte, Herr Langenbrinck, ist mir völlig unklar. Was genau wollen Sie damit bezwecken? Wollen Sie besonders viel Überwachung an Brennpunktschulen einführen? Ihre Rede hat ein bisschen danach geklungen, mir ist das nicht ganz klar. Grundsätzlich ist noch zu sagen, dass die Attraktivität von Schulen und Schulgebäuden auch nicht erhöht wird, wenn man die Überwachung drinnen erhöht und den ganzen Tagesablauf der Schülerinnen und Lehrer im Internet verfügbar macht. Das hilft auch nicht.

Sie müssten zum Ende kommen, Herr Kollege!

Danke schön!

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Große Anfrage ist damit begründet, beantwortet und besprochen.

Ich rufe auf

(Vizepräsident Andreas Gram)

lfd. Nr. 9:

Genügend S-Bahnzüge ab 2017/2018: Übernimmt der Senat die Verantwortung?