Protocol of the Session on June 23, 2011

[Beifall bei der FDP]

Wir stehen als Berliner FDP für eine interessengesteuerte Zuwanderung.

[Wolfgang Brauer (Linksfraktion): Haben Sie mal über Ihre Sätze nachgedacht?]

Das Anwerbeabkommen mit der Türkei ist ein Paradebeispiel für eine bedarfs- und interessengesteuerte Zuwanderung.

[Wolfgang Brauer (Linksfraktion): Das ist dermaßen chauvinistisch!]

Erst als die interessengesteuerte Zuwanderung in eine ungesteuerte Zuwanderung umschwang, entstanden die Probleme, Herr Brauer! – Wer mit seiner Qualifikation, seinen Fähigkeiten und seinen Fertigkeiten mithelfen kann, den Wohlstand in diesem Land zu sichern und auszubauen, der ist uns willkommen.

[Beifall bei der FDP]

Daher müssen wir heute – so wie vor 50 Jahren – definieren, welche beruflichen Profile wir für unsere Wirtschaft brauchen. Für diese benötigten Fachkräfte und ihre Familien wollen wir den Zuzug erleichtern und bürokratische Hürden abbauen. Wir Liberalen möchten gerade den Einwanderern mehr Chancen bieten, die wegen individueller Entfaltungs- und Aufstiegschancen, wegen Rechtsstaatlichkeit und Freiheitlichkeit nach Deutschland kommen wollen.

[Beifall bei der FDP]

Einen weiteren Zuzug in unsere Sozialsysteme wollen wir dagegen verhindern. Zu oft sind in den letzten 30 Jahren Menschen zu uns gekommen, die dieses Land vor allem deshalb schätzen, weil in Deutschland das Geld in Form von Sozialleistungen auf dem Silbertablett serviert wird.

[Wolfgang Brauer (Linksfraktion): Das ist unerhört!]

Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass in den ersten fünf Jahren nach dem Zuzug kein Anspruch auf Sozialhilfe oder Hartz IV entsteht.

[Özcan Mutlu (Grüne): Sollen sie dann auch fünf Jahre nicht in die Sozialkasse einzahlen?]

Wer nicht als Flüchtling aus humanitären Gründen zu uns kommt, muss in der Lage sein, seinen Lebensunterhalt vollständig selbst zu verdienen.

Fast jede Zuwanderergruppe hat sich nach ein oder zwei Generationen weitgehend in die deutsche Gesellschaft integriert. Gerade die gelungene Integration dieser Zuwanderergruppen macht deutlich: Die deutsche Gesellschaft und der Staat machen vielfältige Angebote für jeden Zuwanderer, der Wert darauf legt, dass er selbst und seine Kinder in dieser Gesellschaft ankommen. Integrationsdefizite beruhen daher regelmäßig nicht auf einem

Mangel an Chancen, sondern auf einer unzureichenden Wahrnehmung von Chancen.

[Beifall bei der FDP]

Wir werden in den nächsten Jahren die Wahrnehmung der Chancen verstärkt abfordern müssen, um die gerade bei bestimmten Zuwanderergruppen bestehenden Integrationsdefizite endlich zu beseitigen. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei ist deshalb heute noch kein Anlass, um Berlin als Hauptstadt der Integration zu feiern. – Danke!

[Beifall bei der FDP – Wolfgang Brauer (Linksfraktion): Pfui Teufel!]

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kluckert! – Das Wort für den Senat hat die Senatorin Bluhm.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 30. Oktober 1961 schloss die Bundesrepublik mit der Regierung der türkischen Republik ein Abkommen über die Anwerbung und Vermittlung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Gerade für Berlin erhielt dieses Abkommen eine große Bedeutung, weil der Westteil der Stadt nach dem Mauerbau 1961 von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem Ostteil und dem Umland abgeschnitten war. Genau diese Lücke füllten die neu angeworbenen Arbeitskräfte aus der Türkei. Die Situation der damals als Gastarbeiter Titulierten war während der 60er-Jahre sehr schlecht. Sie wurden in überbelegten und minderwertig ausgestatteten Wohnheimen untergebracht und mussten schwerste, bislang auch als gesundheitsgefährdend zu bezeichnende Arbeit leisten – oft mit Überstundenschicht und Akkordarbeit. Vom Erlernen der deutschen Sprache war nicht die Rede.

Mit der Weltwirtschaftskrise 1973 war dann der Höhepunkt der Arbeitsmigration erreicht, und die Bundesregierung verhängte einen Anwerbestopp. Die erste Generation legte den Grundstein für eine neue Vielfalt – kulturell, ethnisch und religiös –, und es hat sehr lange gedauert, bis die Menschen in dieser Stadt die Bereicherung durch diese Vielfalt zu schätzen gelernt haben. 1961 lebten nur 284 türkische Einwohner in Berlin. Heute beträgt allein die Zahl der Unternehmerinnen und Unternehmer mit türkischem Hintergrund 8 500 mit 30 000 Beschäftigten. In Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft ist Berlin ohne das türkische Element nicht mehr vorstellbar. 50 Jahre nach dem Anwerbeabkommen ist Berlin geprägt von diesen vielen kleinen Geschichten, die vom Ankommen in der deutschen Gesellschaft erzählen – oft vom mühevollen Aufstieg und von Ablehnung. Sie erzählen alle auch davon, wie aus Berlin eine moderne Metropole geworden ist, die gerade wegen ihrer Vielfalt so attraktiv für ihre Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch Besucherinnen und Besucher ist. Dafür sagt Berlin Danke.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Für Berlin ist es eine Erfolgsgeschichte, aber diese Erfolge gab es lange Zeit nicht wegen, sondern trotz der Politik. 1990 hatten wir zwar die bei weitem größte Zahl der Einwanderer in Europa, aber große Teile der politisch Verantwortlichen redeten immer noch davon, dass wir kein Einwanderungsland seien. Hierin bestehen die wirklichen politischen Versäumnisse, deren Folgen wir noch heute tragen, gerade auch in Berlin.

Als Rot-Rot die Berliner Landesregierung übernahm, standen wir vor sehr großen Integrationsproblemen. Nicht alle hatte der Vorgängersenat allein zu verantworten, denn das größte Problem war natürlich, dass die KohlRegierung wider alle Befunde aus dem realen Leben am Mantra: „Wir sind kein Einwanderungsland!“ festgehalten hatte. Der CDU-geführte Senat hatte aber diese Politik unterstützt und zum Teil sogar verschärft. Darüber hätte ich mir heute ein paar Worte vom Kollegen der CDU gewünscht.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Ich erspare es Ihnen, die Liste Ihrer Innensenatoren aufzuzählen, die der Fiktion anhingen, man könne mit immer weitergehenden Verschärfungen und Abschottungen Flüchtlinge dazu bringen, unsere Stadt zu verlassen. Es war der CDU-geführte Senat, der bis Ende der 90er-Jahre Kindern von Geduldeten den Zugang zur Ausbildung verwehrt hat. Auch das hatte Folgen, an denen wir heute noch zu tragen haben.

Ein grundsätzlicher Wechsel dieser Politik hat erst mit Rot-Rot begonnen. Hauptstadt der Integration ist Berlin heute, weil wir als rot-roter Senat eine klare Grundlage unserer Politik haben, die sagt: Berlin ist eine Stadt der Vielfalt, der gleichen Rechte für alle, und alle bekommen eine Chance auf Bildung, auf Ausbildung und auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Berlin ist eine Einwanderungsstadt, in der es keine privilegierten und auch keine nachrangigen Rechte geben darf, sondern in der alle Bürgerinnen und Bürger – egal, woher sie oder ihre Eltern oder Großeltern kommen – teilhaben und mitgestalten sollen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Gleiche Bürgerrechte für alle, das ist Basis unserer Politik. Unser Wertefundament ist der Rechtsstaat, die Verfassung und nicht eine wie auch immer geartete Leitkultur. Allein die Verwendung dieser Begrifflichkeiten hat die Debatte in der Bundesrepublik sehr negativ geprägt, und wir haben ja auch gerade bei meinem Vorredner noch mal deutlich gesehen, welche Folgen diese Prägung hat.

[Wolfgang Brauer (Linksfraktion): Genau!]

50 Jahre nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens noch immer nicht zu akzeptieren, dass wir dieses Einwanderungsland mit der damit verbundenen Verantwortung sind, das nenne ich die wahre Integrationsverweigerung.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Es ist richtig, dass Berlin viele Probleme auch im Zusammenhang mit Einwanderung hat. Der Mauerfall und die damit einhergehende Deindustrialisierung haben im Westen vor allem sogenannte Gastarbeiter getroffen. Im Westteil der Stadt waren sie, die Westberlin ökonomisch gerettet hatten, die Verlierer der Einheit. Als Rot-Rot die Regierung übernahm, lag die Arbeitslosenquote unter den Eingewanderten bei über 40 Prozent. Die Schulabbrecherquoten unter Migranten lagen weit über 30 Prozent, und nur ganz wenige machten Abitur. Wir haben die Weichen neu gestellt, und zwar mit Erfolg. Als erstes Land haben wir nach PISA eine umfassende Bildungsreform umgesetzt und damit im Bildungsbereich die gesetzlichen Grundlagen und auch die materiellen Rahmenbedingungen für eine bessere Integration geschaffen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Wir haben mit der Kita als Bildungseinrichtung, die beitragsfrei ist und Sprachförderung anbietet, einen wesentlichen Beitrag geleistet.

[Beifall von Dr. Gabriele Hiller (Linksfraktion)]

Mit Schule, die zunehmend im Ganztagsbetrieb stattfindet, und ebenso mit der Gründung von Gemeinschaftsschulen und den Sekundarschulen! Gratulation übrigens an die CDU auf Bundesebene, dass sie sich dem Thema Abschaffung von Hauptschulen jetzt auch annähert! Mal sehen, was die Berliner CDU dazu zu sagen hat!

[Frank Henkel (CDU): Wir sind da schon viel weiter, Frau Kollegin! – Gelächter bei der Linksfraktion – Zurufe von der Linksfraktion]

Das wäre mir aufgefallen.

Entscheidend ist, dass wir die Integration zu einem Wesensmerkmal der gesamten Senatspolitik gemacht haben. Die Integrationskonzepte von 2005 und 2007 und das Partizipations- und Integrationsgesetz zeigen dies deutlich. Die Daten zeigen Erfolge der Integration und ebenso die Schwachstellen auf. Wir haben die Integration überprüfbar gemacht. Insgesamt ist die Tendenz positiv. Die Erfolge unserer Integrationspolitik stellen sich ein.

Ich kann nur einige Beispiele nennen, die mir besonders wichtig sind. So ist erfreulicherweise der Anteil derer, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen, in den letzten Jahren gesunken. In den letzten zehn Jahren ist dieser Anteil mehr als halbiert worden. Gleichzeitig stieg die Zahl derer, die einen höherwertigen Schulabschluss erreichen, signifikant. Mit 30,4 Prozent ist der Anteil von Schülerinnen und Schülern nicht deutscher Staatsangehörigkeit, die ein Gymnasium besuchen, sehr hoch. Hier liegt Berlin im Vergleich der alten Bundesländer vorn, und hier ist auch ein Vergleich mit den süddeutschen Ländern sinnvoll, deren Bildungssysteme viele von Ihnen ja so schätzen. Die Situation in Baden-Württemberg und in Bayern mit ihren erheblich besseren ökonomischen Rahmenbedingungen ist so, dass in Bayern 18,4 und in

Baden-Württemberg 13,9 Prozent der Kinder aus Einwanderungsfamilien Gymnasien besuchen.

Insgesamt hat die Einwandererbevölkerung in Berlin ein enormes Qualifikationspotenzial, über das öffentlich zu wenig gesprochen wird. Überdurchschnittlich sind im Ländervergleich die Anteile der gut ausgebildeten Migrantinnen und Migranten. Schauen wir uns die Situation bei den 18- bis 65-Jährigen an, so liegt die Hochschulreife bei den Migranten bei über 40 Prozent. Bei einem Bundesdurchschnitt von 25 Prozent sind wir dort deutlich spitze.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Es gilt, dieses Potenzial besser zu nutzen. Das leider immer noch nicht in Kraft getretene Anerkennungsgesetz des Bundes für die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse kann hier einen wichtigen Impuls geben. Wir wollen, dass Qualifikationen und Berufsabschlüsse anerkannt werden.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

50 Jahre nach dem Anwerbeabkommen steht die Stadt vor gewaltigen Herausforderungen. Die Versäumnisse der Vergangenheit sind noch nicht verheilt. Wir müssen die demokratischen Beteiligungsrechte der bisher ausgeschlossenen Einwanderer weiter stärken. Wir müssen mit den sozialen Verwerfungen in Europa umgehen, und deren Folgen spüren wir in Berlin. Als internationale Metropole wollen wir das Klima der Weltoffenheit und der Willkommenskultur weiter stärken.

Das sind keine Randfragen, sondern Kernfragen, vor denen wir als Hauptstadt stehen. Eine Metropole wie Berlin ist immer auch eine Hauptstadt von Migration und Integration. Ja, es wäre vermessen zu sagen, wir haben auf alles eine Antwort. Aber es ist ganz sicher, dass mit Positionen wie „Wir sind kein Einwanderungsland“ und mit Debatten, wie sie im vergangenen Jahr geführt worden sind, die Stadt nicht vorankommt. Ganz im Gegenteil, sie haben viele Bürgerinnen und Bürger tief verletzt! Deutschland schafft sich nicht ab. sondern Deutschland erfindet sich neu. So heißt auch das neue Buch von Frau Sezgin, und der Titel trifft auch auf Berlin zu. Berlin erfindet sich neu – nach Anwerbeabkommen und Mauerfall und mit unzähligen Menschen, die aus allen Ländern der Welt kommend Berlin zu dem gemacht haben, was es ist: eine weltoffene, lebenswerte, multikulturelle Stadt. – Uns gelingt die Integration.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4271 empfiehlt der Ältestenrat die Überweisung an den Ausschuss für Integration, Arbeit, Berufliche Bildung und Soziales. – Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.