Protocol of the Session on September 11, 2008

Obwohl die Definition des Armutsrisikos fragwürdig ist, wird man sich über die Entwicklung der Zahlen streiten. Die Probleme, die Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher und die wirklich Armen haben, werden dabei untergehen. Hinzu kommt, dass die von Ihnen geforderten Daten über die soziale Lage von Kindern, Jugendlichen, Älteren und Menschen mit Behinderungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit oder Einkommen zu großen Teilen bereits vorliegen. Sie selbst sprechen in dem Antrag die Sozialberichterstattung an. Des Weiteren gibt es die Berichterstattung über die Schuleingangsuntersuchungen, die des Landesbehindertenbeauftragten, des Statistischen Landesamtes oder der Bundesagentur für Arbeit. Insofern bezweifle ich, dass mittels dieser Berichterstattung wirklich neue Erkenntnisse gewonnen werden können.

Ich halte es auch für wenig praktikabel, den sozialpolitischen Akteuren und der Öffentlichkeit diesen Bericht als Informationsgrundlage zur Verfügung zu stellen. Deren Ansprüche an einen solchen Bericht sind zu unterschiedlich, als dass er ihnen genügen könnte.

Meiner Meinung nach sollten hierfür auch nicht die sozialpolitischen Akteure, sondern die bildungspolitischen und die pädagogischen Fachleute an erster Stelle genannt werden.

[Beifall bei der FDP]

Wesentlich sinnvoller finde ich deshalb eine Armutsberichterstattung, die mit wissenschaftlicher Begleitung erfolgt und auch Aussagen zur Armutsgefährdung trifft. Nur so können echte Handlungsoptionen fernab von rot-rotem Wunschdenken aufgezeigt werden. Die Bewertung politischer Maßnahmen sollte nicht dem Leser überlassen bleiben, sondern durch Fachleute erfolgen, die das Ergebnis, zu dem sie gekommen sind, unbedingt mit in den Bericht aufnehmen. Solange es keine objektive, am Bedarf orientierte Armutsdefinition gibt und ein solcher Bericht nicht zu wirklicher Armutsbekämpfung beitragen wird, können wir einem solchen Gesetz leider nicht zustimmen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Lehmann! – Zur Überweisungsempfehlung des Ältestenrats an den Ausschuss für Integration, Arbeit, berufliche Bildung und Soziales sowie an den Hauptausschuss höre ich keinen Widerspruch.

Die lfd. Nrn. 7 bis 11 stehen auf unserer Konsensliste.

Wir kommen zur

lfd. Nr. 12:

I. Lesung

Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Zuständigkeit der Berliner Gerichte

Vorlage – zur Beschlussfassung – Drs 16/1694

Ich eröffne die I. Lesung. Für die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Herr Abgeordnete Behrendt hat das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Reihen sind etwas gelichtet.

[Uwe Doering (Linksfraktion): Ihr habt so spannende Themen!]

Mit dem hier vorliegenden Gesetzesentwurf möchte die Regierungskoalition ohne Not die Axt an die nach der Wende gewachsene Justizstruktur des Landes legen.

[Zurufe von der Linksfraktion: Au weia!]

Worum geht es? – Die Senatsverwaltung hat vorgeschlagen, das Amtsgericht Hohenschönhausen ersatzlos zu schließen, abzuwickeln und die Kollegen und Kolleginnen im Wesentlichen an das Amtsgericht Lichtenberg zu versetzen. Der neue Gerichtssprengel, der Bereich, für den das neue Gericht zuständig ist, reicht dann von nördlich des Alexanderplatzes, dem Barnimkiez, bis an den östlichen Stadtrand. In diesem Gebiet wohnen etwa 650 000 Menschen. Das sind für ein Amtsgericht deutlich zu viel. Der Kollege Felgentreu steht schon bereit und wird gleich sagen, das sei nur vorübergehend, anschließend wird Friedrichshain dem Amtsgericht TempelhofKreuzberg zugeschlagen. Damit hätten wir dann einen Gerichtssprengel, der vom Volkspark Friedrichshain bis zum südlichen Stadtrand reicht. Auch das ist ein sehr großes stadträumliches Gebiet, bei dem man keinen sinnvollen Zusammenhang erkennen kann.

Grundsätzlich ist es eine Stärke der Berliner Justiz, dass sie in der Fläche präsent ist. Das hat zwei Vorteile: zum einen die Erreichbarkeit – die Koalition hat in den Koalitionsvertrag geschrieben, sie wolle eine bürgernahe, erreichbare Justiz haben –, zum anderen den, dass die Richterin, die über Sachverhalte aus dem Kiez, aus dem Gerichtssprengel zu entscheiden hat, diesen auch kennt. Insbesondere im Mietrecht spielt das eine Rolle, wenn die Richterin/der Richter im Mietspiegel positive oder negative Merkmale einzuordnen haben. In einem Gebiet, in dem 650 000 Menschen wohnen, können sie hingegen die einzelnen Ecken gar nicht kennen. Deshalb ist es sinnvoll, kleine Einheiten zu haben.

[Beifall bei den Grünen und der FDP]

Was führt die Koalition zur Begründung an? – Es heißt, man möge in Zukunft als Zielvorstellung pro neuem Bezirk ein Amtsgericht haben. Nun muss man sich ansehen, wie viele Amtsgerichte wir heute haben. Das sind zwölf. Wie viele Berliner Bezirke haben wir? – Das sind auch zwölf. Das passt. Ohne Not soll jetzt ein Berliner Amtsgericht abgeschafft werden. Künftig haben wir elf Amtsgerichte und zwölf Bezirke. Die hier gesetzte Zielrichtung kann nicht funktionieren – außer, es wollte jemand einen Bezirk mit abschaffen. Das ist bislang nicht diskutiert worden.

Bislang gab es in den vergangenen zehn Jahren den Konsens – sowohl bei den Haushältern als auch den Rechtspolitikern –, dass es einen Bedarf für ein Gericht in diesem Gebiet gibt. Wir sind uns völlig darüber einig – das wird der Kollege Felgentreu geltend machen –, dass der bisherige bauliche Zustand des Amtsgerichts in Hohenschönhausen alles andere als befriedigend ist und dass das so nicht weitergeht. Es gab den Konsens in diesem Haus, dass es eines Neubaus bedarf. Dafür bietet sich der Bezirk Marzahn-Hellersdorf an. Dort könnte man den Neubau realisieren. Weshalb hat man von diesem Plan Abstand genommen? – Deshalb, weil man das Geld für ein völlig überflüssiges Gefängnis in Großbeeren benötigt. Dieses wird viel teurer als ursprünglich geplant. Das Geld, das man eigentlich für diesen sinnvollen Gerichtsbau einsetzen wollte, muss man nun Richtung Großbeeren umlenken. Dazu sagen wir Grüne: Nicht mit uns!

[Beifall bei den Grünen]

Frau Senatorin hat das im Ausschuss mehr oder weniger eingestanden. Auf die Frage, ob es den Zusammenhang zwischen der Schließung des Amtsgerichts Hohenschönhausen – ich wundere mich, dass die Linkspartei das mitmacht – und dem Bau von Großbeeren gibt, hat sie geantwortet, das Geld werde für Großbeeren nicht ausreichen, und deshalb sei es keine Kompensation.

[Heiterkeit bei den Grünen]

Wir haben Sorge, was mit den anderen kleinen Gerichten außerhalb des S-Bahnrings passieren soll, wenn man hier so leichtfertig das Amtsgericht Hohenschönhausen drangibt. Es stellt sich die Frage, was mit dem Amtsgericht Spandau werden wird, das noch kleiner ist als das Amtsgericht Hohenschönhausen? Soll das künftig aufgelöst und dem Amtsgericht Charlottenburg zugeschlagen werden? Was ist mit dem Amtsgericht Köpenick, auch das deutlich kleiner als das Amtsgericht Hohenschönhausen. Soll auch dieses aufgelöst und dem Amtsgericht Neukölln zugeschlagen werden? Solche Überlegungen hat es bereits gegeben, weshalb wir sehr in Sorge sind.

Wir Grüne sind weiterhin dafür, dass die Berliner Justiz in der Fläche präsent ist. Wir halten die heutige Struktur der Berliner Amtsgerichte – wir haben immerhin eine Reform durchgeführt, die wir immer begrüßt haben – für richtig. Deshalb bin ich sehr gespannt, wie die Kolleginnen und Kollegen in der anstehenden Ausschussberatung begründen werden, weshalb dieses Gericht ohne Not aufgegeben werden soll. Vielleicht bestätigen sie aber auch unsere

Vermutung, dass es sich dabei um das Sparopfer der Justiz für Großbeeren handelt. Wir Grünen sagen jedenfalls: Wir wollen die Präsenz in der Fläche und die Struktur erhalten. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. – Danke schön!

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Behrendt! – Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Felgentreu das Wort – bitte!

Frau Präsidentin! Herr Kollege Behrendt! Zunächst herzlichen Dank für die Möglichkeit, zu diesem Thema hier zu sprechen. Ich gehe eigentlich davon aus, dass es sich um ein Thema für den Ausschuss handelt, wo man sich dem detaillierter widmen kann. Tatsache ist, dass die Grünen sich wieder als strukturkonservative Partei profilieren, die überhaupt nichts verändern will.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Uwe Doering (Linksfraktion): Wie immer!]

Wie immer, wie nicht anders zu erwarten gewesen ist. – Tatsache ist auch, dass unsere zentrale Überlegung, als wir uns fragten, was wir mit dem Amtsgericht Hohenschönhausen machen, in das investiert werden müsste, weil das Gebäude renovierungsbedürftig ist und nicht so weitergenutzt werden kann, darin bestand, wie wir den Zugang zum Recht für Rechtsuchende gewährleisten. Ich empfehle jedem, der kritisiert, dass dieser Standort geschlossen werden und an anderer, bestehender Standort bevorzugt werden soll, einen Blick auf die Landkarte. Sie haben die räumliche Verteilung kritisiert. Ich schlage vor: Sehen Sie sich die Standorte der Gerichte an. Sie werden feststellen, dass das Amtsgericht Lichtenberg mit öffentlichen Verkehrsmitteln für einen Großteil der Bewohner des ehemaligen Bezirks Hohenschönhausen besser zu erreichen ist als das völlig abgelegene, marode Gebäude in Hohenschönhausen. Das war für uns ein wichtiger Aspekt: zu schauen, was den praktischen Bedürfnissen der Menschen entgegenkommt. Da ist Lichtenberg meiner Ansicht nach sogar für die Bewohner von Hohenschönhausen der bessere Standort. So viel an dieser Stelle, damit Sie hören, dass wir uns auch über solche Dinge Gedanken machen.

Die Verquickung unterschiedlicher Themen, für die man in der Justiz Geld ausgeben kann, lässt sich wunderbar fortsetzen. Wissen möchte ich von Ihnen, Herr Behrendt, ob Sie immer noch der Meinung sind, dass wir angesichts der chronischen Überlastung der Berliner Gefängnisse keinen Neubau brauchen, und wie Sie unter diesen Bedingungen eine Unterbringungssituation für Gefangene herstellen wollen, die verfassungskonform ist.

[Uwe Doering (Linksfraktion): Das ist doch denen egal!]

Das ist die eigentliche Frage. Wir können die Debatte aus meiner Sicht an dieser Stelle abkürzen und sollten sie im Ausschuss fortsetzen. Das Gebäude selbst muss renoviert werden, das ist ein teurer Vorgang. Die wirtschaftlich vernünftigste und den Bedürfnissen der Menschen am besten entsprechende Lösung ist es, die Kompetenzen des Amtsgerichts Hohenschönhausen nach Lichtenberg zu verlagern und daran anschließend einige Neuzuordnungen vorzunehmen, die eine insgesamt rationale Verteilung in der Fläche an den elf verbliebenen Amtsgerichten ermöglicht. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei den Grünen – Benedikt Lux (Grüne): Etwas anderes hätten Sie im Ausschuss auch nicht gesagt!]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Dr. Felgentreu! – Für die CDU-Fraktion hat jetzt das Wort der Herr Abgeordnete Gram – bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielen Dank! Auch ich bin der Auffassung, dass es sich um ein klassisches Ausschussthema handelt. Deshalb in aller Kürze – wir wollten dem Kollegen Behrendt sein verfassungsmäßig verbrieftes Recht auf Rede nicht vorenthalten –: Eigentlich unterstützen wir dieses Vorhaben – und das aus mehreren Gründen. Ich nenne nur die Stichworte. Asbestverseuchung. Es wäre eine Komplettsanierung erforderlich. Wer sich in Hohenschönhausen bewegt, weiß, dass es dort Container gibt. Die Mitarbeiter arbeiten dort unter unzumutbaren Bedingungen,

[Uwe Doering (Linksfraktion): Ist doch denen egal!]

leisten aber ihr Bestes, das kann ich aus eigenem beruflichen Erleben mitteilen. Zudem ist mit dem Amtsgericht Lichtenberg die Erreichbarkeit vorzüglich gegeben. Die Räumlichkeiten dort sind renoviert und gut. Inhaltlich kann man nichts dagegen sagen. Wenngleich ich mich, Kollege Behrendt, auf die Debatte freue, ob es sich dabei um ein Sparopfer handelt. Ich höre Ihren Argumenten immer sehr genau zu und möchte auch noch einmal diejenigen der Senatorin hören.

Was mich allerdings in der Tat geärgert hat, ist der Umstand, dass wir so kurzfristig über dieses Vorhaben informiert worden sind. Kollege Behrendt hat im Ausschuss zu Recht darauf hingewiesen, dass wir viel früher hätten informiert werden müssen. Dann hätten wir im Vorfeld diskutieren können. Herr Staatssekretär! Ich wünsche mir bei solchen Themen eine andere Beratungskultur, weil wir im Rechtsausschuss immer sehr kollegial und seriös miteinander umgehen. Je früher wir informiert werden, desto besser. Ich denke, den Rest dessen, was ich zu sagen habe, werde ich im Ausschuss vortragen. Man muss nicht immer fünf Minuten ausschöpfen. – Danke schön!

[Beifall bei der CDU und der Linksfraktion]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Gram! – Für die Linksfraktion hat jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Lederer das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war einmal wieder der große Rundumschlag von Herrn Behrendt, martialische Worte, und ein bisschen Verschwörung klang auch durch.

[Christian Gaebler (SPD): Die Kreuzberger Sozialisation!]

Ganz so ist es nicht. Sie brauchen nicht gespannt zu sein, was wir im Ausschuss dazu sagen werden. Sie wissen es ja schon, Sie können es nachlesen. Es wurde im Ausschuss schon vor der Sommerpause beredet. Das eine oder andere – der Herr Vorsitzende hat darauf hingewiesen – ist an Argumenten schon ausgetauscht worden. Wir brauchen nicht so zu tun, als ob wir aus dem Mustopf kämen und überhaupt nichts wüssten.

Wie ist die Situation da? – Es ist hier genannt worden. Stichworte an dieser Stelle von mir nur: seit 1995 ein Provisorium. Dieses Provisorium muss man sich angucken, dann weiß man, dass dort dauerhaft so nicht gearbeitet werden kann. Die Energiebilanz des Hauses ist eine Katastrophe, die Container – auch darauf hat der Herr Vorsitzende hingewiesen – sind mit ihrer Lebensdauer am Ende und einfach nicht mehr zumutbar. Jetzt stellt sich die Frage, wie man damit umgeht. Will man den Standort sanieren, das ist sehr teuer, oder will man einen Neubau hinstellen, das ist erwiesenermaßen noch teuerer.

Als nächstes kommt hinzu – das ist eine aktuellere Entwicklung –, dass es auch ein paar gerichtsorganisatorische Herausforderungen gibt, die zu bewältigen sind. Ich will nur auch hier Stichworte nennen: die Familienrechtsreform und die Frage, wie die sinnvolle Organisation der Berliner Grundbuchämter aussehen kann, um Rückstandsabbau zu forcieren und um eine nachhaltige und auch langfristig tragfähige Infrastruktur und Zuständigkeitsverteilung zu finden.

Die Frage steht: Was tun wir da? – Der Handlungsbedarf liegt auf der Hand. Zwei Standorte – Lichtenberg und Hohenschönhausen – stehen relativ nahe beieinander. Es lassen sich Synergieeffekte erzielen. Es lässt sich eine signifikante Verbesserung der räumlich-örtlichen Situation erzielen. Und, lieber Kollege Behrendt, nicht nur für Richter, auch für Abgeordnete sollte gelten, dass man sich mit den lokalen Bedingungen der Dinge, über die man redet, vertraut macht. Ich habe jahrelang in Hohenschönhausen gelebt und weiß, wie der Standort in der Nähe der Gehrenseestraße verkehrlich erschlossen ist: so gut wie nicht.