Protocol of the Session on November 10, 2005

[Mutlu (Grüne): Die fühlen das nur!]

Wie sagte es kürzlich so schön eine Schülerin aus der Hausotter-Grundschule in Reinickendorf, die den Unterricht in die Kneipe verlegt hat? – Sie sagte schlicht und ergreifend: Ich will aufs Gymnasium gehen, aber wenn so viel Unterricht ausfällt, dann steht das auf dem Spiel. – Recht hat sie! Fünftklässlerige Mädchen und Jungen erkennen das Problem, das über ihre Laufbahn entscheidet.

Viertens: Wir brauchen mehr Investitionen in die Schulgebäude. Die Berliner Schulen sind häufig in einem „ätzenden“ Zustand. Gebäude sind marode, die Gegebenheiten sind häufig einfach nur unwürdig. Man kann es nicht anders ausdrücken. Wenn unter diesen Umständen die Koalition aus PDS und SPD das Schul- und Sportanlagensanierungsprogramm zusammenstreicht, so ist das skandalös. SPD und PDS versuchen tatsächlich, dem Bürger vorzugaukeln, dass der Sanierungsbedarf geringer geworden sei. Das ist – auch hier muss ich es sagen – eine Arroganz, die Ihnen eigentlich nicht zusteht.

[Beifall bei der FDP]

Es darf nicht sein, dass der einen Schule eine menschenwürdige Toilettenanlage fehlt und gleichzeitig an einer anderen Schule im Rahmen des Projekts „Grün macht Schule“ Künstler zur Gestaltung des Schulhofs zur Verfügung gestellt werden. Hier müssen Prioritäten gesetzt werden.

Unser Antrag geht das Problem an, zeigt Lösungswege auf, geht vielleicht sogar auch unorthodoxe Wege. Ich

sage nur: Public-Private-Partnership. – Herr Böger, wir alle kennen das Beispiel Offenbach. Ich habe nur die Bitte: Versuchen wir es doch einfach einmal mit anderen, neuen Ideen, denn es geht nicht um irgend jemanden. Es geht um die Zukunft dieser Stadt, und es ist nicht zumutbar, in welchen Schulen, Klassenräumen und Turnhallen – und Toiletten, das muss ich noch einmal deutlich erwähnen – sich unsere Kinder aufhalten und mit welchen Gegebenheiten sie sich abfinden müssen. – Danke!

[Beifall bei der FDP]

Frau Kollegin! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klemm? – Das ist nicht der Fall. Ach, Sie sind schon fertig? – Dann ist die Zwischenfrage natürlich erledigt. Vielen Dank, Frau Kollegin Senftleben! – Wir kommen nun zur Wortmeldung des Senats. Ich gehe davon aus, dass Herr Senator Böger das Wort wünscht. – Bitte schön!

[Mutlu (Grüne): Den Rest des Senats interessiert es nicht!]

Aber die Fähigen sind da!

[Mutlu (Grüne): Wenigstens Sie sind da!]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Stagnation ist kein Erfolg – alle Begabungen fördern und Chancengleichheit herstellen!“ Den zweiten Teil dieser Aktuellen Stunde teile ich voll, und das werde ich im Weiteren auch begründen. Aber beim ersten Teil ist der Fraktion der Grünen ein kleiner Denkfehler unterlaufen, und der führt uns auch zum Kern des Problems.

Die PISA-Untersuchung, PISA E, gemacht im Frühjahr 2003, ist für Berlin, was die international respektierte vergleichende Untersuchung als Systemuntersuchung betrifft, die Stunde Null. Berlin hat zum ersten Mal an einer solchen Untersuchung teilgenommen. Insofern – darauf hat die Frau Kollegin Schaub schon vollkommen zu Recht hingewiesen – ist von Stagnation, Regression oder Fortschritt logischerweise nichts zu vermelden,

[Zuruf des Abg. Mutlu (Grüne)]

weil Berlin bislang an diesen Studien eben nicht teilgenommen hat. Ich sage das in alle Richtungen des Hauses. Das ist schon der erste Teil des Problems, das wir haben.

Wir haben in dieser Stadt – ich rede von „wir“ – jahrzehntelang darüber gestritten, ob man Qualität von Schule definieren und messen kann – und zwar auch dann noch, als andere schon begonnen haben, Qualität zu definieren, zu messen und schulische Leistungen zu korrigieren.

[Frau Senftleben (FDP): Habe ich doch gesagt! – Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

Wissen Sie, Frau Jantzen, bei Ihnen finde ich so gut: Sie sind für den Kindergarten zuständig und rufen immer dazwischen.

[Beifall bei der SPD]

Ich bin das auch leid! Ihre Kollegin Frau Volkholz, die ich hoch schätze und deren Arbeit ich jetzt ausdrücklich begrüße, war 1989/90 auch auf einem ganz anderen Dampfer. Herr Klemann war auf einem anderen Dampfer, und Herr Rasch ebenfalls.

[Frau Senftleben (FDP): Liegt aber ganz lange zurück!]

Herr Senator! Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Mutlu?

Nein! Das war erst die Ouvertüre – nachher!

Wir müssen – ich rede doch von „wir“ – akzeptieren, dass wir in bestimmten Fragen den Anschluss an das Bundesgebiet verpasst haben und spät dran sind. Und wenn Sie es wollen, sage ich auch klar:

[Frau Senftleben (FDP): Auch in Baden-Württemberg!]

Ja, die Bayern haben in manchen Fragen früher begonnen, sie haben früher Vergleichsarbeiten gemacht, und sie haben früher korrigieren können. Das erklärt einen Teil des Vorsprungs. Wer anderes sagt, lügt sich bequem in die Tasche, und das sollten wir nicht tun.

[Beifall der Frau Abg. Senftleben (FDP)]

Das ist das Erste.

Das Zweite ist: Selbstverständlich verstehe ich – so ist Parlament gestrickt –, dass die Opposition schlecht Regierung und politische Grundentscheidungen loben kann. Aber klar ist doch: Wenn wir im Jahr 2003 – das ist die Basis dieser Studien – 15-jährige Schüler getestet haben, dann sind die nach Adam Riese 1994/95 oder ein bisschen früher in die Schule gekommen. Dann macht es doch keinen Sinn, Reformen, die mit dem Schulgesetz 2004 angelegt worden sind, anhand der PISA-Ergebnisse zu überprüfen und darüber zu reden, ob diese Reformen richtig sind oder nicht. Vielmehr zeigt diese Studie, wie nötig diese Reformen sind. Sie können aber überhaupt noch nicht gewirkt haben.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

So war es zu verstehen, verehrte Kollegin Klotz, dass ich vor etwas gewarnt habe, das auch die Schulen zu Recht beklagen. Sie sagen nämlich: Bitte hört in der Politik auf, eine Neuerung der nächsten hinterherzujagen, ohne zu schauen, was die Änderung bewirkt hat, ohne Zeit für die Umsetzung zu lassen! – Deswegen habe ich davor gewarnt, zu sagen, nach der PISA-Studie müsse schon wieder etwas Neues angestoßen werden – operative Hektik bei pädagogischem Stillstand. Dagegen bin ich!

[Beifall bei der SPD]

Ich bin dafür, die in Berlin begonnenen Reformen systematisch und klar durchzuführen. Das ist schwer genug. Das spüre ich selbst und höre es von Ihnen.

Wir sollten uns auch gemeinsam davon verabschieden, bei jedem Problem, das es in der Bildungspolitik gibt, zu sagen: Die Bildungsbürokratie ist schuld! – Ja,

auch meine Behörde und wir alle können besser werden. Aber es ist nicht richtig, den Bürokraten die Schuld an allem zu geben.

[Frau Senftleben (FDP): Auch!]

Wer Eigenständigkeit und Selbstverantwortung will – verehrte Kollegin, ich glaube, Sie wollen das wie alle anderen auch –,

[Frau Senftleben (FDP): Ja!]

der muss auch wollen, dass die Schule, die Schulkonferenz sich mit bestimmten Fragen systematisch beschäftigt, der darf nicht immer gleich rufen: Ich weiß was, ich brauche was, ich benötige was!

Wenn wir Vergleichsarbeiten einführen – und das haben wir getan –, wenn wir Standards setzen, wenn wir das Zentralabitur einführen und wenn wir Lernausgangsmessungen machen, dann ist es doch sonnenklar, dass wir das nicht machen, um einen weiteren Aktenordner zu füllen. Wir tun dies, damit in den Schulen Informationen vorhanden sind, wo die Schülerinnen und Schüler einer Klasse stehen, wie die einzelnen Klassen zu vergleichen sind und was gemeinsam getan werden kann, um die Qualität des Unterrichts zu steigern. Das ist der Kern der Dinge.

[Beifall bei der SPD und der Linkspartei.PDS]

Ich bestreite nicht, dass wir auch Bildungspolitik machen. Dazu habe ich in der Debatte unterschiedliche Positionen gehört. Von Jamaika-Überschnitt konnte ich nichts erkennen.

[Mutlu (Grüne): Wir wollen auch kein Jamaika!]

Die Grünen wollen etwas anderes als die FDP und die CDU, und das finde ich auch gut so.

Manche haben vielleicht noch nicht begriffen, was der Begriff Chancengerechtigkeit oder Chancengleichheit bedeutet. Dieses in unserem Grundgesetz verankerte Postulat heißt nicht, Herr Kollege Lindner: Alle Menschen habe gleiche Fähigkeiten und gleiche Begabungen und müssen deshalb gleich gemacht werden. Das heißt es nicht.

[Beifall bei der SPD, der Linkspartei.PDS und der FDP]

Es heißt vielmehr, die Menschen sind in ihrer Würde gleich. Sie sollen gleiche Chancen haben.

[Beifall des Abg. Dr. Lindner (FDP)]

Nun will ich Ihnen sagen, was die PISA-Studie an dieser Stelle ergeben hat – dies ist heute auch einem Interview des Forschers Prenzel, der diese jüngste Studie geleitet hat, in der „Zeit“ zu entnehmen: In Bayern ist bei gleicher Leistung die Wahrscheinlichkeit, auf ein Gymnasium zu kommen, für ein Oberschicht- oder Akademikerkind 6,65 Mal höher als für ein Arbeiterkind. Das ist für die Forscher das Maß von Chancenungerechtigkeit. Darum geht es. Bei diesem Indikator steht Berlin besser da. Er beträgt 2,67, und das ist besser. Aber ich sage nicht so barsch wie die Kollegin: Masse statt Klasse. Diese relativ gute Position Berlins müssen wir verbessern, indem wir in

den Kompetenzen besser werden. Auch das muss klar gesagt werden.