Protocol of the Session on November 10, 2005

Sie haben, wenn ich richtig mitgelesen habe, kaum eine der dort gestellten Fragen beantwortet. Wir haben Sie gefragt, wie Sie das Personal finanzieren wollen, das wir brauchen. Wir haben Sie gefragt, wie ein Vollzugssystem der Zukunft aussehen soll. Wir haben gefragt, wie viel Geld Sie bereitstellen wollen, um in den maroden Strukturen der Berliner Justizvollzugsanstalten tatsächlich einen humanen Strafvollzug herzustellen. All diese Fragen, die wir gestellt haben, haben Sie nicht beantwortet.

Ich kann verstehen, dass Sie politisch-taktisch die Situation, die sich jetzt ergibt, ausnutzen wollen. Jeder, der sich mit Knast und mit Justizpolitik beschäftigt, weiß, wie schwer es ist und wie zäh die Diskussionen sind, die sich um einen Knastneubau ranken. All diejenigen, die schon ein bisschen länger dabei sind, können sich noch erinnern. „Höher, schneller, Weiterstadt, wir machen auch Olympia platt!, hieß es einmal hier in der Stadt. Knastneubau in Hessen zum Teil vor Fertigstellung wieder zum Einsturz gebracht. Das waren jahrelange Diskussionen, die sich darum gerankt haben. Ein Modellknast sollte es werden,

ganz modern. Was ist daraus geworden? – Unter Schwarz-Gelb in Hessen ein finsteres Loch.

Wir selbst haben es hier in Berlin erlebt, bei der ambulanten Therapie in Reinickendorf. Sie hatten es erwähnt. Die CDU bläst zum Halali, es gilt das Sankt-FloriansPrinzip, alle schreien nach mehr Strafvollzug, aber bitte, bitte nicht in meinem Bezirk. Da ist jeder, der einen Knast bauen will, froh, wenn er in der märkischen Heide vor den Toren Berlins ein Grundstück hat und die betroffene Gemeinde sich überhaupt nicht querstellt.

Bleibt das Problem Sarrazin. Der hockt auf der Kasse, und wer gibt schon gern Geld für Knackis? Wenn dann das Oberste Gericht bescheinigt, dass die Berliner Knäste verfassungswidrig überfüllt sind, dann überzeugt man damit selbst den knausrigsten Finanzsenator, dass etwas passieren muss. Dann heißt es schnell zugreifen und ab mit den Verpflichtungsermächtigungen in den Haushalt. Und jetzt noch schnell möglichst die ersten Ausgaben tätigen, und bums, dann ist die ganze Sache irreversibel. Da kann man nur froh sein, Frau Schubert, dass Investitionsentscheidungen wie diese qualifiziert gesperrt sind. Denn mit Verlaub und mit allem Verständnis für Ihre guten Absichten, die wir auch teilen, bei denen wir Sie auch unterstützen wollen, aber so kann man mit dem knappen Geld des Landes Berlin nicht umgehen.

[Beifall bei den Grünen]

Auch der Justizvollzug ist ein gesellschaftspolitisches Steuerungsinstrument. Die richterliche Unabhängigkeit, die dazu führt, dass diese Bauten vollgemacht werden, macht ihn nicht zu einem Werkzeug, das nur gottgefällig auf Schicksalsschläge zu reagieren hat. Inschallah und Kismet sind nun einmal keine Parameter für justizpolitisches Handeln und für uns auch keine Grundlage, 87 Millionen € in den märkischen Sand zu setzen.

[Dr. Lederer (Linkspartei.PDS): Lassen Sie einmal die Kirche im Dorf!]

Aber warum, lieber Herr Lederer, tut sich die bundesdeutsche Justiz nur so schwer damit, so etwas wie Evaluierung zuzulassen? Sie haben uns gesagt, Sie rechnen an vielen Stellen nach. Wir haben seit den letzten Haushaltsberatungen dezidiert gefordert: Sagen Sie uns, was es bedeuten würde, wenn wir uns – um das Beispiel zu nehmen – mit den Zweidrittelentlassungen im bundespolitischen Mittel bewegen würden – wir sind Letzte der Statistik –, wenn wir die Anstrengungen unternehmen würden, wenn wir das Personal zur Verfügung stellen würden, das wir brauchen, um die Menschen, die in den Knästen sind, auch so fit zu machen, dass sie die Voraussetzungen, die das Kammergericht aufstellt, erfüllen können. Das können sie nämlich nicht mit dem, was Sie ihnen in den Strukturen anbieten.

Wir haben gefragt, wie wir dann mit der Überbelegung umgehen könnten. Sie haben mir gesagt, das gehe nicht, das könne man nicht berechnen. Ich habe neulich mit einem der wenigen ernst zu nehmenden Kriminologen, die es noch gibt, den wir an der Alice-Salomon

Hochschule haben, gesprochen. Natürlich, sagt er, kann man das berechnen, gar kein Problem. Das dauert vielleicht ein bisschen, zwei Jahre. Die hätten wir schon nutzen können. Aber natürlich kann man das machen. Er meinte auch – und das will ich der Ehrlichkeit halber dazusagen: Ob wir tatsächlich ohne neue Gebäude in der Stadt auskommen, daran habe er auch seine Zweifel. Aber ob die so groß und so teuer sein müssen, wie wir sie mit Personal ausstatten müssen, das wäre schon einmal ein lohnendes Projekt, das man auch aus kriminologischer Sicht in Angriff nehmen könnte.

Die Frage, ob wir nur mit einem Teil des Geldes nicht andere, günstigere Handlungsoptionen haben, müsste untersucht werden. Frieder Dünkel, das ist der nächste ernst zu nehmende Kriminologe, der noch etwas zu Strafvollzug macht und in Greifswald sitzt, hat neulich einen schönen Aufsatz in einer Festschrift veröffentlicht: „Das Gefängnis, ein absurdes System? Wie die Gefängniskapazitäten in Deutschland um 25 000 Haftplätze reduziert werden können.“ Genau das ist die Frage, die sich stellt: Wie können wir Überbelegung und Haftkapazitäten reduzieren? Natürlich gibt es andere Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. Wenn wir nur einen winzigen, winzigen Bruchteil dessen, was Herr Sarrazin schon an Gutachtenkosten für die Bankgesellschaft verursacht hat, für diesen wichtigen kriminalpolitischen Kontext zur Verfügung gestellt hätten, hätten wir nicht nur Berlin einen Gefallen damit getan, sondern auch der ganzen Republik zeigen können, wie man anders mit solchen Fragen umgeht. Die Stichworte heißen Hauptstadt und Modernität. Und nach unserem Verständnis, Frau Schubert, müssen diese beiden Stichworte auch für die Entwicklung der Justiz gelten. Aber Sie haben die Entscheidung ohne Kriminologie getroffen. Sie haben keine Vorstellung davon, wie sich ein Konzept in die Zukunft entwickelt. Sie handeln aus dem Moment heraus. Da fragen wir uns, warum es nicht möglich sein soll, die Wissenschaft, die wir hier in der Stadt haben, für solche Prognosen einzubinden.

[Frau Bm Schubert: Das machen wir doch!]

Ja, Sie sagen, Sie machen das. Sie haben das vorhin auch im RBB gesagt. Wir haben Sie mehrfach danach gefragt, was Sie uns bieten können. Nichts haben Sie uns zur Verfügung gestellt. Wir haben zwei Briefe von Ihnen bekommen. Sie haben ein paar rote Nummern produziert, aber eine verlässliche Grundlage hinsichtlich der Gefangenenzahlen zu liefern, ist unterblieben. Die Prognose hinsichtlich der Gefangenenzahl ist nicht belegt. Sie reden davon, dass es einen Zuwachs gibt. 350 Plätze sollen wir benötigen. 3 % Zuwachs ist Ihre Prognose.

Besagter Prof. Dünkel macht in seinem Aufsatz einen Vorschlag und sagt, wir müssen von einem demographischen Rückgang ausgehen. Wir müssen davon ausgehen, dass wir weniger Haftkapazitäten brauchen. Wir haben auch schon weniger in Berlin; so haben wir 2004 und 2005 keinen Zuwachs gehabt. Wir befinden uns bereits in dieser Situation, dass wir nicht mehr unbedingt davon ausgehen können, einen Zuwachs zu haben.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lederer?

Ja, selbstverständlich!

Bitte schön!

Herr Kollege Ratzmann! Ich höre Ihnen gern zu, aber zwei Fragen stellen sich: Wie sollen wir im Land Berlin entkriminalisieren, wenn – –

Ich komme dazu! Ich zähle es Ihnen im Einzelnen auf!

Ich erinnere an rotgrüne Politik, die sich in den letzten Jahren im oberen Level der Strafverschärfung bewegt hat. Die zweite Frage: Kommen wir irgendwann einmal zu einer konkreten Debatte über das Jahr 2010. Da ist das im Augenblick alles Voodoo. Kommen wir zu einer konkreten Debatte, wie wir im Jahr 2010 mit definitiv bis dahin auflaufenden – –

Haben Sie auch noch eine Frage?

Ja, ich frage Sie, wie wir die auflaufenden Plätze bis dahin bewältigen wollen. Tegel aufzurüsten, kann doch nicht die Norm sein. Das kann doch nicht der einzige Vorschlag sein, den Sie haben. Was haben Sie denn als konkrete Alternative anzubieten?

Wenn Sie mich fertig reden ließen und zuhörten, würden Sie dies erfahren. Ich zähle es Ihnen alles auf. Ich gebe Ihnen allerdings Recht, Herr Lederer: Natürlich ist viel Bundespolitik dabei. Die rotgrüne Bundesregierung hatte gerade in diesem Bereich einiges in der Pipeline, das umgesetzt werden sollte. Ich nenne nur das Stichwort: Änderung des Sanktionenrechts.

Ich teile Ihre Befürchtungen, dass wir mit einer Regierung, an der nun die Wegsperrapologeten beteiligt sind, kaum dahin kommen werden, bundespolitisch etwas anderes umzusetzen, das uns in Berlin hilft, mit diesem Problem fertig zu werden. Entkriminalisierung im Drogenbereich, mehr Anerkennung von Arbeitsleistung statt Strafe: Das sind Stichworte, die hierzu in der Kriminologie genannt werden.

Aber wir müssen nicht erst darauf warten, dass diese Dinge in der Bundespolitik umgesetzt werden. Wir können in Berlin bereits anfangen mit den Möglichkeiten, die wir zum Handeln haben. Fangen wir an: Zweidrittelentlassungen – das wurde bereits mehrfach genannt. Die Überbelegung in den Gefängnissen ist zum Teil hausgemacht. Frau Schubert spricht davon, dass in den Knästen natürlich mit den Menschen gearbeitet werden muss, dass das in Berlin in den Vollzugsanstalten aber kaum noch möglich ist. Wir sehen aber Jahr für Jahr, dass das Personal reduziert wird. Das ist eine Milchmädchenrechnung.

Wir sparen auf der einen Seite die Personalkosten und bauen in Brandenburg einen neuen Knast, der dann wieder 20 Millionen € laufende Kosten mit sich bringt, ohne zu versuchen, mit dem umzugehen und das zu nutzen, was wir haben.

Wir haben weiter das Problem der Untersuchungshaft. Prof. Jehle aus Göttingen hat gesagt, wenn wir anfingen, die Untersuchungshäftlinge vom ersten Tag an verteidigen zu lassen, dann sparte dies Haftplätze. Dies können wir bereits tun.

Unterbrechung der Haftstrafe nach § 455a StPO: Das haben Sie vor kurzem gemacht. Es gab einen Riesenaufstand in der Staatsanwaltschaft, die gesagt hat, das macht sie nicht mit, nur im Hinblick auf einen Neubau.

[Zuruf des Abg. Gram (CDU)]

Herr Gram, Sie nicken mit dem Kopf. Ich erinnere mich an einen Fall, da hat die Frau Justizsenatorin ganz andere Töne gegenüber der Staatsanwaltschaft angeschlagen und gesagt, das sei eine weisungsabhängige Behörde, und selbstverständlich müssten sie das machen, was vorgegeben werde. In diesen Bereichen kann man das tun.

[Frau Bm Schubert: Wir machen es doch!]

Frau Schubert, Sie haben gesagt, das sei eine einmalige Maßnahme. Ich sage Ihnen: Andere Bundesländer machen das regelmäßig und benutzen diese Instrumente. Nur in Berlin funktioniert das nie. Ich frage mich, woran dies liegt. Warum müssen Ersatzfreiheitsstrafler in Plötzensee im geschlossenen Vollzug sein? – Die Menschen sind nicht gefährlich, warum stecken wir Sie dann nicht in eine freie Liegenschaft?

[Beifall bei der FDP]

Man muss mit etwas Kreativität an die ganze Sache herangehen.

Ich verstehe, dass Sie Angst vor diesem politischen Druck haben, aber mit dem sind wir alle konfrontiert. Wir klagen in Karlsruhe. Wir wollen mehr Geld von den anderen Ländern haben, und wir müssen dann auch rechtfertigen, was wir mit dem Geld machen. Ich weiß nicht, ob wir so weit sind, zu sagen, wir haben in diesem Bereich alles ausgenutzt und müssen jetzt bauen. Wenn Sie sagen, Sie bräuchten 300 Plätze für die Überbelegung, so können wir rechnen: 100 Plätze bringt uns das neue Haftkrankenhaus, 50 der Umbau eines Flügels in Moabit, und wenn wir mit den Zweidrittelentlassungen nur 100 dazu bekommen, dann haben wir die Überbelegung schon im Griff. Dann bleibt nur der Aufwuchs, und den können Sie uns nicht nachweisen.

Vor diesem Hintergrund wollen Sie 80 Millionen € in Brandenburg in den Sand setzen. Da kann ich nur vorschlagen: Lassen Sie uns mit dem Finanzsenator einen Deal machen! Wir bauen hier für 30 Millionen €, und die restlichen 50 Millionen € teilen wir auf. 25 Millionen € bekommt er und 25 gehen in die Schulen. Und die entstehenden laufenden Personalkosten ab 2010 in Höhe von

20 Millionen € teilen wir auch und stellen für die Hälfte ein paar Lehrer ein. Damit haben wir für die Sicherheit der Stadt mehr getan als mit dem Neubau eines Gefängnisses. – Danke!

[Beifall bei den Grünen]

Danke schön, Herr Kollege Ratzmann! Es folgt die SPD-Fraktion. Das Wort hat der Kollege Dr. Felgentreu. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der vorliegenden Großen Anfrage beschäftigt uns letztlich ein altes Thema, Herr Ratzmann, und keines, das hochgekommen wäre, weil die Gelegenheit günstig schien. Es beschäftigt uns ein altes Thema – die CDU weiß hiervon auch ein Lied zu singen –, dem letztlich auch eine Glaubensfrage zu Grunde liegt.

Eine Grundthese der linken Kritik am Strafvollzug lautet: Mehr Haftplätze bedeuten auch mehr Gefangene, weil mehr Haftplätze den Druck wegnehmen, der den Verantwortlichen auch andere Lösungen nahe legt. – Diese These verdient es auch, ernst genommen zu werden. Aber als Ansatz für verantwortliche Politik greift sie in unserer Situation deutlich zu kurz.

Zunächst müssen wir die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass wir bei den Haftzahlen sei 10 Jahren mit jährlichen Steigerungsraten von 3 % konfrontiert sind.

[Gram (CDU): Eben!]

Für diese Entwicklung gibt es verschiedene Gründe. Zunächst einmal – und vor allem – sehe ich sie als einen Ausdruck der gesellschaftlichen Probleme, die uns in allen Politikfeldern zu schaffen machen: Arbeitslosigkeit und ihre Folge soziale Desintegration sind eine Ursache für kriminelles Verhalten, aber übrigens kein Anlass und schon gar keine Entschuldigung, kriminell zu werden.

Zum Zweiten sind gestiegene Haftzahlen – auch da hat Herr Ratzmann Recht – ein Ergebnis der Entwicklung von Strafgesetzgebung und Rechtsprechung. Die Strafrechtsnovellen der letzten 15 Jahre sehen härtere Strafen für Körperverletzungsdelikte, Wirtschaftsdelikte und Sexualdelikte vor. Außerdem ist die fortgesetzte öffentliche Debatte, die mehr Härte fordert, bei Straf- und Jugendrichtern nicht ohne Wirkung geblieben.

[Gram (CDU): Zu Recht!]

Dazu kommen Fortschritte bei der Strafverfolgung, zum Beispiel durch die Intensivtäterabteilung bei der Staatsanwaltschaft. Ich sage deutlich: Die SPD begrüßt diese Entwicklung. Sie war im Interesse der Sicherheit unserer Stadt notwendig.

[Beifall bei der SPD – Gram (CDU): Späte Erkenntnis, aber immerhin Erkenntnis!]

Sie hat aber auch Konsequenzen für die Belegungszahlen. Mit diesen Konsequenzen müssen wir fertig werden. Das muss auch die CDU sehen. Dabei handelt es sich durch

aus um eine zentrale und spannende Aufgabe für die Rechtspolitik.