Protocol of the Session on December 9, 2004

[Mutlu (Grüne): Genau!]

Die 15-Jährigen liegen im Bereich Mathematik und Naturwissenschaften im OECD-Durchschnitt. Ausländische Schülerinnen und Schüler, insbesondere die der so

Frau Senftleben

Erstens müssen die Startchancen unserer Kinder verbessert werden, damit die soziale Herkunft künftig nicht mehr primär über die Bildungslaufbahn entscheidet. In den ersten Lebensjahren werden die Weichen gestellt. Hier lernen die Kinder am liebsten, am meisten und am schnellsten. Deshalb wird es relativ schnell und einfach sein, Defizite, die von Haus aus existieren, auszugleichen, allerdings nur mit einer gezielten und professionellen Arbeit. Ihr Konzept, Herr Böger, reicht dafür nicht aus. Deshalb wiederhole ich unsere Forderung nach einer verbindlichen Startklasse für die Fünfjährigen. Nicht nur die Ergebnisse der neuen PISA-Studie bestärken uns in dieser Forderung, auch Bildungsforscher und Erziehungswissenschaftler sind dieser Auffassung, denn schließlich ist es nachgewiesen, dass Länder mit einer gezielten vorschulischen Bildung und Förderung erfolgreicher sind – nachzulesen in PISA II.

Wer wüsste es nicht besser als wir in Berlin: Weil Kinder nicht deutscher Herkunft häufig der deutschen Sprache nicht mächtig sind, das Umfeld nicht verstehen können, haben sie bereits mit Schulbeginn einen eklatanten Nachteil, den sie nur schwer im Lauf ihrer Schulzeit ausgleichen können. Dabei ist es völlig egal, ob das Schulsystem ein-, zwei- oder dreigliedrig ist.

genannten ersten Generation, zählen zu den Verlierern. Für den Bereich Lesen hat man eine Stabilisierung auf niedrigstem Niveau festgestellt. Ein Fünftel aller Schülerinnen und Schüler können nicht Lesen.

[Frau Dr. Tesch (SPD): Sie können schon Lesen, sie verstehen es nur nicht!]

Das ist ein Armutszeugnis. Hier hat sich gegenüber PISA I nichts geändert. Das hat dramatische Konsequenzen: Ohne Lesefähigkeit, ohne Lesefertigkeit, ohne Leseverständnis wird es ungeheuer schwer, voranzukommen. Unsere Kinder und Jugendliche bleiben dadurch außen vor. Dagegen hilft auch kein Computer oder Laptop. Lesen können, Texte verstehen, das ist so notwendig, wie das täglich Brot, das ist Voraussetzung für alles weitere. In Sachen Lesefähigkeit hat Deutschland also wieder einmal das Klassenziel nicht erreicht.

Der familiäre Hintergrund: Er entscheidet und prägt den Verlauf der Bildungskarriere des Schülers. Es ist von entscheidender Bedeutung, ob und in wie weit die Eltern sich für Bildungsinhalte interessieren. Diese Tatsache ist und bleibt skandalös und widerspricht der allseits geforderten Chancengerechtigkeit. Dieses Problem zu lösen, ist in der Tat eine der großen Herausforderungen für uns alle.

Vergessen wir aber nicht die letzten OECD-Studien. Eine bescheinigt uns die falsche Prioritätensetzung bei der Bildungsfinanzierung, die andere erwartet von uns Reformen bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrern und Erziehern sowie leistungsorientierte Modelle bei der Vergütung und dem Einsatz des Personals.

Nun liegt das Ergebnis von PISA II vor. Aus meiner Sicht ist es ziemlich eindeutig, die Interpretationen sind allerdings mannigfaltig. Die CDU bezweifelt teilweise die Aussagekraft von PISA II und ich habe zudem den Eindruck, für Sie scheint das dreigliedrige Schulsystem das von Gott gegebene zu sein.

[Beifall der Frau Abg. Dr. Tesch (SPD)]

Andere Politiker sehen sich wiederum in ihrer Analyse bestätigt und erheben gebetsmühlenartig die Forderung nach der Einheitsschule. Frau Schaub ruft danach, und auch Sie, Frau Freundl, fordern die Überwindung des dreigliedrigen Schulsystems.

[Beifall bei der PDS]

Nachtigall, ich hör` dich trapsen, kann ich dazu nur sagen. Herr Mutlu verlangt eine tiefgreifende Reform, hin zu einer gemeinsamen Schule für alle.

[Mutlu (Grüne): Zuhören!]

Den Erfolg eines Bildungssystems an der Struktur festzumachen, ist zu kurz gesprungen, ist reines Wunschdenken, verkennt die Realität und ignoriert die vielen verschiedenen Schwachstellen unseres Bildungssystems. Die müssen wir nämlich zunächst einmal erkennen, um sie anschließend ausräumen zu können.

[Beifall bei der FDP]

[Beifall bei der FDP]

Die zweite Schwachstelle ist die unzureichende Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte und Erzieher. Es ist für mich völlig unverständlich – ich selbst bin einige Jahre durch diese Aus-, Fort- und Weiterbildung gegangen –, dass das kognitive Potential, das deutsche Schülerinnen und Schüler offensichtlich besitzen, nicht genügend genutzt oder noch nicht einmal erkannt wird. Qualität ist die Voraussetzung für einen erfolgreichen Unterricht. Darunter verstehe ich einen individualisierten, modernen, schülerzentrierten Unterricht. Hier hoffe ich auf die eingeleiteten Reformen.

Die dritte Schwachstelle ist das unflexible Personalmanagement an unseren Schulen. Beamtentum, Personalvertretungen und zum Teil völlig überflüssige Verwaltungsreformen verhindern die notwendigen Strukturen. Arbeitszeit macht sich ausschließlich an den Unterrichtsstunden fest, nicht aber an der geleisteten Arbeit vor Ort. Leistungskriterien spielen bei der Besoldung überhaupt keine Rolle. Erfolgreiche PISA-Länder – Niederlande, Finnland – sind hier wesentlich weiter, Personalmanagement und Budgetierung sind dort selbstverständlich.

Viertens, das wissen wir alle, fehlt es an Ganztagsschulen, die ordentlich finanziert sind. Auch hier ist ein Anfang gemacht worden, das reicht aber noch nicht.

Schwachstelle Nummer fünf ist das geringe Bildungsinteresse der Eltern an der Schule oder, wie es der Rektor der Heinrich-von-Stephan-Oberschule – nachzulesen in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ – es so schön genannt hat: Die Erziehungsohnmacht der Eltern. – Die Schule sollte deutlicher hervorheben, dass es zu den

Frau Senftleben

Nach PISA II – was folgt daraus für unsere Politik? – Ich darf zunächst einmal sagen, das habe ich bei allen Debatten und Rednerinnen gespürt: die Überlegung, dass wir alle wissen, und zwar jenseits von Zuständigkeiten und Regierung und Opposition, dass wir in Deutschland vor einem gewaltigen Reformwerk stehen. – Ich sehe das ähnlich und will Ihnen auch sagen: Es ist nicht so, als sei nun jetzt gerade die Sprachkompetenz der Schülerinnen und Schüler schlecht, dass also im Lesen Defizite bestehen. Das hat es jahrzehntelang gegeben. Es ist nur nie geprüft worden.

Pflichten der Eltern gehört, sich um die schulischen Belange zu kümmern. Auch hier arbeitet die Heinrich-vonStephan-Schule beispielhaft mit so genannten Bildungsvereinbarungen, die die Eltern mit in den Erziehungsprozess einbeziehen. – Ich habe hier nur einige Schwachstellen aufgeführt, es gibt noch einige mehr.

Mein Fazit lautet an dieser Stelle: Wer glaubt, die Probleme des deutschen Bildungssystems mit der einfachen Formel der Einheitsschule lösen zu wollen, irrt gewaltig. Er macht es sich zu einfach. Ich teile die Auffassung der Herren Baumert und Prenzel, die sagen: Es gibt keinen Königsweg. Herr Baumert sagt treffend weiter:

Mit dem Umstülpen der gesamten Schulstruktur sind keine Leistungsverbesserungen zu erzielen, vielmehr gehe es darum, die vorhandenen Schulsysteme intelligent zu nutzen.

Dies halte ich für eine echte Herausforderung für uns alle.

[Beifall bei der FDP]

Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die nun aufkeimende Strukturdiskussion wieder einmal typisch deutsch und nach dem Motto „entweder – oder“ geführt wird. Genau das lehnen wir ab. Wir wollen eine Schule als eigenständige Einheit. Wir wollen die Entscheidungen dorthin verlagern, wo sie hingehören: an die Schule selbst.

[Beifall bei der FDP]

Eltern, Schüler und Lehrer sollen selbst Verantwortung übernehmen und gestalten. Das setzt Kreativität frei, um erfolgreiche Reformen vor Ort durchzuführen. Dafür gibt es nicht nur in anderen Ländern Beispiele. Wir müssen uns nur einmal in Berlin umschauen. Die Heinrich-vonStephan-Schule habe ich eben schon genannt. Oder sehen Sie sich die St.-Franziskus-Schule in Schöneberg an, mit einem Ausländeranteil von 60 %, dort passiert etwas, dort finden Reformen statt.

[Dr. Lindner (FDP): Sehr richtig!]

Schulen werden dann kreativer und leistungsstärker, wenn sie mehr Freiheiten erhalten. Ich sage Ihnen voraus: Mehr Freiheit wird zu einem Reformboom an den Berliner Schulen führen, und genau den brauchen wir. Lassen wir die Schulen also selbst machen. Lernen wir aus PISA, aber richtig. Ich warne vor Einäugigkeit, die führt nämlich zu Blauäugigkeit.

Wie hat es die nordrhein-westfälische Kultusministerin so treffend gesagt? – Die Diskussion über Strukturen könnte zur Alibidiskussion werden. Wichtiger sei es deshalb zunächst, Unterricht und vorschulische Förderung zu verbessern, auf Standards zu achten und mehr Freiheit zu gewähren. – Recht hat sie!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank, Frau Kollegin Senftleben! – Wir sind damit am Ende der ersten Rederunde. Für den Senat ergreift das Wort – nicht überraschend – Herr Senator Böger. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Berliner Parlament diskutiert heute zu meinem Vergnügen erneut über Bildungspolitik.

[Rabbach (CDU): Immer bei der Wahrheit bleiben!]

[Frau Senftleben (FDP): Richtig!]

Das ist der eigentliche Punkt. Wir haben uns in Deutschland jahrzehntelang – ich sage: „wir“ und „uns“, das geht in die ganze Breite – niemals die Mühe gegeben, uns über das im Unterricht Erreichte Rechenschaft abzulegen. Das nennt man übrigens empirische Bildungsforschung, die in Deutschland, jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland – alt –, was ich beurteilen kann, eine ganze Zeitlang defizitär war.

Nun haben wir die Studien. Ich sage im Übrigen auch: In einem Jahr werden wir nach der PISA-II-Studie, an der acht Berliner Schulen beteiligt waren, erstmals PISA E haben, also den nationalen Test. Daran werden über 100 Schulen in Berlin beteiligt sein. Das ist etwas Neues. Ich prognostiziere, dass wir auch dort sehr schwierige und kritik- und veränderungswürdige Sachverhalte erkennen werden, die im Jahr 2003 in Berlin existierten. Daran kann es keinen Zweifel geben. Niemand soll sich täuschen und denken, durch ein paar Federstriche, zwei, drei Gesetzeswerke, acht kluge Reden, 19 herrliche Kongresse wären die Probleme gelöst. Mitnichten!

Die Frage ist: Gehen wir den richtigen Weg, oder gehen wir, wie die Frau Kollegin von der CDU meint, einen Irrweg? – Ich denke, man kann hier im Haus einen konsensualen Weg sehen, der überzeugt. Ich hoffe, es ärgert manche in diesem Haus nicht: Ich lese Ihnen einmal vor, was die viel gescholtene Kultusministerkonferenz, also von Bayern bis Schleswig-Holstein und von NRW bis Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, im Dezember 2001 als richtige Reformwege beschlossen hat. Wem es bei diesen Zitaten nicht im Kopf klingelt, dass er davon in Berlin schon einmal etwas gehört habe, der muss im Dauerschlaf gewesen sein. Beschluss der Kultusministerkonferenz im Jahr 2001 als Reformwege nach PISA:

1. Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich.

In Berlin haben wir das eingeleitet.

Sen Böger

Viele von Ihnen haben das gesagt; hier haben wir auch erhebliche Defizite. Wir haben mit einer Lehrerbildungsreform, wie ich finde, nicht schematisch den BolognaProzess übergestülpt und gesagt, wir sagen jetzt Bachelor und sagen statt Seminare „Module“ und statt Hauptstudium „Masterstudium“, und alles ist in Ordnung. – Es gibt zwar solche Scharlatane überall, aber ich glaube, wir haben einen richtigen Schritt geleistet, der auch weiter reformbedürftig ist. Aber ich bitte Sie allen Ernstes: Wie kann man, wenn die Reform im Wintersemester 2004/2005 begonnen hat, also gerade zwei Monate gelaufen ist, nun behaupten, die Reform sei gescheitert? – Das ist völlig unangemessen. So kann man nicht operieren.

2. Maßnahmen zur besseren Verzahnung von vorschulischem Bereich und Grundschule mit dem Ziel einer frühzeitigen Einschulung.

Wir haben das in Berlin eingeleitet. Wir sind übrigens das einzige Bundesland, das bereits per Gesetz die Einschulung mit Fünfeinhalb festgelegt hat.