Protocol of the Session on April 29, 2004

Zusammenarbeit Berlins mit den neuen EU-Mitgliedsländern ausbauen

Antrag der SDP und der PDS Drs 15/2755 Beschlussempfehlung EuroBundMedien Drs 15/2785

j) Dringliche Beschlussempfehlung

Berlin für Europa fit machen VI – Öffentlichkeitskampagne über die Chancen und Risiken der EU-Osterweiterung

Beschlussempfehlung EuroBundMedien Drs 15/2790 Antrag der CDU Drs 15/2657

k) Dringliche Beschlussempfehlung gemäß § 21 Abs. 5 Satz 5 GO Abghs

EU-Erweiterung – Aufgabe und Chance für Berlin

Beschlussempfehlung EuroBundMedien Drs 15/2786

l) Dringliche Beschlussempfehlungen

EU-Osterweiterung: Berlins Chancen nutzen (II) – Regionalforum Berlin-Brandenburg-Westpolen initiieren

Beschlussempfehlungen EuroBundMedien und Haupt Drs 15/2795 Antrag der Grünen Drs 15/2317

m) Dringliche Beschlussempfehlungen

EU-Osterweiterung: Berlins Chancen nutzen (III) – Berliner Netzwerke für kleine und mittlere Unternehmen nutzen, Berliner Netzwerke zur ökologischen Infrastrukturmodernisierung initiieren

Beschlussempfehlungen EuroBundMedien und Haupt Drs 15/2796 Antrag der Grünen Drs 15/2318

n) Dringliche Beschlussempfehlungen

EU-Osterweiterung: Berlins Chancen nutzen (IV) – Kooperation mit Polen, Russland und den baltischen Staaten intensivieren

Beschlussempfehlungen EuroBundMedien und Haupt Drs 15/2797 Antrag der Grünen Drs 15/2319

o) Dringliche Beschlussempfehlungen

EU-Osterweiterung: Berlins Chancen nutzen (I) – notwendige Voraussetzungen in Politik und Verwaltung schaffen

Beschlussempfehlungen EuroBund Medien und Haupt Drs 15/2798 Antrag der Grünen Drs 15/2316

Der Dringlichkeit wird hier nicht widersprochen.

[Allgemeiner Beifall]

Deutschland hat den EU-Beitritt unserer Nachbarn mit aller Kraft unterstützt. Er liegt in unserem ureigensten Interesse. Die EU wächst um 75 Millionen Menschen, um rund 740 000 Quadratkilometer und um eine Kaufkraft von fast 800 Milliarden €. Die Erweiterung bringt enorme politische und kulturelle Chancen. Berlin kann zu den Nettogewinnern eines wachsenden Marktes gehören.

Und zum anderen war und bleibt es unsere historische Verantwortung, die Einigung Europas zu fördern, Verantwortung gegenüber den Opfern eines von Anfang an verbrecherischen Krieges und Verantwortung gegenüber jenen, die in den mittel- und osteuropäischen Ländern an der Vision eines einigen Europas festhielten und dafür kämpften, Verantwortung vor allem aber für das friedliche Zusammenleben in der Zukunft.

Es war unser Land, das mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg auslöste und unermessliches Leid verursachte. Es war Deutschland, in dessen Namen massenhaft Menschen ermordet, vertrieben und geschändet wurden. Als Nachgeborene tragen wir daran keine persönliche Schuld, aber dennoch eine Verantwortung dafür, dass all dies nie wieder geschehen kann: Wir tragen Verantwortung für eine bessere, eine friedliche Zukunft.

[Allgemeiner Beifall]

RBm Wowereit

Zukunft gestalten kann man nur auf der Grundlage ehrlicher Erinnerung. Wir dürfen die Orte des Schreckens nicht vergessen und sollten uns immer wieder klarmachen, von wo die Bahngleise nach Auschwitz führten. Ich habe gerade mit dem israelischen Staatspräsidenten Katzav und dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Kränze niedergelegt am Gleis 17. Wer dürfen nicht vergessen, wer die Menschen waren, die unter erbärmlichen Verhältnissen in den Baracken des Lagers leben mussten: Frauen, Männer und Kinder, Menschen aus allen Schich

ten, die von Gleis 17 in Grunewald oder aus dem Warschauer Ghetto abtransportiert wurden und aus der Hölle von Auschwitz nie mehr zurückgekehrt sind. Das sind Gedanken, die einem durch den Kopf gehen, wenn man als Deutscher eine solche Gedenkstätte besucht. Und sie bestärken einen, alles dafür zu tun, dass von Deutschland nie wieder Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgehen.

Sie ermutigen uns aber auch dazu, auf die Nachbarn zuzugehen, die Hand auszustrecken und gemeinsam an einer neuen, an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Ich bin sehr dankbar, dass unsere Nachbarn die ausgestreckte Hand angenommen haben. Es ist ein wunderbares Zeichen für die gewachsene deutsch-französische Freundschaft, dass ein Pariser und ein Berliner Stadtoberhaupt gemeinsam Kränze in Auschwitz und Birkenau niederlegen.

Und dass wir auch mit dem Repräsentanten der Hauptstadt Polens eine vertrauensvolle und freundschaftliche Zusammenarbeit entwickeln konnten, dafür danke ich allen Beteiligten sehr herzlich.

Stellvertretend für viele, die an der Vertrauensbildung mitgewirkt haben, nenne ich meine Amtskollegen in Paris und Warschau. Ich danke Bürgermeister Delanoe und dem Stadtpräsidenten Kaczynski, und ich bin froh, dass so viel Vertrauen gewachsen ist, dass wir zwischen den drei Hauptstädten eine Vertiefung der Zusammenarbeit verabreden konnten.

Verantwortung bedeutet auch, das Erbe der ungarischen Freiheitsbewegung von 1956, des Prager Frühlings und der Solidarność anzunehmen. Den mittel- und osteuropäischen Bürgerbewegungen haben wir viel zu verdanken. Ihr Aufbegehren hat den Weg in die deutsche Einheit und in eine gemeinsame europäische Zukunft geebnet. Das sage ich auch und gerade unseren polnischen Nachbarn: Polen und Deutschland stehen sich heute näher als jemals zuvor. Darüber können auch die politischen Meinungsverschiedenheiten der vergangenen Monate nicht hinwegtäuschen. Wichtig ist unser Wille zu einem gemeinsamen Handeln.

Erinnern möchte ich an die Debatte über Flucht und Vertreibung. Wir müssen diesen Dialog führen und wir werden ihn im Geist der Versöhnung führen. Diese Debatte ist nötig, für manche sogar schmerzhaft, aber aus ihr kann und wird ein neues, gemeinsames Bewusstsein für Demokratie und Zusammenhalt wachsen.

Ich bin sehr froh, dass vor wenigen Tagen eine Konferenz von Kulturministern zum Thema „Zwangsmigration“ in Warschau übereingekommen ist, ein europäisches Netzwerk auf den Weg zu bringen. Es soll sich auf Europa im 20. Jahrhundert konzentrieren und sich vor allem der Wissensvermittlung und Jugendbildung über diesen Zeitabschnitt widmen. Damit ist – unter maßgeblicher Beteiligung von Staatsministerin Weiss – eine Verständigung in Gang gekommen, und erstmals seit 1945 ist es gelungen, die Diskussion über Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert auf politischer Ebene in einen europäischen Rahmen zu stellen.

Kein Land hat so sehr unter den Verbrechen der Deutschen gelitten wie Polen. Es sind erst 34 Jahre vergangen seit dem Kniefall von Willy Brandt an der Gedenkstätte für die ermordeten und gefallenen Juden im früheren Warschauer Ghetto und seit die Bundesrepublik Deutschland die Westgrenze Polens anerkannt und sich zum Gewaltverzicht verpflichtet hat. Schon damals ging es um Frieden und Ausgleich im Herzen Europas. Es ging darum, das Verhältnis zu Polen in einer Art zu entwickeln, wie es mit Frankreich gelungen ist, und eine neue europäische Perspektive zu öffnen.

Das war vor wenigen Tagen auch die Botschaft meiner gemeinsam mit dem Pariser Bürgermeister unternommenen Reise nach Warschau, Krakau und Auschwitz und Birkenau.

[Allgemeiner Beifall]

Nach der Wiedervereinigung und der wiedergewonnenen Rolle als Hauptstadt ist die Erweiterung der Europäischen Union die wichtigste Entwicklungsperspektive für Berlin. Europa rückt zusammen, und Berlin liegt in seiner Mitte. Unsere Stadt verfügt über die besten Voraussetzungen, um an der Entwicklung der erweiterten Europäischen Union mitzuwirken.

Am Anfang steht unsere geografische Lage. Es sind nur rund 70 Kilometer bis zur polnischen Grenze. Die für uns nächst gelegene Großstadt heißt nicht etwa Leipzig, Rostock oder Hannover, sondern Stettin. Der Ostseeraum mit den EU-Neumitgliedern im Baltikum rückt durch die EU-Erweiterung aus Berliner Perspektive ebenso näher wie auch Russland, unser wichtigster Handelspartner in Mittel- und Osteuropa.

Nach der Wende sind Zehntausende Bürger aus den MOE-Staaten nach Berlin gekommen, um hier ihre Chancen zu nutzen. Mehr als 30 000 Polen leben heute offiziell in unserer Stadt. Schätzungen besagen, dass 100 000 Berlinerinnen und Berliner die polnische Sprache beherrschen. In Berlin gibt es zahlreiche Ost-West-Institutionen, die unsere Stadt zu einem Ort des lebendigen Austausches machen. Beispielhaft nenne ich nur das Ost-WestKooperationszentrum in Berlin-Adlershof, die Europäische Akademie, den Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft oder die vielen, in diesem Bereich tätigen Kulturin

RBm Wowereit

Der Berliner Anteil am Handel mit Mittel- und Osteuropa ist in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen,

aber das reicht nicht aus. Berlins Exportanteil nach Polen ist mit 3 % im Jahr 2003 mehr als ausbaufähig. Für Berlin kommt es auf drei Punkte an: Noch mehr Eigeninitiative und intensivierte Kontaktpflege der Unternehmen, Vernetzung aller wesentlichen Akteure in der Region und Ausbau der Infrastruktur. Mein Appell an die Berliner Wirtschaft ist: Knüpfen Sie grenzüberschreitende Kontakte! Werfen Sie Ihre Kompetenz bei der Erschließung der Märkte in Mittel- und Osteuropa in den Ring!

Ich weiß sehr wohl, dass es die Angst vor Dumping, vor wachsendem Wettbewerbsdruck und die Sorge vor der zunehmenden Konkurrenz um Arbeitsplätze gibt. Wir müssen die Ängste ernst nehmen. Wenn laut einer Umfrage des Polis-Instituts 71 Prozent der Deutschen erwarten, dass mit der EU-Erweiterung hier die Arbeitslosigkeit steigt und die Löhne sinken, so ist noch viel Überzeugungsarbeit notwendig. Genauso wichtig es jedoch, dass sich in derselben Umfrage die Mehrheit der Deutschen für den Beitritt der neuen Länder ausgesprochen hat. Das ist – glaube ich – ein sehr positives Zeichen.

stitutionen. Unsere Transformationserfahrungen sind ein unverwechselbares Potential, das wir in die Kooperation mit den Beitrittsstaaten einbringen.

Unsere intensiven Städtepartnerschaften zu mittel- und osteuropäischen Städten wie Budapest, Warschau, Prag – aber auch Moskau – sorgen für Kooperationen auf vielen Ebenen, vor allem für Begegnungen zwischen den Menschen. Berlin verfügt über eine ausgeprägte Ost-WestSzene. In Berlin ist eine große kulturelle Nähe zu den Beitrittsstaaten entstanden. Das ist einer der wichtigsten Standortvorteile von Berlin.

Berlin muss bei seinen Stärken ansetzen, wir haben jede Menge davon. Berlin ist eine internationale und weltoffene Stadt und verfügt über hervorragende Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen. Wir sind eine Kulturmetropole, die hohes Ansehen genießt. Die Unternehmen in der Stadt repräsentieren Sachverstand und Kompetenz auf vielen Feldern. Man könnte viele Unternehmen aufzählen, die schon heute zeigen, was man aus dem Zusammenwachsen Europas machen kann:

Da ist Berlin-Chemie, das vom den italienischen Menarini-Konzern mit Erfolg für den Einstieg in die mittel- und osteuropäischen Märkte genutzt wird und dort inzwischen eine Spitzenposition belegt. Das ehemalige DDRUnternehmen wächst dynamisch und beschäftigte Ende 2003 mit über 3 200 Arbeitsplätzen mehr Mitarbeiter als vor der Wende. Weitere 600 sollen bis Ende 2004 hinzukommen. Eine bemerkenswerte Erfolgsstory vom Aufbau Ost und ein Zeichen dafür, wie sehr sich die enge Kooperation im zusammenwachsenden Europa lohnt.

Mein zweites Beispiel ist im Vergleich zu BerlinChemie ein vergleichsweise kleines: die Firma Rethmann. Das Reinigungsunternehmen aus Lünen hat von Berlin aus in Polen etwa 55 Tochterunternehmen gegründet. Ausschlaggebend war auch hier das gute Netzwerk, die persönlichen Beziehungen vieler Mitarbeiter gen Polen und die verkehrsgünstige Lage Berlins. Rethmann beschäftigt 200 Mitarbeiter in Berlin.

Beide Firmen setzen auf die Lage Berlins und auf die Kontakte, die es nun einmal in Berlin in Richtung Mittel- und Osteuropa gibt. Berlin kann als Sprungbrett sowohl gen Osten als auch gen Westen dienen.