Protocol of the Session on May 22, 2003

Es ist auch unser Interesse, dass sich an der jetzigen Situation etwas ändert. Aber die Art und Weise, wie der rot-rote Senat dieses angehen möchte, ist für uns nicht tragbar. Wir haben mit unserer Drucksache 15/1489 ein Zweisäulenmodell aus Ausleihe und Eigenbeteiligung vorgeschlagen. Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Grundschule davon freihalten wollen: Die Grundschülerinnen und -schüler sollen nicht dafür zahlen. Unser Modell sieht vor, dass drei Viertel der Schulbücher in der Ausleihe bleiben und ein Viertel durch die Eltern selbst gekauft wird. Die Elternbeteiligung soll nach unserem Modell aber erst ab der weiterführenden Schule einsetzen. Familien, die Sozialhilfe oder Wohngeld beziehen, sollen befreit werden. Das ist auch in Ihrem Modell vorgesehen. Wenn man allerdings die Höhe der Eigenbeteiligung in Betracht zieht, wird Ihre Rechnung nicht aufgehen. Nach unserem Modell entstehen für die selbstzahlenden Eltern je nach Schulklasse Beträge zwischen 30 und 60 € als Eigenanteil. Diese Beträge sind für uns die Obergrenze und dürfen nicht überschritten werden.

Ich eröffne die II. Lesung und schlage vor, die Einzelberatung der zwei Artikel miteinander zu verbinden. – Ich höre dazu keinen Widerspruch.

Ich rufe auf die Überschrift und die Einleitung sowie die Artikel I und II der Beschlussvorlage Drucksache 15/604. Es ist eine Beratung vorgesehen mit fünf Minuten pro Fraktion. Ich bitte herzlich, die Redezeiten jetzt einzuhalten. – Für die Grünen beginnt der Abgeordnete Mutlu. – Bitte schön, Herr Mutlu! Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der rot-rote Senat hat seine wochenlange Entscheidungsunfähigkeit in der Frage der Lernmittelfreiheit auf Kosten der Eltern beendet. Die SPD hat gekocht, die PDS darf jetzt kellnern und den Eltern, den Schülerinnen und Schülern und den Schulen die negative Botschaft übermitteln.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier stehe und zu Ihnen spreche und vergeblich nach positiven Worten zur Bildungspolitik dieses rot-roten Senats suche. Leider sind unter Rot-Rot die vor den Wahlen verwendeten Leitsätze „Bildung hat Priorität“ oder „Priorität bei Bildung“ jetzt zu Floskeln geworden. Leider haben Sie, meine Damen und Herren von der SPD und der PDS, den vollmundigen Versprechungen Ihrer Koalitionsvereinbarung nur Taten mit umgekehrtem Vorzeichen folgen lassen. Bei Ihnen hat Bildung keine Priorität – das wissen sogar schon die Kinder in den Vorklassen.

[Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Sie haben den Rückenwind der PISA-Studie nicht genutzt. Sie haben durch Erhöhung der Kitagruppengröße und durch Reduzierung bei den Leitungsstellen der Kitas Qualitätsentwicklung in den Kitas unmöglich gemacht. Sie haben die Lehrerarbeitszeit ein weiteres Mal erhöht. Sie haben bei Schulen in freier Trägerschaft die Zuschüsse gekürzt. Sie haben in zwei Jahren der Regierung keine einzige neue Ganztagsschule geschaffen. Und wenn nicht die Mittel der Bundesregierung wären, würde diese Stadt sicherlich bis zum Nimmerleinstag auf die 30 Ganztagsschulen warten, die Sie versprochen haben.

Aber all das reicht nicht. Jetzt wollen Sie mit der Abschaffung der Lernmittelfreiheit und der Einführung eines Elternbeitrags von 100 € auch noch den Eltern in die Tasche greifen. Wir erinnern uns an die kürzlich gehaltene Rede von Herrn Dr. Sarrazin, in der er gesagt hat, er habe noch Ideen. Ich sage Ihnen: Den Phantasien – um nicht zu sagen, den Phantastereien – von Herrn Dr. Sarrazin sind keine Grenzen gesetzt. Demnächst darf der „Kellner“ der Elternschaft in dieser Stadt sicher auch noch die Botschaft „Kitagebührenerhöhung“ übermitteln.

Vorrangig bei der Reform ist eine Erneuerung des Schulbuchbestandes und die Garantie der Lernmittelfreiheit für Schülerinnen und Schüler aus Familien mit niedrigem Einkommen. Mit Ihrem Modell ist dieses nicht realisierbar. Ich appelliere an Ihre Vernunft und sage Ihnen: Stimmen Sie unserem Änderungsantrag heute zu! Verhindern Sie, dass die Eltern dieser Stadt noch tiefer in die Tasche greifen müssen und für etwas zahlen müssen, wofür die Schülerinnen und Schüler am wenigsten können – für das Haushaltsloch.

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Herr Kollege Mutlu! – Es folgt die SPD mit der Frau Kollegin Harant. – Bitte schön, Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich finde es sehr erfreulich, dass wir wenigstens die überflüssige Diskussion um die Dringlichkeit nicht noch einmal geführt haben. Denn dass es bei diesem Gesetzesänderung höchste Zeit ist, dass eine Entscheidung getroffen wird, damit die Schulen wissen, wo es langgeht, ist nicht zu bestreiten. Ich habe heute Vormittag Anrufe von Schulleitern erhalten, die sagen: „Jede Stunde ist uns kostbar. Wir wollen endlich wissen, was

Im Übrigen ist da die Bundes-CDU auf einem anderen Dampfer, die spricht nämlich überall von Eigenbeitrag und Eigenverantwortung.

Der FDP geht unser Modell nicht weit genug. Die FDP will eine völlige Abschaffung der Lernmittelfreiheit und für die sozial Schwachen – was in Ihrem Antrag nicht weiter definiert ist – ein Gutscheinsystem einführen, für jedes Jahr neue Bücher. Frau Senftleben! Ich finde, Sie haben eigentlich eine sehr erfreulich pragmatische Art, aber in diesem Fall scheint Ihnen unklar zu sein, dass das eine irrsinnig teure Lösung ist und dass es viermal so viel kostet, wenn Sie jedes Jahr jedem Kind neue Bücher kaufen. Was passiert eigentlich im Folgejahr? Glauben Sie wirklich, die Bücher werden ins Regal gestellt? – Die werden verkauft, eine kleine Aufbesserung des Privathaushalts, finanziert durch das Land Berlin.

Zu den Grünen: Das Zweisäulenmodell, Herr Mutlu, kommt eigentlich unserem Modell relativ nahe, nämlich Kombination aus Ausleihe und Eigenbeteiligung der Eltern. Sie haben es ein wenig verändert, Sie sind bei 60 €, wir liegen bei 100 €. Wir wollen dadurch eine deutliche Verbesserung erreichen. Wenn Sie sich nicht der Haushaltsverantwortung entziehen würden, könnten Sie sich vielleicht für unser Modell erwärmen und ihm zustimmen.

passiert.“ – Darum wollen wir heute auch einen Beschluss fassen.

[Beifall bei der SPD – Zurufe der Abgn. Frau Dr. Tesch (SPD), Frau Senftleben (FDP) und Schruoffeneger (Grüne)]

Wir haben lange über die Inhalte gesprochen, Frau Senftleben, und nicht nur im Ausschuss.

Was soll sich ändern? – Die Lernmittelfreiheit wird nicht aufgehoben, die Lernmittelfreiheit wird eingeschränkt. Eine Eigenbeteiligung an den Kosten der Schulbücher in Höhe von maximal 100 €, gemessen am Neuwert der Bücher, muss von den Eltern erbracht werden. Sie werden also verpflichtet, Schulbücher zu kaufen, gebraucht oder neu. Was den Betrag von 100 € übersteigt, wird auch weiterhin an die Schülerinnen und Schüler ausgeliehen.

[Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

Wir verfolgen damit zwei Ziele, und beide Ziele sind uns gleichermaßen wichtig: Es ist zum einen eine Entlastung des Haushalts, in diesem Fall um etwa 10 Millionen €. Zur Konsolidierung des Haushalts gibt es keine Alternative. Dazu stehen wir.

Wir verfolgen ein zweites Ziel: Wir wollen eine Verbesserung der Ausstattung mit aktuellen Büchern in den Schulen, damit die Kinder bessere Lernbedingungen haben.

[Zuruf der Frau Abg. Jantzen (Grüne)]

Beides können wir mit unserem Modell umsetzen. Sozial schwache Familien werden nicht zusätzlich belastet, denn Kinder von Sozialhilfeempfängern, Wohngeldbeziehern, Asylbewerbern und BAföG-Beziehern erhalten weiterhin sämtliche Bücher im Ausleihverfahren. Das heißt, fast ein Viertel der Berliner Schüler und Schülerinnen werden aus sozialen Gründen auch weiterhin uneingeschränkte Lernmittelfreiheit genießen.

Aufgabe des Staates ist es, den zu unterstützen, der sich nicht selbst helfen kann. Hier geht es um die Teilhabe an Bildung, die wir allen gewährleisten wollen. Unser Modell folgt diesem Prinzip und nicht dem Prinzip – manche Leute verstehen soziale Gerechtigkeit etwas anders, offensichtlich auch hier –, dass alle alles umsonst bekommen. Das können wir uns nicht leisten.

[Frau Jantzen (Grüne): Aha, wenn wir es uns leisten könnten, würden Sie es nicht machen!]

Deshalb wollen wir es ändern.

Kommen wir zu den Positionen der anderen Fraktionen. Die CDU schießt hier den Vogel ab, denn sie hat eine etwas schlichte Haltung, übrigens auch eine etwas bequeme, wenn sie sagt: Was scheren uns Haushaltsprobleme, was scheren uns veraltete Schulbücher, wir wollen keine Veränderung. – Respekt, das ist wirklich konsequent konservativ.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

[Rabbach (CDU): Wir denken an die Eltern!]

Vielleicht sollten Sie sich da einmal informieren.

[Frau Schultze-Berndt (CDU): Vielleicht gehen Sie einmal in die Schulen und fragen dort nach!]

Der CDU geht unser Modell also zu weit.

Ich möchte abschließend daran erinnern, dass die Lernmittelfreiheit in den meisten Bundesländern bereits eingeschränkt ist, auch übrigens in Brandenburg. Das Modell in Brandenburg ist genauso angelegt wir unseres, also eine Kombination von Kauf und Ausleihe. Obwohl es viele bestreiten oder meinen, das könnte gar nicht funktionieren, sagen uns die Brandenburger, dass dieses Verfahren seit Jahren ohne größere Probleme läuft. Dort werden mit großer Selbstverständlichkeit die Schulbücher nach einem Jahr weiterverkauft, so dass die finanzielle Belastung sowohl durch den Weiterverkauf – das erbringt mindestens 50 % der Kosten – als auch durch den Kauf gebrauchter Bücher, die wesentlich billiger sind als neue, für die Familien erheblich gesenkt werden kann. Deshalb können wir mit gutem Gewissen dieses Modell, diese Gesetzesänderung vertreten.

[Eßer (Grüne): Und was ist mit der sozialen Diskriminierung?]

Danke schön!

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Vielen Dank, Frau Kollegin! – Die Redezeit ist beendet. Wir kommen zur Fraktion

Die Eltern haben dann während der Ferien Zeit, die Bücher zu kaufen. Dass während dieser Zeit eine Koordi

nation im Klassenverband auf Grund der Urlaubszeit schwierig ist, juckt den Senat dabei nicht. Wenn Rot-Rot den Familien schon die Kosten für die Lernmittel aufbürdet, muss man sich nicht auch noch darum kümmern, ob die Eltern bei Sammelbestellungen nicht möglicherweise Rabatte eingeräumt bekommen könnten.

Durch Ihre Vorgehensweise, das Gesetz erst wegen der Streitereien innerhalb der Koalition zu verzögern und dann im Schweinsgalopp durchzupeitschen, nehmen Sie den Eltern auch noch die Möglichkeit zumindest einer geringfügigen Entlastung. Das soziale Gewissen tragen die Regierungsfraktionen in ihrem Namen. Anscheinend reicht Ihnen das. Wir finden, man muss dem auch Taten folgen lassen.

Ich frage Sie: Finden Sie es sozial, wenn in der Großstadt Berlin, mit ihren besonderen sozialen Problemen – überdurchschnittlich viel allein Erziehende, viele Kinder ausländischer Herkunft und extrem viele Arbeitslose – den Familien die Lasten des Spardrucks der Stadt aufgebürdet werden?

der CDU. Das Wort hat Frau Kollegin Schultze-Berndt. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Gesetzesentwurf, den wir heute diskutieren, haben Sie in die letzte Plenarsitzung eingebracht. Rot-Rot will ihn heute schon verabschieden. Er ist mit heißer Nadel gestrickt, damit er schnell noch zum nächsten Schuljahr umgesetzt werden kann. Die Überschrift für dieses Gesetzesvorhaben müsste eigentlich lauten: „Chaos und soziale Ungerechtigkeit“.

[Beifall bei der CDU]

Sechs Wochen vor Ferienbeginn richten Sie ein organisatorisches Chaos in den Schulen und Familien an. Die Lehrer müssen sich über die Inhalte für das nächste Schuljahr jetzt festlegen. Was für ein Mathebuch sicher nicht schwer fällt, bei der Auswahl von Lektüren, gerade bei den Sprachen, ist es durchaus schwierig. Denn immerhin nutzen viele Lehrer die Ferien als Vorbereitungszeit für das nächste Schuljahr. Nun müssen die Lehrer, während sie die letzten Klassenarbeiten schreiben, Zensurenkonferenzen stattfinden und mitten während der Zeugnisvorbereitung schnell überlegen, welche Lektüre im nächsten Schuljahr anstehen soll.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Harant?

Nein! – Dass noch nicht einmal jeder Lehrer weiß, welche Klassen er bekommen wird, geschweige denn die Klassen kennt, in denen er eingesetzt werden soll, sei nur am Rande erwähnt. Eine Auswahl, in die die Schüler aktiv einbezogen werden, machen Sie damit unmöglich. Wie sich diese Vorgehensweise mit dem Wunsch verträgt, nach den Ergebnissen der PISA-Studie die Ergebnisse des Unterrichts zu verbessern, kann uns Rot-Rot gern erklären.