Protocol of the Session on May 8, 2003

[Zuruf des Abg. Over (PDS)]

Es gibt Bürger in Kreuzberg, die mit dem Gedanken spielen, ihr Eigentum am nächsten 1. Mai durch private Sicherheitsdienste sichern zu lassen. Wer möchte das in diesem Hause? – Niemand. Diese Bürger sagen aber: Wie kann ich akzeptieren, dass 45 Minuten lang mein Eigentum zerstört wird, und die Polizei ist mit zwei Hundertschaften 50 Meter entfernt? – Das ist nicht akzeptabel.

[Beifall bei der FDP]

Wir können nicht mit der Rhetorik von Links sagen: Es ist doch insgesamt ganz gut gelaufen – und uns nicht weiter damit beschäftigen. Wir müssen es im Vorfeld diskutieren. Wir müssen darüber nachdenken und neue Ideen nach vorne bringen. Es ist ein gesamtberliner Problem. Berlin als Ganzes leidet unter dieser Situation. Also: Nicht vom Gewaltritual zum Klageritual. Nicht resignieren, sondern Anstrengungen unternehmen. Den Mai wieder neu denken – jetzt schon für das nächste Jahr.

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank, Herr Kollege Ritzmann! – Für die Grünen spricht nun der Kollege Wieland. – Bitte schön!

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS]

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS]

Der 1. Mai ist nicht der Tag der Neonazis. Er ist auch nicht der Tag der Chaoten. Er ist der Tag der Arbeitnehmer und ihrer Forderungen. Es wäre gerade in diesem Jahr sehr schön gewesen, wenn die Debatte danach nicht wieder um Krawall gegangen wäre. – Herr Lindner, nun lachen Sie nicht so dusslig!

[Heiterkeit bei den Grünen und der PDS – Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS]

Ja, wirklich! Sie standen neben der DGB-Demonstration und haben sinnlose Parolen in die Gegend gerufen. Ich hatte Ihnen noch zugute gehalten – –

Herr Kollege Wieland, ich rüge den Ausdruck „dusslig“. Wir sind hier kluge Vertreter des Volkssouveräns und gutwillig.

[Zurufe von den Grünen und der PDS]

Ja, ich nehme es zurück! – Ich dachte, er hätte belebende Getränke getrunken an diesem 1. Mai. Aber wer sich da hinstellt und „Freiheit für Wieland!“ durch die Straßen ruft – – Ich bin frei, lieber Herr Lindner,

[Heiterkeit bei den Grünen und der PDS]

Das ist sicherlich sinnvoll, wenn Peter Grottian anregt, dass man eine unabhängige Expertenkommission ansetzt und neue Erkenntnisgewinne hat. Wir haben Peter Grottian noch nie in seinen Initiativen gebremst. Wir hätten es auch nie gekonnt. Aber ich sage dennoch, das Rad muss hier nicht neu erfunden werden. 1994 hat die unabhängige Kommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt in Berlin, im Übrigen eine Praktikerkommission, sehr richtige Leitlinien beschrieben und sehr richtige Handlungsanleitungen gegeben. Wir haben hier wieder einmal ein Umsetzungsdefizit, weniger ein Erkenntnisdefizit. Klar ist, dass in der Ausbildung, bei der Betreuung und in der Eröffnung von Zukunftsperspektiven mehr getan werden muss. Ich persönlich halte die Diskussion, ob diese Jugendlichen Opfer der Verhältnisse sind oder ob sie Täter sind, für relativ müßig. Im Zweifel sind sie beides. Michel Friedman sagt immer zu Recht: Niemand wird als Rassist geboren. Kinder kennen keinen Rassismus. Zum Rassisten wird man. – Ähnlich verhält es sich mit der Kriminalität. Es wird auch niemand als Krimineller geboren. Ungünstige Lebensumstände rechtfertigen und entschuldigen jedoch nicht das Einschlagen einer kriminellen Karriere. Deshalb ist es richtig, was jetzt immer gesagt wird, ihnen die Grenzen zu markieren. Wer wollte dagegen sein? – Es reicht aber nicht. Man muss auch ihre von Perspektivlosigkeit geprägte Situation sehen und kann sie nicht hinnehmen. Eine Gesellschaft mit bald fünf Millionen Arbeitslosen darf nicht überrascht sein, wenn sie keine problemlosen Unterschichtjugendlichen hat. Alles andere wäre ein Wunder, und Wunder geschehen selten in unserer Zeit.

und bin auch so frei, Ihnen zu sagen: Wenn Ihr Parteivorsitzender zum „Aufstand der Anständigen“ gegen gewählte Gewerkschaftsvorsitzende aufruft,

[Dr. Lindner (FDP): Da hat er doch Recht – oder?]

wenn er ein Vokabular wählt, das ansonsten gegen knüppelschwingende Skinheads angewendet wird, dann verabschieden Sie sich aus jeder ernsthaften Diskussion, dann sollten Sie hier auch nicht Herrn Ritzmann abwägend reden lassen, sondern sagen, dass Sie mit dem 1. Mai gar nichts zu tun haben und dass Sie mit den Interessen der Beschäftigten in diesem Lande noch weniger zu tun haben, dann halten Sie sich doch da völlig heraus!

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS]

Eine Diskussion auch über die Agenda 2010, eine Diskussion über Sozialreformen, über dabei zu wahrende soziale Gerechtigkeit, die wäre notwendig gewesen. Krawall entpolitisiert. Das sieht man gerade wieder hier – bedauerlicherweise, denn nie wäre ein politischer 1. Mai nötiger gewesen als diesmal.

[Beifall bei den Grünen und der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Es wurde hier deutlich gesagt, dass die Initiativen, die insbesondere in Kreuzberg ergriffen wurden, eine neue Qualität hatten und genau dies verstanden und geleistet haben, eine Inbesitznahme des öffentlichen Raumes in Kreuzberg, besser als im letzten Jahr mit dem Denk-MaiKonzept. Dies war alles sehr positiv. Da muss sich auch niemand verstecken. Es wäre sicherlich – im Nachhinein ist man immer schlauer – sinnvoller gewesen, wenn der türkische Rockstar Haluk Levent früher aufgetreten wäre. Was aber alles bis 20 Uhr geklappt hat, war untrennbar mit dem Deeskalationskonzept der Polizei verbunden. Deswegen sage ich trotz aller Bilder, die es dort gab, dieses Konzept ist aufgegangen, es hat sich an diesem 1. Mai geradezu glänzend bewährt. Ich habe es noch nie erlebt, dass Veranstalter so genannter revolutionärer Demonstrationen hinterher die Polizei loben. Das war ein Novum. Ein Novum war auch, dass sie es nicht taten, weil die Polizei sie randalieren ließ – dies fand nicht statt, weder während noch nach den Demonstrationen –, sondern weil auch sie langsam verstehen, dass hier eine neue Qualität des polizeilichen Herangehens da ist. Der Krawall ging woanders los. Es wurde beschrieben. Es war vor allen Dingen die Jungtürkenszene oder – wie mein Kollege Eßer formuliert hat – die so genannte „Was kuckst du?“Fraktion,

[Heiterkeit bei den Grünen und der FDP]

die dort gezielt die Polizei suchte, die auf Randale aus war und die in einer neuen Art und Weise organisiert aufgetreten ist, was sich leider – und nun kommen wir zur taktischen Frage – über die Berliner Polizei nicht sagen lässt, dass sie organisatorisch einen Schritt nach vorne gemacht habe. Aber diese Szene, die dort aufgetreten ist, diese Jugendszene, sie lässt sich nicht nur am 1. Mai erfolgreich bekämpfen. Die Antigewaltarbeit muss im Alltag ansetzen, muss dort im Kiez, im Jugendfreizeit

heim, sofern noch vorhanden, und in der Schule geschehen. Wie der 1. Mai in der Schule vorbereitet wurde, so muss er auch nachbereitet werden, und zwar sofort. Wir haben keine Zeit zu verlieren.

[Beifall bei den Grünen und der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Abschließend: Man muss deutlich sagen, dass es auch gravierende taktische Mängel gegeben hat. Diese Bilder wären nicht nötig gewesen. Die Polizeiführung hat uns gesagt, sie wolle sie aufarbeiten. Das wird nötig sein. Eine Stunde zwischen dem Entstehen einer solchen Konfliktsituation und dem Eingreifen der Polizei war zu lang. Man hatte Künstlerpech – keine Frage! Man hat in diesem Bereich nicht mit der Ursache, nicht mit der Wurzel gerechnet. Man hatte keine Berliner Kräfte dort. Dass ich nun jemand bin, der es an diesem Tag immer bedauert hat, wenn er nicht Berliner Polizisten gegenüberstand, ist auch ein erfreuliches Novum für die Entwicklung der Berliner Polizei. Aber dieses Künstlerpech kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in diesem Abschnitt schlicht nicht geführt wurde, und zwar eine Stunde lang keine polizeiliche Führung erkennbar war. Das berühmte Umsteuern von Phase 1 in Phase 2 hat einfach nicht geklappt.

Dennoch: Ich habe mit einem Blick in die Historie begonnen und wage einen Blick in die Zukunft. Wir werden auch einen 20. unfriedlichen 1. Mai erleben, aber

mit angewinkeltem Arm und Leuten, die Stalin-Plakate getragen haben, befanden sich die Grünen. Die Grünen, wissen Sie – Ihr Grünen seid schon gut. Auf der einen Seite seid ihr die großen Reformer,

jedenfalls in dieser Gesellschaft sind Sie da vorbei gezogen, und jetzt regen Sie sich hier wahnsinnig darüber auf, dass einige freie Bürger Milchkaffee trinken vor ihrer Bundesgeschäftsstelle. Das verstehe ich nicht.

nicht mehr einen 21. Deeskalation muss wirken. Sie wirkt mittelfristig. Das hat man hier schon gesehen. Wir sind auf einem guten Weg. Hier gilt es, nicht zu wackeln – das sage ich insbesondere dem Innensenator –, hier gilt es, Kurs zu halten. – Vielen Dank!

[Beifall bei den Grünen, der SPD und der PDS]

Danke schön, Herr Kollege Wieland! – Nicht unerwartet hat Herr Dr. Lindner um eine Kurzintervention gebeten und hat das Wort für drei Minuten. – Bitte schön!

[Zurufe von der PDS und den Grünen]

Herzlichen Dank, Herr Präsident! – Herr Wieland, ich stelle es nur einmal klar, weil Sie hier gerade in so einem Ausbruch reagierten.

[Gaebler (SPD): Ist Ihnen ja völlig fremd!]

Ich stand in der Reinhardtstraße vor unserer Bundeszentrale und trank als belebendes Getränk einen Milchkaffee. Das täte Ihnen vielleicht auch bei Gelegenheit gut, einen Milchkaffee zu trinken.

[Zurufe von der PDS und den Grünen]

Dass da die Demonstration vorbei kam, das habe ich nicht zu verantworten. Das sollte ursprünglich auch gar nicht passieren. Wir hatten als FDP in der Reinhardtstraße eine Neumitgliederveranstaltung mit über 700 Neumitgliedern. Das kennen Sie vielleicht nicht, vor allen Dingen Sie!

[Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD, der PDS und den Grünen]

Das täte Ihnen auch einmal gut, sonst erledigt sich die PDS demnächst biologisch.

[Zurufe von links]

Und dann bekamen wir am Tag vor dem 1. Mai, am 30. April, die Mitteilung, dass der DGB im Hinblick auf die Neumitgliederveranstaltung der FDP seine Route geändert hat und in der Reinhardtstraße vorbei kommt.

[Doering (PDS): Na, so was! – Gaebler (SPD): Nehmen Sie sich nicht so wichtig!]

Schauen Sie, Herr Gaebler, machen wir doch gar nicht! Der DGB hat seine Route an der Reinhardtstraße an unserer Bundeszentrale vorbei geführt.

[Zurufe von links]