Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne unsere Sondersitzung. Es ist die achte Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin. Ich begrüße Sie, unsere Gäste, die Zuhörer und Zuschauer. Wie uns mitgeteilt wurde, wird diese Sitzung live vom Fernsehsender B1 übertragen – dementsprechend können Sie sich verhalten.
Wegen der N i c h t t e i l n a h m e a n u n s e r e r h e u t i g e n S i t z u n g hat sich Herr Senator Branoner entschuldigt. Wie dem Ältestenrat bekannt gegeben worden ist, befindet er sich auf einer Dienstreise in den USA.
Die heutige Sitzung wurde auf Antrag der Fraktion der PDS und der Fraktion Bündnis 90/Grüne gemäß § 56 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses einberufen. Das Quorum war erfüllt, und die Einladung ist Ihnen rechtzeitig zugegangen. Mit dieser Einladung sind Ihnen zwei A n t r ä g e z u r D u r c h f ü h r u n g e i n e r A k t u e l l e S t u n d e zugestellt worden. Einer dieser beiden Anträge, nämlich der der der Fraktion Bündnis 90/Grüne über „CDU-SPD-Koalition treibt Berlin in den Offenbarungseid“ ist im Ältestenrat zurückgezogen worden, so dass nur noch ein Antrag zur Aktuellen Stunde vorliegt, und zwar der Antrag der Fraktion der PDS zum Thema „Senat steuert Haushalt in die Katastrophe“. Somit brauchen wir keine Entscheidung über das Thema der heutigen Aktuellen Stunde zu treffen und werden so verfahren.
Antrag der Fraktion der Grünen über Konsequenzen aus dem Scheitern von Kultur- und Wissenschaftssenatorin Thoben
Bei Anerkennung der Dringlichkeit schlage ich vor, diese Anträge mit der Aktuellen Stunde zu verbinden. Wird der Dringlichkeit widersprochen? – Das ist nicht der Fall. Stimmen Sie der Verbindung beider Anträge zu? – Ich höre keinen Widerspruch.
Im Ältestenrat wurde eine Redezeit von 20 Minuten pro Fraktion beschlossen. Der Senat wurde gebeten, sich ebenfalls an diese Redezeit zu halten.
Bevor wir in die Beratung eintreten, verlese ich zur Kenntnisnahme zwei Schreiben vom 24. März 2000, die an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin gerichtet wurden:
ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich von meinen Ämtern der Bürgermeisterin Berlins und der Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur zurücktrete.
unter Bezugnahme auf das Ihnen bereits vorliegende Rücktrittsschreiben vom 24. März 2000 teile ich Ihnen mit, dass
die Bürgermeisterin und Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Frau Christa Thoben, gemäß Artikel 56 Absatz 4 der Verfassung von Berlin mit Wirkung vom 24. März 2000 von ihren Ämtern zurückgetreten ist.
Ich habe den Senator für Inneres, Herrn Dr. Eckart Werthebach, gebeten, bis zur Wahl eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin die Geschäfte der Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur wahrzunehmen.
Die Mitglieder des Senats von Berlin habe ich mit gesondertem Schreiben gebeten, von dieser Entscheidung Kenntnis zu nehmen.
Wir beginnen nun mit der Aussprache. Im Anschluss an die erste Fraktionsrunde ergreift der Regierende Bürgermeister das Wort. – Dieses nur zur Ankündigung, damit Sie sich darauf einstellen können. – Für die Fraktion der PDS hat nun der Abgeordnete Wolf das Wort. – Bitte sehr!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Frau Thoben in Berlin als Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur angetreten ist, wurde sie von uns auf eine für ein Mitglied der großen Koalition ungewöhnlich freundliche Art und Weise begrüßt. Wir haben darauf hingewiesen, dass wir jedes Senatsmitglied, das den Mut hat, von draußen in diese Stadt zu kommen, begrüßen. Wir haben aber auch darauf hingewiesen, dass sie eine schwere Aufgabe vor sich hat und dass das System Radunski der Theaterfinanzierung ähnliche Abgründe aufweist wie das System Kohl der Anderkonten und dass sie eine schwere Aufräumungsarbeit vor sich hat. Und ich habe Frau Thoben ein Versprechen gegeben.
Ich habe nämlich damals in meiner Rede gesagt: Frau Thoben, ich verspreche Ihnen eines: So etwas wie hier haben Sie noch nie erlebt. – Das ist eines der wenigen Versprechen in der Berliner Politik, die eingehalten worden sind.
Der Rücktritt von Frau Thoben wirft ein Schlaglicht auf die Berliner Politik. Denn Frau Thoben hat sich geweigert, die Berliner Mentalität der Politik des Aussitzens, des Moderierens statt des Anpackens der Probleme, des Schönredens und des Vertuschens weiterzumachen.
Und dieses Problem geht weit über das Kulturressort hinaus. Wieder einmal musste jemand gehen, der von außen in diese Stadt gekommen und nicht Bestandteil des Berliner Milieus ist. Es ist bekannt, dass wir keine Freunde von Jörg Schönbohm gewesen sind. Als Jörg Schönbohm Ambitionen anmeldete und zu befürchten war, dass er in einen Konflikt mit dem Regierenden Bürgermeister steuert, musste er gehen. Aber ich sage: Mit Jörg Schönbohm konnte man sich wenigstens noch streiten. Da lohnte es sich noch zu diskutieren – statt mit der Beamtenmentalität, die jetzt das Innenressort übernommen hat.
Das Gleiche gilt für Frau Thoben, und auch die Art und Weise, wie Frau Fugmann-Heesing das Finanzressort in dieser Stadt verlassen musste, war kein Zufall. Frau Thoben ist ein weiteres Opfer des Berliner Milieus, der Politik der Realitätsverweigerung, der politischen Bewegungslosigkeit und der fehlenden Bereitschaft, eine Politik der Veränderung in dieser Stadt einzuleiten. Frau Thoben war nicht bereit, eine Politik weiter fortzusetzen, die reale Deckungen durch „Bemühenszusagen“ ersetzt, die ungedeckte Versprechen macht, die mit Finanzmittel operiert, als ob es sich um schwarze Kassen handelte, und die von Strukturveränderungen redet, aber eine Politik des „Weiter so“ propagiert –
allerdings ein „Weiter so“ mit immer weniger Geld. Wenn man keine Politik der Strukturveränderung, sondern eine Politik der Reformverweigerung in dieser Stadt betreibt und die alten Strukturen mit immer weniger Geld zu finanzieren versucht, dann läuft das auf die Zerstörung der Strukturen in dieser Stadt hinaus. Das ist die schlechteste aller denkbaren Lösungen, und Frau Thoben war nicht mehr bereit, diese Politik mitzumachen.
Deshalb ist es dringend notwendig, dass die seit langem für den Kulturbereich diskutierten Veränderungen endlich angepackt werden. Dazu gehört als erstes die aktuelle Diskussion, die jetzt begonnen hat, nämlich wie das Verhältnis zwischen Berliner Aufgaben und bundesstaatlichen Aufgaben in der Kulturpolitik klar zu definieren und abzugrenzen ist. Es kann nicht angehen, dass die Hauptstadtkulturfinanzierung und die Beiträge des Bundes zur Defizitfinanzierung und zur Verschiebemasse innerhalb des Berliner Haushaltschaos werden, sondern es müssen klare Zuständigkeiten und klare Verantwortlichkeiten definiert werden. Von unserer Seite liegt seit langer Zeit hierzu ein Antrag vor, und zwar ein Vorschlag, wo wir sagen: Der Bund muss Verantwortung und die Trägerschaft für die Bereiche übernehmen, die von gesamtstaatlicher Bedeutung sind und die mit dem Erbe der deutschen Geschichte – sowohl der nationalsozialistischen Vergangenheit als auch der DDR-Geschichte – zusammenhängen. Das heißt für uns, dass z. B. die Fragen zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz oder zu den Mahn- und Gedenkstätten mit dem Bund verhandelt werden müssen, damit er hierfür die Verantwortlichkeit übernimmt, und auf der anderen Seite muss Berlin die Verantwortung für seine städtische Kultur übernehmen und kann hier nicht laufend auf Unterstützung des Bundes hoffen. Hier muss eigene Verantwortung für städtische Kultur übernommen und gesagt werden, was Berlin an Kultur anbieten und finanzieren will, und dann muss Berlin dieses auch ausfinanzieren. [Beifall bei der PDS]
Zu den notwendigen Veränderungen gehört auch das, was seit langem diskutiert wird, nämlich die Notwendigkeit eines einheitlichen und transparenten Tarifsystems, und zwar eine Tarifsystems, das den Bedürfnissen des Kulturbetriebs angepasst ist. Das muss endlich angegangen werden. Auch die Finanzierung und der Abbau des Überhangs im Kulturbereich und bei den Kulturinstitutionen müssen angegangen werden. Auf dieser Grundlage müssen langfristige Verträge mit Eigenverantwortlichkeit für die Institutionen abgeschlossen, aber gleichzeitig auch Planungssicherheit hergestellt werden. Diese Fragen müssen endlich angegangen werden, statt dass man diese Probleme länger vor sich herschiebt.
Ich habe schon mehrfach gesagt, dass das Problem im Kulturund Wissenschaftsbereich kein Einzelproblem ist, sondern den gesamten Haushalt und die gesamte Politik im Land Berlin durchzieht. Das System Radunski ist nicht einfach nur ein System Radunski gewesen, sondern es ist ein System Diepgen, nämlich die Verweigerung von Entscheidungen und politischer Stillstand. [Beifall bei der PDS und den Grünen]
Wenn man sich den Haushalt ansieht, den wir gerade beraten, dann ist offensichtlich, dass diese ungedeckten Zusagen, diese leeren Versprechungen, das Hin- und Herschieben und Jonglieren mit Mitteln sowie die „Bemühenszusagen“ mehr und mehr zum System der Haushaltspolitik insgesamt werden und dass diese Krankheit aus dem Kulturbereich mittlerweile den gesamten Haushalt des Landes Berlin ergriffen hat.
Herr Kurth, Sie wissen, dass im Z-Teil der Bezirke, den gesetzlich notwendigen Aufgaben, eine absolute Unterfinanzierung existiert und dass wir in diesem Jahr in diesem Bereich wieder ein Haushaltsdefizit von mindestens einer halben Milliarde DM erwirtschaften werden. Alle wissen es, aber nichts passiert. Niemand geht das Problem etwas an, es wird sich schon irgendwie zurechtschaukeln – das ist die Logik.
Herr Werthebach, Sie wissen, dass in Ihrem Personalhaushalt erhebliche Risiken enthalten sind und keine ausreichende Tarifvorsorge existiert. Hier kommt ein Defizit von mindestens
200 Millionen DM, möglicherweise noch mehr, auf uns zu, aber auch auf Ihrer Seite gibt es permanente Reformverweigerung in Bezug auf den Personalhaushalt, den Abbau des Stellenüberhangs und die Frage, wie man die Personalkosten in diesem Land dauerhaft reduzieren und in den Griff bekommen kann. Es reicht eben nicht aus, Herr Diepgen und Herr Werthebach, den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen zu verkünden und ansonsten nichts zu tun. Sie gehen die Umverteilung von Arbeit und Einkommen im öffentlichen Dienst nicht an und laufen damit sehenden Auges in die Katastrophe. Das ist die Politik, die Sie betreiben, und das ist nicht akzeptabel.
Herr Strieder, was ist denn mit Ihrem Etat? – Eine Unmenge von fiktiven Einnahmen: fiktive Einnahmen aus der Fehlbelegungsabgabe, die nicht kommen werden, fiktive Einnahmen aus der Dividende von Wohnungsbaugesellschaften, die nicht kommen werden, riesige und weiter wachsende Defizite im Bereich der Entwicklungsträger, die nicht ausfinanziert sind,