Protocol of the Session on June 14, 2001

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den Grünen]

Wenn davon gesprochen wird, dass mit den Stimmen der PDS am Samstag ein Senat gewählt wird, dass dieses ein Tabubruch ist, dann sage ich: Ja, das stimmt. Das ist aber ein Tabubruch, der überfällig war in dieser Stadt, weil es nicht angeht, dass auf Dauer fast 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler dieser Stadt und überwiegend aus dem Ostteil dieser Stadt per se und von vornherein bei der Regierungsbildung keine Stimme haben dürfen. Es ist notwendig, dass dieses Tabu fällt, Herr Diepgen, weil dieses bisher immer eine Lebensversicherung der CDU war, weshalb Sie gar keine Wahlen mehr brauchten, Sie hatten immer die Garantie, dass Sie an der Regierung sind, solange dieses Tabu existiert hat. Deshalb ist es richtig, dass dieses Tabu fällt.

[Beifall bei der PDS und den Grünen]

Es ist auch deshalb wichtig, weil es im Gegensatz zu dem, was Sie von der CDU in den letzten Tagen versucht haben zu inszenieren, die Stadt nicht spaltet, sondern ein wichtiger Schritt – kein konfliktfreier, ein konfliktbeladener Schritt – in Richtung innerer Einheit der Stadt und zur endgültigen Beendigung des Kalten Krieges in dieser Stadt ist. Ich weiß auch, das will ich deutlich sagen, dass es viele Menschen in dieser Stadt gibt, für die dieses schwierig ist, die das auch als Zumutung empfinden vor dem Hintergrund der Geschichte dieser Stadt. Ich habe für diese Ängste, diese Befürchtungen vor dem Hintergrund der Geschichte der SED volles Verständnis.

Ich will deshalb auch zu dem Thema „Entschuldigung“ hier ein paar Sätze sagen. Ich glaube, „Entschuldigung“ trifft nicht den Sachverhalt, um den es geht, weil „Entschuldigung“ heißt doch das, dass man erwartet, dass es vergeben und vergessen ist. Ich glaube, dass die Schüsse und die Toten an der Mauer und die Verletzungen, die in dieser Stadt damit verursacht wurden, nicht entschuldbar sind. Deshalb geht es um etwas anderes. Es geht darum, ob politische Kräfte in dieser Stadt – und damit meine ich namentlich die PDS – klare Positionen dazu formuliert, dass sie sagt: Für diese Toten, für diese Schüsse, für das, was durch das Grenzregime in dieser Stadt an Verletzungen

(A) (C)

(B) (D)

angerichtet wurde, gibt es keine Rechtfertigung. – Diese klare Aussage können die Menschen in dieser Stadt erwarten, das können diejenigen erwarten, die darunter gelitten haben.

[Zuruf des Abg. Gewalt (CDU)]

Ich sage das hier ganz klar, nicht nur heute, sondern ich habe das in vielen Erklärungen vorher gesagt als Fraktionsvorsitzender der PDS im Berliner Abgeordnetenhaus. Und ich gehe davon aus, dass der Sonderparteitag, den wir morgen Abend haben werden, auch hier ein klares Zeichen setzt, dass unser Bruch mit der undemokratischen Vergangenheit der SED unwiderruflich ist.

[Starker Beifall bei der PDS, der SPD und den Grünen – Dr. Steffel (CDU): Sie sind doch nur eine Minderheit!]

Deshalb sage ich auch: „Entschuldigung“ im Sinne von „Schlussstrich, und dann nicht mehr darüber reden“ darf es für uns nicht geben, sondern die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit muss ein permanenter Prozess sein, der nicht enden kann. Das sage ich hier ganz deutlich.

[Zuruf des Abg. Trapp (CDU)]

Das wird, das sage ich auch ganz klar, natürlich nicht konfliktfrei innerhalb der PDS und innerhalb von Teilen der Wählerschaft sein. Aber das sind Konflikte, die wir austragen müssen. Und Sie alle und die Menschen dieser Stadt werden das beurteilen können, wie wir diese Konflikte austragen.

[Zuruf des Abg. Kittelmann (CDU)]

Damit komme ich zum Wahlkampf der CDU oder dem, was sich da andeutet.

[Dr. Steffel (CDU): Ach Gott, kümmern Sie sich um Ihren Wahlkampf!]

Ich glaube, Sie sollten sich noch einmal sehr ernsthaft überlegen, ob Sie wirklich vorhaben, in die Schützengräben des Kalten Krieges zurückzukehren.

[Dr. Steffel (CDU): Wir werden Sie kritisieren, aber damit müssen Sie leben!]

Herr Steffel, überhaupt kein Problem, wenn Sie kritisieren, das ist normal, das ist politischer Konkurrenzkampf, wir werden Sie auch kritisieren. Aber worum es geht – und das ist die Verantwortung, die alle Fraktionen in dieser Stadt haben –, das ist die Frage, ob man versucht, aus den Gefühlen der Menschen und aus den Verletzungen der Menschen politisches Kapital zu schlagen, und ob man im Wahlkampf noch einmal die Kämpfe des Kalten Krieges aus den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren aufführen will.

[Zuruf des Abg. Schlede (CDU)]

Nein, ich glaube, wir brauchen etwas anderes. Wir brauchen klare Haltungen und Bekenntnisse zur Vergangenheit, klare Positionen dazu.

[Schlede (CDU): Keine Sorge! Kriegt ihr!]

Und wir müssen gleichzeitig den Wahlkampf führen als harten Wahlkampf mit Sachargumenten, wie es weitergehen soll innerhalb dieser Stadt, was die Konzepte sind für die Zukunft in dieser Stadt, was die Konzepte sind zur Bewältigung der Finanzkrise und wie die soziale Balance in dieser schwierigen Situation weiter gewährleistet werden soll. Darüber sollten wir die Auseinandersetzung führen.

[Beifall bei der PDS, der SPD und den Grünen]

Dann werden wir in dieser Auseinandersetzung auch deutlich machen, dass es nicht die PDS war, die die Bankenkrise in Berlin verursacht hat, dass es nicht die PDS war, die die Finanzen Berlins in einen Zustand geritten hat, der zum Gotterbarmen ist und der den sozialen Ausgleich in dieser Stadt gefährdet.

[Zurufe von der CDU]

Das wird in diesem Wahlkampf deutlich gemacht werden. Da wird zu reden sein sowohl über Verantwortung der CDU als

auch über Verantwortung der SPD, die sie innerhalb der großen Koalition getragen hat.

[Beifall bei der PDS und den Grünen – Zuruf des Abg. Schlede (CDU)]

Wir wollen einen wirklichen Neuanfang.

[Zuruf von der CDU: Ach ja?]

Zu diesem wirklichen Neuanfang gehört eine schonungslose Bestandsaufnahme. Dazu gehört auch – und das zu Ihnen, Herr Diepgen: Ich stelle die Leistung nicht in Abrede, die darin bestanden hat, diese schwierige Aufgabe des Zusammenführens der beiden Stadtteile ohne große innere Unruhe, ohne schwere soziale Auseinandersetzung zu bewältigen. Sie wissen genau, wir haben niemals in Abrede gestellt, dass die Politik „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ eine richtige Entscheidung war, obwohl sie das Land Berlin viel Geld gekostet hat. Das ist eine Leistung und eine Haltung, die wir gewürdigt haben und die wir auch weiterhin würdigen – unbestritten! Aber die Tatsache, dass mit völlig illusionären Erwartungen über die Verschuldung große Investitionsprojekte angeschoben wurden, die nicht im Osten gelegen haben – – Die Wasserstadt Oberhavel liegt nicht im Osten. Die Messeerweiterung liegt in Halensee und nicht im Osten – das nur als Beispiel. Vor der Olympiabewerbung ist frühzeitig gewarnt worden. All dieses sind Hypotheken, die diese große Koalition zu verantworten hat.

[Zuruf von der CDU]

Und der soziale Wohnungsbau, den Wolfgang Nagel angeschoben hat, der hat dieser Stadt nicht genutzt. Das war ein gigantisches Subventionsprogramm für die Immobilienwirtschaft. Das gehört auch zur Wahrheit dazu, die man zur Bilanz dieser großen Koalition sagen muss.

[Beifall bei der PDS und den Grünen]

Diese große Koalition hat in der Phase von 1991 bis 1995 in einer falschen Erwartung gelebt, dass man das Geld ausgeben könne, weil die boomende Metropole komme. Damit haben Sie einen riesigen Schuldenberg aufgebaut.

[Schlede (CDU): Die Schulden haben wir aufgenommen, um den Osten zu sanieren!]

Und in der zweiten Phase waren Sie nicht in der Lage und hatten Sie nicht die Kraft, die notwendigen strukturellen Veränderungen einzuleiten. Das gehört zur Bilanz dieser großen Koalition.

Deshalb muss es jetzt darum gehen, eine Politik zu entwickeln – und ich sage deutlich, im Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften in dieser Stadt –, die sich drei Aufgaben stellt: Wir brauchen erstens eine schonungslose Bestandsaufnahme über die wirkliche Situation der Stadt sowohl auf finanziellem Gebiet als auch auf wirtschaftlichem Gebiet und was die möglichen Perspektiven dieser Stadt angeht. Da sage ich auch: Was wir bei der Bankgesellschaft erlebt haben, wird nicht das Letzte sein, was wir erleben. Wir werden reden müssen über den Zustand der BVG. Wir werden reden müssen über den Zustand der kommunalen Wohnungswirtschaft. [Niedergesäß (CDU): Aha!]

Wir werden reden müssen über eine Reihe von Schattenhaushalten, die in dieser Stadt noch existieren. Wir müssen darüber reden, wie wir dort die Probleme bewältigen wollen. Mit der Bankgesellschaft ist das Thema noch nicht erledigt. Es kommen weitere Themen und Probleme dieser Art auf uns zu. Darüber muss jetzt Offenheit hergestellt werden. Darüber muss den Menschen die Wahrheit gesagt werden.

Zum Zweiten müssen klare Konzepte zur Konsolidierung der Landesfinanzen auf den Tisch. Es muss die Bereitschaft geben zu wirklich strukturellen Veränderungen, auch zum Umbau von Institutionen. Dabei muss in dieser Stadt die soziale Balance gewahrt bleiben. Richtig, Herr Diepgen! Aber soziale Balance in dieser Stadt heißt nicht einfach immer mehr Geld ausgeben, heißt nicht immer mehr Schulden machen, sondern soziale Balance in dieser Stadt heißt klare Prioritäten für den sozialen

(A) (C)

(B) (D)

Zusammenhalt bei denen setzen, die am schwächsten sind, klare Prioritäten für Zukunftsaufgaben setzen. Bildung muss Priorität bekommen. [Beifall bei der PDS – Beifall der Frau Abg. Neumann, Eveline (SPD)] Alles andere muss auf den Prüfstand, und da werden Besitzstände fallen müssen. Wer das heute nicht deutlich sagt, der macht den Menschen etwas vor über die wirkliche Lage in dieser Stadt. [Beifall bei der PDS, der SPD und den Grünen] Das wird für alle politischen Kräfte in dieser Stadt nicht einfach werden, für uns nicht, für die Grünen nicht, für die SPD nicht. Ich appelliere deshalb auch an die CDU, falls sie sich nach den Neuwahlen, was ich für wahrscheinlich halte, weiterhin in der Opposition befindet. [Niedergesäß (CDU): Da haben wir die absolute Mehrheit!] Ich appelliere an die CDU, insbesondere an Kollegen wie Herrn Kaczmarek oder auch an Peter Kurth, in dieser schwierigen Situation der Stadt nicht der Versuchung zu erliegen, demagogische Oppositionsreden zu halten, sondern, wie wir das in den letzten Jahren in der Opposition versucht haben, eine verantwortungsvolle Rolle für die Konsolidierung der Landesfinanzen und für die Bewahrung der sozialen Balance in dieser Stadt zu übernehmen. [Gelächter des Abg. Weise (CDU)] Denn diese Fensterreden, einerseits gegen die Kommunisten zu wettern und auf der anderen Seite – wie der Regierende Bürgermeister jetzt wieder in seiner Regierungserklärung – zu sagen: Die soziale Balance wahre ich dadurch, dass ich immer mehr Geld ausgebe –, das braucht diese Stadt nicht mehr. Da steht auch die Opposition in der Verantwortung! [Beifall bei der PDS und den Grünen – Beifall der Frau Abg. Neumann, Eveline (SPD) – Zuruf des Abg. Atzler (CDU)] Das alles werden wir im Wahlkampf ausführlich diskutieren müssen. Dann werden wir nach den Wahlen weitersehen, welche Mehrheitsverhältnisse es gibt und ob es tragfähige Koalitionen gibt. Da sage ich ganz klar: Es gibt keinen Automatismus, dass es nach den nächsten Wahlen Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün gibt, [Zuruf von der CDU: Vielleicht Schwarz!] sondern mit diesem Tabubruch gegenüber der PDS ergibt sich jetzt eine Vielzahl von Möglichkeiten innerhalb dieser Stadt. Und das ist gut. Damit kann endlich das demokratische Institutionensystem in Berlin funktionieren. Es kann so etwas geben wie demokratischen Wechsel. Deshalb ist die Voraussetzung dafür – das ist mein letzter Appell an die Berliner CDU –: Geben Sie endlich den Weg zu Neuwahlen frei, damit möglichst schnell gewählt werden kann und ein handlungsfähiger Senat mit klaren Konzepten in dieser Stadt mit einem Mandat der Wählerinnen und Wähler versehen werden kann. – Danke! [Beifall bei der PDS, der SPD und den Grünen]

Das Wort hat für eine Kurzintervention der Kollege Niedergesäß. – Bitte schön! interjection: [Zurufe von der PDS]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wolf, Sie versuchen schon jahrelang, hier den Eindruck zu erwecken, auch von diesem Pult aus, dass die großen Schulden, die wir in dieser Stadt gemacht haben, allein daher kommen, dass wir investieren und bauen. Insbesondere greifen Sie die Stadtentwicklungsgebiete an. Ich muss zur Klarstellung für die Bevölkerung und die Zuhörer hier sagen, dass wir nach den derzeitigen Bemessungen eine Erwartungshaltung haben, dass die fünf Entwicklungsgebiete in dieser Stadt ein Minus von etwa 1,8 Milliarden DM einfahren werden. Das ist eine Menge Geld. Das ist unstrittig. interjection: [Zurufe von der PDS und den Grünen – Doering (PDS): Weiter so!]

Aber ich möchte Sie daran erinnern, was in diesen fünf Entwicklungsgebieten alles für Leistungen erbracht werden. Ich möchte Sie fragen, wie Sie denn diese 1,8 Milliarden DM, die bei den Entwicklungsgebieten anfallen, in Relation setzen zu den 45 Milliarden DM, die wir für den sozialen Wohnungsbau aus Westberliner Zeiten seit 1990 in der Kasse stehen haben,

[Beifall des Abg. Radebold (SPD)]

was Sie für Vorstellungen von diesem irrwitzigen Finanzierungsmodell haben, das ein gewisser Herr Riebschläger – habe ich vor, 14 Tagen gelernt – einmal erfunden hat und wie Sie von diesem Finanzierungsmodell wegkommen wollen, denn wir werden da in ein paar Jahren nicht mehr 45 Milliarden DM, sondern 60 oder 70 Milliarden DM stehen haben. Erklären Sie doch hier bitte einmal, wie Sie das in Relation setzen und wie Sie die Verunglimpfungen, die Sie ständig dazu bringen, dass wir gemeinsam mit den Sozialdemokraten zehn Jahre lang dafür gestanden haben, dass die Stadt aufgebaut wird – – Das kostet Geld, und dass Geld ausgegeben wird, ist richtig. Dazu stehen wir. Ich hoffe, die Sozialdemokraten nach wie vor. Dass das überhaupt nicht in Relation steht zu diesen Blöcken, die wir – – Einheitsbedingte Sonderlasten kann man dazu nur sagen, weil es ja ein irrwitziges Finanzierungsmodell ist, erfunden von Herrn Riebschläger. Vielleicht können Sie einen Vorschlag machen, wie Sie das aufklären wollen. – Danke schön!

[Zuruf des Abg. Hoff (PDS)]