Protocol of the Session on May 13, 2009

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 85. Sitzung des Landtages Brandenburg. Zunächst begrüße ich als unsere Gäste Schülerinnen und Schüler der Johann-GottfriedHerder Oberschule Königs Wusterhausen. Ich wünsche euch einen spannenden Vormittag bei uns. Herzlich willkommen!

(Allgemeiner Beifall)

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir vor Eintritt in die Tagesordnung eine Bemerkung: Sie haben vermutlich - passend zum Thema der Aktuellen Stunde - in der Zeitung die Umfrage zum Interesse an der Europawahl gelesen. Wir alle sollten dazu beitragen, die Wahlbeteiligung nach oben zu drücken. Es sind eben nicht nur der Euro, die Reisefreiheit und die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die uns Europa wichtig machen. Ich glaube, das Argument, dass seit 65 Jahren Frieden in Deutschland herrscht, ist auch der Stabilität der Europäischen Union zu verdanken. Das ist der Mühe wert, sich an dieser Wahl zu beteiligen. Fordern Sie Ihren Nachbarn auf! Gehen Sie selber hin!

(Beifall bei der SPD, der Fraktion DIE LINKE und der CDU - In der ersten Sitzreihe der SPD-Fraktion sind nur die Abgeordneten Baaske, Frau Lehmann und Holzschuher an- wesend - Jürgens [DIE LINKE]: Eine Beteiligung der SPD wäre schon mal schön, zumindest an Plenarsitzungen!)

Gibt es Bemerkungen zur vorliegenden Tagesordnung? - Wenn das nicht der Fall ist, bitte ich dieser Tagesordnung durch Handzeichen zuzustimmen. - Gibt es Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Beides ist nicht der Fall. Damit ist die Tagesordnung beschlossen.

Wir haben bis 11 Uhr auf Minister Junghanns zu verzichten. Er wird von Ministerin Wanka vertreten.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde

Thema: Konsequent sozial - Brandenburgs Chancen in der Europäischen Union nutzen

Antrag der Fraktion DIE LINKE

Ich eröffne die Debatte mit dem Beitrag der Fraktion DIE LINKE. Die Abgeordnete Kaiser spricht zu uns.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur 20 % der Brandenburger Wählerinnen und Wähler interessieren sich tatsächlich ernsthaft - wie es heißt: „stark“ - für europäische Politik. Diese Nachricht des gestrigen Tages verdeutlicht noch einmal die Aktualität dieses Themas. Ich wäre sehr erfreut, wenn die erste Reihe der stärksten Partei in Brandenburg, der Sozialdemokraten, auch so stark an dem Thema interessiert wäre.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Zumindest in Ihrem Regierungsprogramm, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, steht:

„Die Stärken unseres Landes liegen auch in seiner geografischen Lage in der Mitte Europas. An dieser Schnittstelle zwischen Ost und West wollen wir, die Sozialdemokraten, mehr machen - für unser Land, seine Bürger und unsere Nachbarn. Denn profitieren können wir alle von enger Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg.“

Auf die Taten kommt es an. Wenn ich das lese, denke ich jedoch: Die SPD will europapolitisch so weitermachen wie bisher - ohne eine abgestimmte langfristige Strategie, ohne sozialpolitische Akzente in der Europapolitik. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Ein „Weiter so!“ für dieses Land würde es nicht zukunftsfähig machen. Für ein „Weiter so!“ steht die Linke in diesem Land nicht zur Verfügung.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Wenn wie jetzt, vor Wahlen, eine so geringe Wahlbeteiligung prognostiziert wird, dann sprechen politisch Verantwortliche gern von Problemen mit der Vermittlung ihrer politischen Ansätze. Aus meiner Sicht handelt es sich hier tatsächlich um ein ganz bestimmtes Vermittlungsproblem. Bürgerinnen und Bürger erleben auch hierzulande, dass europäische Politik regelmäßig ganz anders aussieht, als sie erhoffen, auf jeden Fall anders, als regierende Politiker und Politikerinnen es ihnen vor Wahltagen versprechen. Gut klingenden Ansprüchen an Europapolitik stehen also oft andere, teilweise sogar diametral entgegengesetzte politische Lösungen auf europäischer Ebene entgegen, auf nationaler und regionaler Ebene genauso. So täuschen Sie sich gern darüber hinweg: In Brüssel passiert de facto kaum etwas ohne den Willen und ohne das Zutun der Bundesregierung.

Ein aktuelles Beispiel aus Brandenburg: Die Mehrheit im Europaausschuss brauchte ganze sieben Wochen, um sich in einer Sitzung mit den existenziellen Problemen der Euroregion Spree-Neiße-Bober zu beschäftigen. Erinnern Sie sich? Landrat Friese hatte am 27. April vor der Zwangsauflösung seiner Euroregion gewarnt. Solange, wie hier Euroregionen fast in die Zahlungsunfähigkeit getrieben werden, ohne dass Ihre/unsere Landesregierung und Ihr/unser Landtag zügig wirksame Schritte einleiten, braucht man sich über die Ursachen für fehlendes Vertrauen in die EU und auch über mangelhafte Kenntnisse über Entscheidungsabläufe in der EU-Förderpolitik und deren Wirkungen nicht zu wundern. Hier muss ganz klar die Politik der Regierenden verändert werden.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Oder geben Sie einfach zu: Sie wollen die Euroregion nicht mehr! - Ich hoffe ja, die gänzliche Abwesenheit von Ministern und Staatssekretären aus Brandenburg bei der Feier zum 15-jährigen Bestehen der ebenfalls betroffenen Euroregion „Pro Europa Viadrina“ am Freitag in Gorzów kann nicht schon so gedeutet werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihnen fällt jetzt hoffentlich Besseres ein als nur der Vorwurf, die Linke würde die europäische Integration ablehnen und die Brandenburger Europapolitik nur schlechtreden. Das wissen Sie tatsächlich besser. Außer der Linken gibt es in Brandenburg viele, die gerade deshalb scharfe Kritik an der gegenwärtigen europäischen, deutschen und

Brandenburger Politik üben, weil sie europäisch mitgestalten wollen.

Nehmen wir zum Beispiel die Dienstleistungsrichtlinie, mit deren Umsetzung wir uns auch hier im Landtag beschäftigen. Jetzt, im Europawahlkampf, hören wir auf einmal, die SPD strebe „eine soziale Ordnung für Europa mit fairen Regeln für die Märkte und fortschrittlichen sozialen Rechten für die Menschen“ an. Auch das ist ein Zitat aus Ihren Positionen. Es muss erlaubt sein zu fragen: Hatten Sie von der SPD dieses Ziel auch schon, als neben den deutschen CDU-Abgeordneten auch die Leute aus Ihrer Fraktion für die Dienstleistungsrichtlinie die Hand hoben? Bleiben Sie also nicht auf halbem Wege stehen! Erklären Sie den Brandenburgerinnen und Brandenburgern also nicht nur, warum Sie nach wie vor, bis heute, Hartz IV gut finden und dessen verheerendste Wirkungen zulasten der Allgemeinheit, zum Beispiel durch die Kombilöhne, kaschieren wollen! Erläutern Sie ihnen auch gleich noch, was es für Brandenburger bedeutet, wenn ausländische Dienstleister künftig in Bezug auf Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz nur an die Gesetze ihres jeweiligen Heimatlandes gebunden sind. Sozialdumping ist keine linke Erfindung, meine Damen und Herren, sondern auch eine Position aus Ihren Reihen, und die ist nachzulesen.

Zu der von einem sozialen Europa weit entfernten europäischen Wirklichkeit gehört, dass der Europäische Gerichtshof regelmäßig Grundfreiheiten über Grundrechte stellt. Nach dem Luxemburg-Urteil des EuGH vom 19. Juni 2008 können ausländische Firmen durch die Mitgliedsstaaten lediglich zur Zahlung von Mindestlöhnen verpflichtet werden. Dieses Urteil allerdings kehrt den Sinn von Mindestlöhnen um, ja, es pervertiert den Sinn von Mindestlöhnen, und das ganz rechtmäßig.

(Dr. Klocksin [SPD]: Das hat die SPD gemacht?)

- Wir beschäftigen uns in der Aktuellen Stunde mit aktuellen Fragen, Herr Kollege. Diese Frage gehört dazu. Es ging um den Europäischen Gerichtshof. Hätten Sie mir zugehört, hätten Sie mich verstanden.

(Dr. Klocksin [SPD]: Die Kausalität!)

Deshalb denke ich, dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofes pervertiert den Sinn von Mindestlöhnen, und das ganz rechtmäßig. Es beruht also auf der Rechtsordnung der EU.

(Dr. Klocksin [SPD]: Würden Sie zum Thema reden, wäre es leichter!)

Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament haben - damit sind wir bei Ihrer Verantwortung - dagegen nicht aufbegehrt.

Als am 22. Oktober in Straßburg vorgeschlagen wurde, in die Europäischen Verträge erneut den Vorrang sozialer Grundrechte vor der wirtschaftlichen Freiheit des Binnenmarktes hineinzuschreiben, votierten CDU- und SPD-Abgeordnete dagegen. Ich gebe zu, da konnte Herr Glante aus Ihrer Fraktion auch noch nicht wissen, dass diese Forderung, nämlich die soziale Grundrechtscharta hineinzuschreiben, eine der zentralen Forderungen in Ihrem Europawahlkampf werden würde - gemeinsam mit dem DGB, was ich begrüße.

So viel zum Thema Populismus, und ich meine hier zur Abwechslung mal den sozialdemokratischen Populismus. Herr Ministerpräsident, ich will Sie einfach nur entlasten, denn an dieser Stelle müssen Sie sich wirklich weniger mit der Linken beschäftigen.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es um die Arbeit der an der europäischen Gesetzgebung beteiligten EU-Organe seit 2004 geht, dann steht fest: Vor allem war es das Europäische Parlament, das sich für die Interessen und Rechte der Bürgerinnen und Bürger interessiert und stark gemacht hat. Die Kommission und der Rat der Europäischen Union zerrten immer wieder in die entgegengesetzte Richtung. Weil es klare Positionierungen des Parlaments gab, kamen auch wichtige positive Entscheidungen zustande, zum Beispiel die Aufforderung an die Mitgliedsstaaten, wirksame Schritte zur Bekämpfung der Kinderarmut auch und gerade mittels eines Mindestlohnes einzuleiten. Da haben wir die Aufgabe selbst wieder auf dem Tisch.

Es gab die Entscheidung zur Gleichstellung von Leiharbeitern und regulär Beschäftigten - auch nach wie vor ein Defizit in Deutschland. Positiv zu nennen ist auch die Ablehnung der Pläne der Kommission zur Erweiterung der wöchentlichen Arbeitszeit, übrigens gegen das Votum des Bundesarbeitsministers Scholz.

Es gab strengere Sicherheitsauflagen für Kinderspielzeug, einen höheren Verbraucherschutz durch die Annahme der Chemikalienrichtlinie, strengere Sicherheitsauflagen im Eisenbahn- sowie im Flugverkehr, und es gab die für uns auch wichtige Forderung, den Anteil erneuerbarer Energien in der EU bis 2020 auf 20 % zu erhöhen.

Trotz dieser positiven Entscheidungen bleibt leider festzuhalten: Die Europäische Union selbst und alle an der EU-Gesetzgebung beteiligten Organe haben die heutige Wirtschafts- und Finanzkrise mit ihren spürbaren negativen Auswirkungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitzuverantworten. Ja, jetzt hat die EU durchaus Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise eingeleitet.

Jetzt, meine Damen und Herren, ist das sprichwörtliche Kind schon in den Brunnen gefallen. Deshalb sei auch die unerfreuliche Bilanz genannt. Zu der grundlegend neoliberalen Ausrichtung der EU gehören das blinde Vertrauen in Vorzüge des Wettbewerbs, die deutliche Vernachlässigung des Sozialen innerhalb der sozialen Marktwirtschaft, die fast grenzenlose Ausweitung der Dienstleistungsfreiheit, ein strikt verfolgter Kurs der Entstaatlichung, Privatisierung und Deregulierung und eben auch die Beseitigung von Schutzrechten, teilweise unter dem Vorwand des Bürokratieabbaus. Der Versuch, über eine Neuregelung einer europäischen Privatgesellschaft betriebliche Mitbestimmungsrechte auszuhebeln, gehört ebenfalls zu der von uns kritisierten Bilanz wie die halbherzigen oder mit großer Verzögerung eingeleiteten Maßnahmen zur Bekämpfung der nahenden Klimakatastrophe.

Dies alles, meine Damen und Herren, haben die bisherigen politischen Mehrheiten in der EU und auch im Europäischen Parlament mit auf den Weg gebracht bzw. auf den Weg zu brin

gen versucht. Seit Maastricht 1992 trug die vorherrschende Politik maßgeblich dazu bei, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zu befördern und die Demokratie den Finanzmärkten auszuliefern. Die in der EU Regierenden haben ja nicht nur bewusst darauf verzichtet, die politischen Instrumente zu schaffen, um auf globale Krisen der Wirtschaft, der Energieund der Lebensmittelversorgung sowie auf Klimaveränderungen angemessen zu reagieren. Nein, die Linke ausgenommen, waren und blieben alle demokratischen Parteien in diesem Land auf der neoliberalen Linie der Markthörigkeit und Deregulierung, bis das finanzpolitische und wirtschaftliche Gefüge ins Wanken geriet. Alle Ihre Abgeordneten in Straßburg - ich sage das mit Bedauern -, ob SPD oder CDU, ließen es bei Appellen an die Wirtschaft und überließen der Kommission die Prüfung und Entscheidung, den Steueroasen und Finanzprodukten, den privaten Beteiligungsgesellschaften und Ratingagenturen politische Schranken zu setzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aber der Finanzmarkt reguliert sich nicht von allein, nicht freiwillig - wie überraschend!

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Sie selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und von der SPD, haben also die Finanzhaie kräftig mitgefüttert. Inzwischen, als Konsequenz, rufen DGB und SPD dazu auf, doch eine soziale Fortschrittsklausel ins EU-Recht einzubauen. Das ist ein durchaus konsequentes Versprechen für den Wahlkampf. Ich hoffe, es werden auch konsequente Taten folgen.

Die Handlungen der Regierenden sind nicht ganz so konsequent. Trotz drohender Massenarbeitslosigkeit und schrumpfender Wirtschaft wurde am vergangenen Donnerstag die als Beschäftigungsgipfel geplante Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zu einer Veranstaltung von drei Regierungschefs und vielen Beamten deklassiert. Was soll das nun den Wählerinnen und Wählern im Land über den Stellenwert des Sozialen in der Europäischen Union sagen und was über den angeblich erreichten Stand des Umdenkens bei denen, die jetzt das Heft des Handelns in der Hand haben, inklusive der deutschen Regierung? In Prag war keine Bewegung hin zu den berechtigten Forderungen der europäischen und deutschen Gewerkschaftsbewegung zu bemerken.

Für die Linke sage ich hier: Diese Forderungen liegen weiter unübersehbar auf dem Tisch - und wir müssen uns damit befassen -, die Forderungen nach einem erweiterten Konjunkturprogramm, nach einer strengeren Regulierung der Finanzmärkte und einer gerechten Verteilung des Reichtums, nach höheren Löhnen und sicheren Renten sowie nach dem Vorrang der sozialen Grundrechte in Europa.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Die Wählerinnen und Wähler sollen doch den Erklärungen der SPD glauben, dass die Verhinderung von Lohndumping und die Stärkung von Arbeitnehmer- und Mitbestimmungsrechten zu den Kernpunkten eines sozialen Europas gehören. Dafür ist Ihre deutsche Delegation bislang aber viel zu still geblieben. Nicht verstummt sind nach wie vor auch Forderungen nach Flexicurity, Lohnzurückhaltung und mehr Mobilität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die haben jedoch in dieser Hinsicht in den letzten Jahren genug Einschnitte hinnehmen müssen.

All dies geschieht in einer Situation, in der diese Krise auf die Beschäftigungssituation in der EU durchschlägt. 20 Millionen EU-Bürger sind arbeitslos; das sind 4 Millionen mehr als vor einem Jahr. Deshalb sagen wir als Linke erneut: Nach dem Schutzschirm für Banken, meine Damen und Herren, braucht es einen Schutzschirm für die Menschen. Wir brauchen einen Sozialpakt für Europa.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Die Wählerinnen und Wähler in Brandenburg werden genau hinsehen, und ich kann sie nur ermutigen: Prüfen Sie die Parteien und Kandidaten hinsichtlich dieser Forderungen. Nur wenn wir die Interessen der Brandenburgerinnen und Brandenburger in der europäischen Politik auch vertreten, werden diese Interesse an der Wahl haben. Es besteht die Chance, am 7. Juni nicht nur die Stimme abzugeben, sondern auch die Stimme zu erheben - für ein soziales Europa.