Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir über Armut in Deutschland und damit auch hier in Brandenburg sprechen, müssen wir diesen Begriff erst einmal definieren. Welche Armut meinen wir? - Armut kann absolut oder relativ sein. Es gibt die verdeckte und die freiwillig gewählte Armut. Wir können Armut nur vom finanziellen Gesichtspunkt aus betrachten. Es gibt aber auch die soziale und die geistige Armut.
Fest steht, dass eine Armut nicht zwangsläufig die andere bedingt. Die WHO definiert Armut wie folgt:
„Arm ist derjenige, der monatlich weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens seines Landes zur Verfügung hat.“
ist derjenige arm, dem weniger als 60 % des mittleren Einkommens zur Verfügung stehen. Damit lag im Jahr 2003 die Armutsgrenze bei monatlich 938 Euro. In Österreich lag diese Grenze bei 785 Euro. Im Vergleich mit vielen anderen Ländern kann man das Unterschreiten von 938 Euro monatlich nicht arm nennen. Wenn wir auf die Bundesrepublik blicken, dann stellt sich heraus: Viele Rentner erreichen diesen Betrag nicht. Spricht man mit ihnen, stellt man fest, dass sie sich dennoch nicht arm fühlen.
In der „Lausitzer Rundschau“ vom 02.11.2006 war ein Artikel mit der Überschrift „Man muss einen Platz im Leben haben“ zu lesen. In dem Artikel wurde eine Familie - Eltern mit ihren sechs Kindern - beschrieben, die alle ihren Platz im Leben gefunden haben. Obwohl sie wenig Geld hatten, haben alle Kinder das Abitur, eine Berufsausbildung oder ein Studium absolviert. Trotz der knappen Kasse hat die Familie ein Zusammengehörigkeitsgefühl und soziale Kontakte. Ich frage Sie: Ist diese Familie arm? - Es gibt - materiell gesehen - arme Eltern, für die Reichtum ihre wohlgeratenen Kinder sind. Es gibt aber auch Kinder, die alles haben und deren Wünsche ausnahmslos erfüllt werden. Jedoch vermissen diese die Häuslichkeit und die liebevolle Zuwendung. Ich frage Sie: Sind diese Familien reich?
Ich besuchte eine große Behinderteneinrichtung im Land. Auf die Frage, wie der Kontakt zu den Elternhäusern ist, wurde mir geantwortet, dass einige Kinder nur zweimal im Jahr Besuch von ihren Eltern bekommen. In einem Seniorenheim erfuhr ich, dass etwa 10 % der Heimbewohner keinen Besuch von ihren Angehörigen erhalten. Ja, es greift in der Tat eine besorgniserregende Armut um uns; Armut an Verantwortungsbewusstsein, Armut an menschlicher Wärme, Armut am Füreinander-Da-Sein und Füreinandereinstehen.
Im Begründungstext zur Aktuellen Stunde nehmen Sie Bezug auf den vorsorgenden Sozialstaat und knüpfen insbesondere im Kinder-, Jugend- und Bildungsbereich Erwartungen an ihn. Die Frage, die uns beschäftigen muss, ist: Wann und wo soll der Sozialstaat eingreifen? - Eltern haben ab dem 3. Lebensjahr ihres Kindes einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Trotz dieser Möglichkeit stehen die Eltern in der Pflicht, für ihre Kinder zu sorgen. Die Eltern können die Erziehung nicht einfach delegieren. Nach wie vor sind in erster Linie die Eltern für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich.
Der Staat kann das nicht leisten, und es ist auch nicht seine Aufgabe. Mit dem 510-Stellen-Programm, der Förderung der Jugendklubs, der Mütterunterstützung und der Sportförderung - um nur einige Beispiele zu nennen - unterstützt das Land unsere Jugendlichen in vielfältiger Weise.
Wertevermittlung und Grenzsetzung obliegen jedoch in erster Linie den Eltern. Wer im Elternhaus vorgelebt bekommt, dass man nimmt, ohne zu geben, oder dass nur Geld zählt, wird später selbst kaum andere Prioritäten setzen.
Wir novellieren derzeit das Schulgesetz, weil wir uns bessere Leistungen und eine größere Differenzierung wünschen. Doch
auch hier sind es die Eltern, die ihre Kinder zu Leistungen animieren müssen. Sie müssen ihren Kindern im Streben nach Leistung und beim Engagement Vorbild sein. Mit diesen Beispielen will ich zeigen, dass niemand arm ist, der diese Möglichkeiten hat und nutzt.
Was meinen wir mit dem vorsorgenden Sozialstaat? - In Brandenburg gibt es eine hervorragende Kitabetreuung. Immerhin besuchen etwa 95 % der Brandenburger Kinder die Kita. Es gibt eine sehr gute Gesundheitsvorsorge und ein umfassendes Qualifizierungsangebot. Unterliegen wir nicht immer stärker dem Fehler, zu glauben, dass der Staat für die Lösung all unserer Probleme aufkommen müsse? - Wir haben die Freiheit gewollt. Die Freiheit aber hat eine Schwester; die heißt Verantwortung. Diese muss in erster Linie jeder für sich selbst tragen.
Jeder hat die Freiheit, seinen Lebensweg zu gestalten. Mangelnden Willen kann man auch nicht mit Geld kompensieren. Deshalb kann ich nur zu folgendem Schluss kommen: Wir sind reich an Menschen, die Verantwortung für sich und andere übernehmen. Wir sind reich an Angeboten, die es ermöglichen, Menschen, die in Notlagen sind, Hilfen anzubieten. Wir sind reich an Angeboten, die Kindern die Chance auf einen guten Bildungsabschluss und damit auf bessere Berufschancen ermöglichen. Allein für zusätzliche Ausbildungsprogramme geben wir jährlich etwa 50 Millionen Euro aus.
Vor kurzem erschien im „Stern“ ein interessanter Artikel mit der Überschrift „Im Käfig der Bequemlichkeit“. Der Leiter des Benediktinerordens, der selbst Deutscher ist, äußert sich darin. Er sagt:
„Erstens: Entlassen wir den Staat endlich aus der Verantwortung für unser Lebensglück. Die gehört in unsere eigenen Hände. Es reicht, wenn der Staat dort einspringt, wo wirklich Not ist.
Zweitens: Machen wir Schluss mit den zentralistischen Bestrebungen, allen per Gesetz zum Glück zu verhelfen. Die Pleite mit den Hartz-Gesetzen spricht Bände.
Drittens: Regierende müssen die moralische Kompetenz zeigen, die Grundzüge der humanen Gesellschaft zu wahren, die durch neue Technik und wirtschaftliches Kalkül bedroht ist. Hier geht es um Ewigkeitswerte.“
Warum habe ich das vorgelesen? - Ich hoffe sehr, dass auch diejenigen, die nicht christlich geprägt sind, keinem Benediktiner unterstellen, dass er kein Herz für Bedürftige hat. Unser Anspruchsdenken führt allzu oft dazu, dass viele glauben, die anderen müssen für sie sorgen. Aber gerade die Besinnung auf die eigenen Kräfte kann Werte freisetzen, die man selbst schon verloren glaubte. Wir alle müssen reicher werden in unserem Glauben an die Kraft eines jeden. Wir brauchen weniger staatliche Gängelung und mehr Vertrauen in unsere Menschen. Wir
Ich weiß, dass Appelle an die PDS eigentlich wenig nützen. Aber ich bitte Sie: Hören Sie auf, unser Land permanent schlechtzureden und den Menschen das Selbstbewusstsein zu nehmen! Sie entmutigen sie damit.
„Mehr Freiheit wagen, ja, das sollten wir wirklich, mehr Freiheit für ein selbstbestimmtes und selbst verantwortetes Leben, mehr Freiheit, um ein bewusstes Leben zu führen, auf Werten gegründet.“
Diese Werte, meine sehr geehrten Damen und Herren, gibt es für kein Geld der Welt. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir setzen die Debatte mit dem Beitrag der Landesregierung fort. Es spricht Ministerpräsident Platzeck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor ein paar Tagen war ich zusammen mit Dagmar Ziegler, unserer Sozialministerin, in Lauchhammer. Wir haben dort das Netzwerk „Gesunde Kinder“ besucht, und wir haben gesehen, was dieses Netzwerk „Gesunde Kinder“ an herausragender Pionierarbeit leistet. Das ist von direkter Bedeutung für das Thema, über das wir heute sprechen.
Ich bin übrigens auch - da schließe ich mich Herrn Baaske an sehr dankbar dafür, dass wir dieses Thema heute auf der Tagesordnung haben.
Wir sprechen über Armut in unserem Lande. Aber wenn wir über Armut sprechen, genügt es nicht, diesen Zustand zu beklagen; vielmehr muss man sich auch darüber klar werden, welche Bedingungen heute entscheidend für Armut verantwortlich sind. Man muss sich darüber klar werden, dass Armut nicht nur Armut an Geld bedeutet, wenngleich natürlich zuvorderst, sondern für viele Menschen auch Armut an Lebenschancen, an Perspektiven, schlicht an der Gelegenheit, aus dem eigenen Leben etwas Sinnvolles machen zu können. Wenn man das verstanden hat, dann muss man politisch ansetzen und - ich bleibe dabei - zwar möglichst, bevor diese Probleme entstehen, schlicht gesagt: bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.
Das Netzwerk „Gesunde Kinder“ ist dafür ein herausragendes Beispiel. Es führt nämlich Behörden, Ämter, Ärzte, Hebammen, Kitas, vor allen Dingen aber Bürgerinnen und Bürger mit dem guten Ziel zusammen, Eltern und ihre Kinder so frühzeitig wie irgend möglich, also bereits in der Schwangerschaft begin
nend, zu betreuen und zu beraten. Damit sollen Entwicklungsdefizite von vornherein vermieden oder, wo das nicht möglich ist, wenigstens so frühzeitig wie irgend möglich erkannt werden. Hilfe setzt also nicht erst ein, wenn es schon Defizite gibt.
Ich sage auch sehr deutlich: Es handelt sich um ein Angebot an alle Familien, die Kinder bekommen, nicht nur an Risikogruppen. Das wäre zu kurz gesprungen.
Besonders innovativ ist die Einbindung ehrenamtlicher Paten - das ist auch etwas, was sehr zukunftsfähig ist -, die sich freiwillig melden und dafür dann intensiv geschult werden. Diese Paten begleiten die Familien und stehen ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Bemerkenswert ist - ich gebe zu, das habe ich so nicht erwartet -, dass sich wesentlich mehr Paten gemeldet haben, als Bedarf besteht. Das ist ein gutes Zeichen für die Grundbereitschaft in unserer Gesellschaft. Es mangelt also in unserem Lande vielen Menschen nicht an der Bereitschaft, sich sozial und ehrenamtlich zu engagieren, wenn dafür sinnvolle Bedingungen bestehen.
Das Niederlausitzer Netzwerk arbeitet inzwischen so gut, dass es die Nachfrage kaum noch bewältigen kann. Dieses Brandenburger Modell bringt die unterschiedlichsten Akteure zusammen und setzt vor allem so früh wie möglich an.
Durch den Einsatz der Paten, meine Damen und Herren - das ist bei dem gesellschaftlichen Sachstand, den wir hier besprechen, etwas essenziell Wichtiges -, entsteht eine Kultur des genauen Hinschauens und der gemeinsamen Verantwortung. Genau diese Kultur, dieses Engagement brauchen wir, wenn wir mehr Lebenschancen und am Ende weniger Armut in unserem Lande haben wollen. Dieses Brandenburger Modell der Familienberatung und -betreuung, das auch in Nauen und Eberswalde ausprobiert wird, wird vom Land - Frau Kaiser, weil Sie sagen, man muss nicht nur reden, sondern auch etwas tun - mittlerweile mit fast 1 Million Euro unterstützt.
In diesen Netzwerken wird hervorragende Arbeit geleistet. Diese Netzwerke stehen dafür, wie wir in Brandenburg unsere Politik anlegen. Es geht darum, Menschen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zusammenzuführen. Es geht darum, Verantwortung füreinander zu übernehmen und Kindern so früh wie möglich Lebenschancen zu eröffnen. Schließlich wollen wir erreichen, dass im Angesicht des wirtschaftlichen und demografischen Wandels Menschen aktiviert werden, damit sie Chancen haben, aus eigener Kraft auch später erfolgreich zu sein. Von diesem Weg, den wir als richtig erkannt haben, werden wir uns nicht abbringen lassen, meine Damen und Herren.
Günter Baaske hat bereits den Ursprung des Konzepts „Vorsorgender Sozialstaat“ erläutert. Es handelt sich hierbei um grundlegende und langfristige Überlegungen für die Zukunft unseres Sozialstaates und unserer Gesellschaft. Aber, Frau Kaiser, es handelt sich eben nicht um praxisfernen Überbau ohne praktische Folgen. Eher ist es umgekehrt: Wir haben die soziale und die gesellschaftliche Wirklichkeit unseres Landes so, wie sie ist, wie sie sich entwickelt hat, wie wir sie vorfinden und wie wir sie auch immer besser begreifen, hergenommen. Wir haben aus diesen Entwicklungen, die nicht nur brandenburgtypisch, sondern typisch für Deutschland, man kann sagen, die mitteleuropaweit ähnlich verlaufen, einen Schluss gezogen.
Wir haben daraus gelernt; das räume ich hier ganz klar ein. Ich glaube, eine politische Führung, auch eine Partei, die nicht lernt, ist in Bezug auf ihren Stellenwert im gesellschaftlichen Gefüge sehr deutlich zu hinterfragen. Ja, wir haben gelernt, dass der Vorsorge Stück für Stück ein immer höherer Rang eingeräumt werden muss. Denn eines - Frau Kaiser, ich komme nachher noch einmal darauf zurück - ist doch klar: Wenn der Befund so ist, wie er derzeit ist, muss man den Mut haben zu sagen, dass die vorhandenen Mechanismen schlicht nicht ausreichen.
Gegenwärtig wird der Haushalt von Franz Müntefering im Bundestag diskutiert. Der Sozialhaushalt ist der größte Einzelhaushalt der Bundesregierung, und es ist einer der größten europäischen Haushalte überhaupt. Es ist nicht so, dass zu wenig Geld hineingesteckt wird, aber es wird nicht effektiv genug hineingesteckt; Armut wird nicht effektiv genug verhindert.