Protocol of the Session on September 21, 2000

Dass dieser damalige nationale Impuls für fortwährendes Unbehagen gesorgt hat, hat etwas mit den Schwierigkeiten der Deutschen zu tun, sich zu ihrer Geschichte mit ihren guten und schlimmen Teilen zu bekennen und sie anzunehmen. Selbst die Inschrift am Reichstag.,Dem deutschen Volke - scheint einigen suspekt.

Dabei waren und sind es nicht nur Ostdeutsche, die Schwierigkeiten mit dem Begriff der Nation haben. Ich erinnere mich an Äußerungen von westdeutschen Intellektuellen. die die Teilung Deutschlands als wohlverdiente ewige Strafe für die Schuld ani Weltkrieg ansahen und alle anderen zwingen wollten. dies ebenso zu tun, wobei sie natürlich nicht auf die Idee kamen, diese Strafe in der DDR abzusitzen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU)

Auch die PDS muss sich fragen lassen, inwieweit sie inzwischen ein positives Grundverhältnis zur deutschen Einheit gefunden hat. Wenn man beispielsweise den Tenor der Großen Anfrage zum Thema wahrnimmt. erheben sich da Zweifel. Natürlich ist es zulässig. nach der Entwicklung der Zahl der Obdachlosen in Brandenburg zu fragen oder dem durchschnittlichen Nutzungsentgelt für Erholun gsgnindstücke. Sicher, man

kann bei allzu großen Höhenflügen den Blick fürs Detail verlieren. das heißt aber noch lange nicht, dass die Froschperspektive die einzig angemessene ist.

(Beifall bei der CDU)

Wie es um das positive Grundverhältnis zur deutschen Einheit steht, ist eine Frage, die in mehrere Richtungen geht und sich letztlich an alle Deutschen richtet. Es gilt Mentalitäten zu verändern. das Gemeinsame zu suchen und nüchtern zu prüfen. was im Interesse der deutschen Einheit heute geboten ist, und gemeinsam herauszufinden. was für die Zukunft tragfähig ist.

Hier im Osten wird gern die Leistungsgesellschaft unter Generalverdacht für alle Übel gestellt. Vergessen wird dabei: Nur eine Leistungsgesellschaft schafft Wohlstand und macht den Sozialstaat erst möglich. Die Ergebnisse des entgegengesetzten Experiments liegen noch nicht so lan ge zurück.

Weil wir diese Leistungsgesellschaft wollen, gilt es zum anderen aber auch, Ungleichheiten auszugleichen. Die Erkenntnis. dass Freiheit unter dem Diktat der Gleichheit nicht bestehen kann, ist noch nicht verinnerlicht worden.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren. Wohlstand kann nur bestehen in einer über Generationen reichenden. Gemeinschaft stiftenden Verantwortung, in der auch bestimmte Lebensrisiken abgesichert sind. Wohlstand ist nämlich nicht das Stück Beute. welches sich der Einzelne vor anderen sichert und an dessen Größe sich dann sein sozialer Status bestimmt. sondern auch verwirklichte Gerechtigkeit. Dass diese Gerechtigkeit voraussetzt, dass alle. die es wollen und über die Voraussetzung verfügen. am Erwerbsleben teilnehmen können, zeigt. dass wir noch ein ganzes Stück von dieser Gerechtigkeit entfernt sind.

( Beifall bei der PDS)

Vor wenigen Monaten haben wir hier im Landtag ausführlich über eine Frage debattiert, die entscheidend mit der Anerkennung der Lebensleistung der Ostdeutschen und ihrer Stellung im vereinigten Deutschland zu tun hat. der Lohnangleichung Ost/West. Die Angleichung der Lebensverhältnisse wie auch der Löhne und Gehälter bleibt eine gesamtdeutsche Aufgabe auch der nächsten zehn Jahre. Sie wird nur zu lösen sein, wenn wir auch in Zukunft berücksichti gen, dass Teilung sich nur durch Teilen überwinden lässt - eine Mahnung des letzten Ministerpräsidenten der DDR. de Maiziere. die auch nach zehn Jahren nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat.

Dabei sollten wir nicht ver gessen, dass das, was wir bisher erreicht haben, ohne die Solidarität der alten Länder nicht möglich gewesen wäre. Auch in den nächsten Jahren werden wir noch auf diese Solidarität angewiesen sein.

(Vietze [PDS]: Richtig!)

Die neuen Bundesländer haben fünf Wirtschaftsinstitute mit der Untersuchung der Wirtschaftsdaten der neuen im Vergleich mit den alten Bundesländern beauftragt und diese haben einen erheblichen teilungsbedingten Rückstand vorwiegend in den Bereichen der Infrastruktur und der Wirtschaftsförderung festgestellt. Auch die neuesten Steuerschätzungen zeigen, dass die strukturelle Steuerschwäche der neuen Länder in den nächsten Jahren kaum abgebaut wird und dass auch für das Jahr 2005 von einer kommunalen Steuerkraft in den neuen Ländern ausgegangen wird. die noch unter 50 % des Westniveaus liegen wird.

nisterpräsidenten der ostdeutschen Länder vorn 30. Mai 2000 hat bereits zusammenfassend festgestellt, dass der Aufbau Ost eine zentrale gesamtdeutsche Aufgabenstellung ist. dass sich der wirtschaftliche und infrastrukturelle Aufholprozess der ostdeutschen Länder langsamer als ursprünglich erhofft entwickelt hat, dass eine verlässliche Fortsetzung des Aufbaus Ost als gesamtstaatliche Aufgabe im Zusammenhang mit der Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs sicherzustellen ist.

Meine Damen und Herren, wir Brandenburger müssen uns selbstbewusst der Aufgabe stellen. unsere eigene Identität zu entwickeln. Es ist sinnvoll. die enormen Entwicklungsvorteile im Vergleich mit allen osteuropäischen Staaten zu verdeutlichen. anstatt nur auf Angleichung mit dem Westen zu drängen. Daraus ist nicht zu schließen. dass die neuen Länder ihre Interessen auf dem Altar einer so genannten minschaftsliberalen Vernunft opfern sollten.

Mit einem Zitat aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung- will ich verdeutlichen, was gemeint ist.

„Nein. der Osten braucht keine weiteren Milliarden Mark und keinen Solidarpakt 11. dem zwangsläufig HI und IV folgen müssten. Denn wenn man nur will. wird der Osten zum Fass ohne Boden. Dem Osten tut gut, was allgemein dem Aufschwung in Deutschland hilft: weniger Abgaben. weniger Bürokratie. kürzere Genehmigungsverfahren. mehr Wettbewerb. ein sparsamkeitsfördernder Finanzausgleich zwischen den Ländern. der Einsatz moderner Technologien. die Bereitschaft des Einzelnen, auf dem Arbeitsmarkt flexibel zu sein und vor allem in seine Ausbildung zu investieren. Und wenn der Osten dann immer noch ein wenig anders ist als der Westen. was spricht dagegen?..

Solche Kommentare sind inzwischen wieder möglich und man fragt sich, oh das nun verbohrt. zynisch oder blauäugig ist. Ohne eine angemessene Neuregelung des Länderfinanzausgleichs und des Solidarpakts brauchen wir über Fragen der Lohnangleichung nicht zu reden. Aber, wie hieß es eben?

„Und wenn der Osten dann immer noch ein weni g anders ist als der Westen. was spricht dagegen?"

Dem kann ich nur entgegenhalten, was der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog am Tage seiner Vereidigung gesagt hat:

-Die Westdeutschen aber frage ich noch einmal, ob sie sich wirklich darüber klar sind, wie privilegiert sie vierzig Jahre lang waren. Und ich frage weiter. wie willkommen ihnen die Menschen in den neuen Ländern nun eigentlich sind. Können sie ins Haupthaus ziehen oder sollen sie in einem Anbau Ost wohnen bleiben? Wird akzeptiert. dass sie nach ihren eigenen Erfahrungen und Überzeugungen leben und mitbestimmen können, oder dürfen sie vielleicht nur mitspielen, wenn sie sich an die Spielregeln des Westens halten?"

Natürlich geht es bei der Vollendung der deutschen Einheit nicht nur uni Geld. Vollendung von Einheit und Freiheit ist etwas anderes als die simple Angleichung des Ostens an den Westen. Sie hat mit Aufeinanderzugehen zu tun, mindestens aber mit dem Respekt voreinander. Es geht uni Austausch von Erfahrungen, uni die Chancen der Globalisierung gemeinsam zu nutzen und ihre Risiken zu minimieren. Es geht darum, dass auch die Ostdeutschen in Europa ankommen. Voraussetzung dafür ist. dass sie in Deutschland ankommen. Ohne nationale und regionale Identität. die für alle anderen Mitgliedsstaaten eine Selbstverständlichkeit ist, kann der europäische Gedanke nicht die Herzen erobern,

Die gemeinsame Erklärung des Bundeskanzlers und der M - (Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD)

1266 I.andtag Eirandenburg -1 Wahlperiode - Plenarprotokoll 321 - 2 I_ September 2000

sondern wird eher als Bedrohung empfunden. Das Jubiläum..300 Jahre Preußen" im nächsten Jahr wird uns vor die Frage stellen, wie wir zu diesem Teil unserer Geschichte stehen. Die Erinnerung an die preußischen Tugenden halte ich beispielsweise für einen sinnvollen Beitrag zur Förderung der Identität Brandenburgs.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD)

Das. was an Verbindungsstiftendem heute vor allein wahrzunehmen ist. wird aus der Geschichte gewonnen. Ich meine damit beispielsweise private Spenden aus Ost und West zum Aufbau von Stadtschloss und Ciamisonkirche in Potsdam oder der Frauenkirche in Dresden.

(Frau Tack [PDS]: Das ist nicht gleichzusetzen!)

Geschichte kann durch ihr Gewicht eine Last. aber auch eine Ermutigung bedeuten. ]mater erwächst uns aus ihr eine Verantwortung. Bei allen Interessensauseinandersetzungen und alt dem Tagesstreit bleibt eines wahr: Wo man auch das Werden des deutschen Volkes ansetzt. die Zeit der Trennung wird immerkürzer sein als die Zeit der Gemeinsamkeit.

(Beifall bei CDU und SPD)

Ich danke Ihnen. Frau Abgeordnete Blechinger. - Das Wort geht an die Fraktion der PDS. Herrn Ab g eordneten Prof. Dr. Bisky.

Prof. Dr. Bis4 (PDS):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Einheit hatte. so sagt der Historiker Manfred Kossok. die richtigen Verlierer, aher sie hatte auch die falschen Gewinner.

(Beifall bei der PDS)

Wie immer man zur Einheit steht - Frau Biedünger, Sie müssen sich keine Sorgen machen. die Froschperspektive ist die von unten. die behalte ich gerne bei -.

(Beifall hei der PDS)

es gibt zur Einheit keine Alternative. Gestritten werden muss aber über die Wege, und da muss, glaube ich, weiter gestritten werden.

(Beifall hei der PDS)

Ich unterstreiche ausdrücklich das, was Ministerpräsident Stolpe und mit ihm andere Politiker in den vergangenen Wochen an anerkennenden Worten für die Aufbauleistungen der Menschen in den neuen Bundesländern und insbesondere in Brandenburg gefunden haben. Die Menschen hier hatten Umbrüche zu bewältigen, wie sie anderenorts in Deutschland nur wenige zu verkraften hatten. Ein Ende ist diesbezüglich nicht in Sicht.

Vielleicht sollte anlässlich solcher Stunden, über die wir reden, auch der Menschen gedacht werden, die hier im Landtag Brandenburg Gutes in die Landespolitik eingebracht haben. Ich denke an Regine Hildebrandt. an Otto Bräutigam und an Frau Simon.

(Beifall bei der PDS und vereinzelt bei der SPD)

Meine Damen und Herren! Wer heute die Milliarden-Investitionen der letzten zehn Jahre feiert, wird nicht umhinkönnen. die

Ergebnisse dieser einmali gen Kraftanstrengungen zu betrachten.

(Zuruf von der CDU)

Wir konstatieren Ergebnisse, die sich in einer modernisierten Infrastruktur. vor allem der Verkehrs- und Kommunikationsnetze. in sanierten Wohnungen und Städten. in einer deutlichen Verbesserung der Umweltsituation in ehemals hoch belasteten Regionen, in einem wesentlich breiteren Spektrum an Kulturund Freizeitangeboten und in stabiler Versorgung mit Waren aller Art. an Reisemöglichkeiten. überhaupt an demokratischen Freiheitsrechten, wie sie die DDR nicht kannte. zeigen. Ich möchte das zu diesem Anlass ausdrücklich sagen.

Wenn wir all das und vieles mehr anerkennen und damit mit dem Blick auf die letzten Jahre der Deutschen Demokratischen Republik deutlich auf die Defizite dieses Staates hinweisen. dann'. erstellt uns dies jedoch auch nicht den Blick auf Defizite des Landes. in dein wir heute leben. Kritiklos sollten wir nie wieder vorgehen.

(Beifall bei der PDS)

Ich sage ausdrücklich - weil ich auch nichts von der rückwärts gewandten Rede halte in der DDR hätte es zwar eine desolate Infrastruktur gegeben, dafür hatte aber jeder Arbeit: das bringt nichts -: Jede Einseitigkeit bringt uns nicht weiter. Die Bundesrepublik wird dadurch nicht vorangebracht. Brandenburg auch nicht. Deshalb stellen wir auch heute fest. dass nach wie vor viele Menschen in diesem Land ohne Arbeit sind - über 200 000 immer noch -. dass die Abwanderung in die westlichen Bundesländer anhält - trotz hoher Arbeitslosigkeit fehlen zunehmend junge qualifizierte Menschen im Osten -. dass die ostdeutsche Wirtschaft zur Außenstellenökonomie ohne eigene Reproduktionsfähigkeit geworden ist - die industrielle Basis. die Exportund die Innovationskraft sind schwach -. dass die verfestigte Arbeitslosigkeit und die niedrigere Entlohnung die Nachfrage und so die Erschließung innerer Entwicklungspotenziale immer noch begrenzen. Im Jahre 2000 wird das reale Bruttoinlandsprodukt in den neuen Ländern zum vierten Male langsamer wachsen als im Westen. 1999 sank es sogar um fast ein Prozent.