Karl Freller

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Verehrte Überlebende, Frau Landtagspräsidentin, Herr Ministerpräsident, Frau Präsidentin Dr. Knobloch, Herr Präsident Dr. Schuster, Herr Dietz de Loos, Herr Landesvorsitzender Schneeberger, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrte Gäste! Übermorgen, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, erinnern wir in der KZ-Gedenkstätte Dachau an alle Opfer der beispiellosen NS-Terrorherrschaft, Juden, Sinti und Roma, Christen, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, politisch Andersdenkende sowie Männer und Frauen des Widerstandes, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Kriegsgefangene und Deserteure, Greise und Kinder an der Front, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und an jeden, der dem NS-Regime willkürlich nicht passte.
Ich danke der Präsidentin des Bayerischen Landtags, Frau Barbara Stamm, sehr herzlich, dass sie den Vorschlag sofort aufgriff, in einer eigenen Stunde im Ple
num des Bayerischen Landtags der Millionen von Opfern zu gedenken und dabei auch insbesondere jener Menschen, die in Bayern Opfer wurden oder aus Bayern kamen. Wir dürfen nicht aufhören, daran zu erinnern. Je länger diese Gräueltaten her sind, desto wichtiger ist es, das Gedächtnis an die Opfer des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte zu pflegen. Wir pflegen diese Erinnerung auch deshalb, damit Menschenverachter heute und in Zukunft keinen Zulauf mehr bekommen, sondern sich in ihre Löcher verkriechen müssen.
Auch in Zukunft müssen die Menschen wissen, was in der Vergangenheit passiert ist. Sie müssen wissen, dass es passiert ist, um wachsam zu bleiben. Im gleichen Sinne haben die Vertreter der verschiedenen Häftlingskomitees vor zwei Jahren ein gemeinsames Vermächtnis formuliert. Ihre Forderung an heutige und künftige Generationen lautet: Erinnerung bewahren, authentische Orte erhalten, Verantwortung übernehmen.
Die unmittelbare Erinnerung an Geschehnisse von einst können nur jene bewahren, die es erlebt haben oder, genauer gesagt, erleben mussten: die Zeitzeugen. Unsere unmittelbare Erinnerung wird das sein, was uns diese Zeitzeugen mitgegeben haben und noch mitgeben. Neun von ihnen sind heute stellvertretend hier. Ich nenne sie in zufälliger Reihenfolge: Frau Dr. Charlotte Knobloch, Franz Rosenbach, Dr. Max Mannheimer, Abba Naor, Dr. Jack Terry, Ernst Grube, Hugo Höllenreiner, Hermann Höllenreiner und Siegfried Heilig.
Diesem Landtag gehören seit 2008 viele zum Teil ziemlich junge Mitglieder neu an. Etliche von euch werden noch in Jahrzehnten politische Verantwortung tragen. Mein Wunsch an euch ist: Seid Zeugen der Zeitzeugen, gebt deren Zeugnis weiter. Egal, ob wir 2030 oder 2040 schreiben, die Botschaft muss die gleiche bleiben. Es darf keine Form von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus mehr geben, nirgendwo in der Welt und in Deutschland schon gar nicht.
Ich bin sehr froh, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass alle Parteien dieses Parlaments darin einig sind, dass die NPD verboten gehört, und jetzt gemeinsam die Initiative unseres Kollegen Dr. Christoph Rabenstein unterstützen.
Nutzen wir im Parlament die Zeit, in der noch Zeitzeugen unter uns sind, wie in dieser Stunde der Sinto Franz Rosenbach. Als 15-Jähriger ins KZ gesperrt, hat auch Franz Rosenbach Schlimmstes erleben müssen. 6 Millionen Juden und 500.000 Sinti und Roma wurden, wie es Erich Schneeberger treffend formuliert, "fabrikmäßig" ermordet. Mit Rassenhygiene
und Verbrechensbekämpfung begründeten die Nazis ihre bestialischen Verbrechen. Auch Rosenbachs Familie wurde fast vollständig ausgelöscht.
Am 28. Januar 1944 kommt Franz Rosenbach 15-jährig ins sogenannte Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau. Kurz darauf stirbt in seinen Armen seine ältere Schwester.
Nur 67 Jahre trennen uns von dieser Zeit, für die Menschheitsgeschichte ein Wimpernschlag. Doch damit keine Generation jemals mehr solches Leid sehen muss, geht Franz Rosenbach, der in Nürnberg lebt und Stellvertretender Vorsitzender der bayerischen Sinti und Roma ist, noch immer an unsere Schulen, warnt vor jedweder Diktatur und kämpft für unsere Demokratie. Heute tut er es hier bei uns im Landtag.
Herr Rosenbach, nach dem Musikstück haben Sie unsere volle Aufmerksamkeit.
Franz Rosenbach (Überlebender Sinto des Vernich- tungslagers Auschwitz-Birkenau und Stellvertretender Vorsitzender des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Bayern): Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Damen und Herren! Als einer der wenigen, die den Völkermord an unserer Minderheit überlebt haben, möchte ich Zeugnis ablegen über die Verbrechen, die unseren Menschen ebenso wie unseren jüdischen Leidensgenossen in der Zeit des Nationalsozialismus angetan wurden.
Ich lebte damals mit meiner Familie in einem Dorf in Niederösterreich, wo ich nach meinem Schulabschluss bei der Bahn angestellt war. Mein Vater, der bei einer Baufirma arbeitete, wurde plötzlich von der Gestapo verhaftet. Ich war damals 15 Jahre alt. Ein Jahr später, im März 1943, wurde auch ich direkt von meinem Arbeitsplatz von der Gestapo abgeholt und zusammen mit meiner Mutter, meinem Onkel und dessen Kindern in das sogenannte "Zigeunerlager" Auschwitz-Birkenau deportiert. Meine drei größeren Schwestern waren bereits zuvor nach Auschwitz-Birkenau verschleppt worden. Von ihnen musste ich in Auschwitz erfahren, dass mein Vater zwei Tage vor unserer Ankunft von der SS erschlagen worden war.
Das sogenannte "Zigeunerlager" lag unmittelbar neben dem Abschnitt, wo die Juden untergebracht waren; getrennt waren wir durch einen elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun. In unserer Baracke waren 500 bis 600 Menschen zusammengepfercht - dicht gedrängt lagen wir in den Buchsen. Die Nässe und die Kälte waren kaum auszuhalten.
Bald nach meiner Ankunft wurde ich zur Zwangsarbeit im Kommando Kanalbau in Birkenau eingeteilt, das nur aus Sinti und Roma bestand. Es gab keine Schuhe, keine Strümpfe - bei Sturm und Regen mussten wir ununterbrochen Lehm schaufeln. Mit großen Stöcken wurden die abgemagerten Häftlinge bis zur völligen Erschöpfung angetrieben. Jeden Abend mussten wir Tote heimtragen. Wer das nicht selbst miterlebt hat, kann es sich nicht vorstellen. Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten. Nachts, wenn alles gefroren war, wurden die steifgefrorenen Leichen auf Lastwagen geworfen und weggefahren.
Eines Tages kamen wir auf Transport nach Buchenwald zum Arbeitseinsatz, wie es hieß. Meine Mutter weinte beim Abschied und sagte, ich solle auf mich aufpassen. Ich habe sie niemals wiedergesehen. Bei der Auflösung des Zigeunerlagers in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurde sie von der SS in den Gaskammern ermordet - zusammen mit über 2.800 unserer Menschen.
In Buchenwald musste ich im Steinbruch Zwangsarbeit leisten und täglich Steine eine Treppe hochschleppen. Mein Block war unten am Wald im sogenannten "kleinen Lager". Ende 1943 wurden wir mit Viehwaggons nach Mittelbau-Dora transportiert, welches damals noch ein Außenlager von Buchenwald war. Im Kommando B 11 musste ich im Stollen als Bohrer arbeiten und die Trümmer wegräumen. Manchmal kam es zu Fehlzündungen, wobei viele Häftlinge umkamen. Wir arbeiteten in Schichten. Nach acht bis zehn Stunden schwerster Sklavenarbeit verließen die Häftlinge schneeweiß vom Staub den Stollen, um nach einem kläglichen Abendessen zu Tode erschöpft in den Schlaf zu sinken. Viele waren bis auf die Knochen abgemagert. Diese sogenannten "Muselmänner" waren der Willkür der SS-Männer besonders ausgeliefert und hatten kaum eine Überlebenschance. Nur wer noch fähig war zu arbeiten, hatte ein Recht zu leben. Wer in Dora nicht mehr arbeiten konnte, war verloren.
Mancher Häftling hat in seiner Verzweiflung einen Fluchtversuch gewagt - fast immer vergeblich. Ich erinnere mich noch genau, wie die SS einen Sinto, der versucht hatte zu fliehen, grün und blau geschlagen hat. Dieser Häftling musste sich direkt an den elektrischen Stacheldraht stellen und immer wieder rufen "Hurra, ich bin wieder da!", bis er schließlich zusammengebrochen ist. Anschließend wurde er auf dem Appellplatz aufgehängt. Es gab auch Tage, wo wir stundenlang voller Todesangst Appell stehen mussten. Viele sind dabei vor Entkräftung zusammengebrochen und gestorben.
Ende 1944, als die russische Front immer näher rückte, sollten wir in das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg verlegt werden. Wir sind mit ungefähr 500 Mann von Harzungen unter einem Kommando der SS losmarschiert. Tagelang mussten wir, obgleich völlig erschöpft, marschieren. Nachts schliefen wir im Wald. Wer nicht mehr weiter konnte, musste sich in einen Graben setzen und bekam einen Genickschuss. Der Volkssturm hat die Leichen anschließend am Straßenrand begraben. Als wir schließlich in Oranienbaum ankamen, waren wir nur noch wenige Mann. Wir sollten dort in einem Schützengraben die russischen Panzer aufhalten, während sich die SS-Männer bereits davonmachten. Es ist mir schließlich gelungen, in den Wald zu flüchten und mich bis nach Österreich durchzuschlagen.
Bei meiner Befreiung war ich 18 Jahre alt. Doch in meinem Heimatort habe ich zunächst niemanden von meiner Familie wiedergefunden. Erst 1950 habe ich durch Zufall zwei meiner Schwestern getroffen. Wir drei waren die einzigen von unserer ganzen Familie, die den Völkermord überlebt haben.
Die deutschen Sinti und Roma sind in diesem Land seit über 600 Jahren beheimatet. Vor der nationalsozialistischen Machtübernahme waren sie als Nachbarn und Arbeitskollegen in das gesellschaftliche Leben und in die lokalen Zusammenhänge integriert. Zahlreiche Sinti und Roma dienten im Ersten Weltkrieg in der kaiserlichen Armee. Viele erhielten für ihre Verdienste hohe Auszeichnungen. Die Ausgrenzung durch die Nationalsozialisten beendete diese Normalität des Zusammenlebens. Ziel der vom NS-Staat organisierten Verfolgungs- und Mordpolitik war die vollständige Vernichtung der Minderheit vom Säugling bis zum Greis. Wie die jüdischen Menschen wurden auch die Sinti und Roma allein aufgrund ihrer Existenz entrechtet, ihrer Lebensgrundlage beraubt und schließlich nach Auschwitz und in die anderen Todesstätten deportiert; die meisten von ihnen wurden dort ermordet.
Der Holocaust an den etwa 500.000 Sinti und Roma ist ebenso wie die Shoah ein Verbrechen, das sich jedem historischen Vergleich entzieht und in seinem Ausmaß bis heute unvorstellbar bleibt. Er wurde ideologisch propagiert, systematisch geplant, bürokratisch organisiert und schließlich fabrikmäßig vollzogen.
Bei der Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg am 16. März 1997 sagte Altbundespräsident Roman Herzog:
Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem
gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für uns, die wenigen Überlebenden des Holocaust, hat es eine wirkliche Befreiung niemals gegeben. Es gibt Erlebnisse und Erinnerungen an jene Zeit, die man nie wieder los wird, die in unseren nächtlichen Träumen immer wiederkehren. Über 40 Jahre habe ich gebraucht, um über die fürchterlichen Erlebnisse von damals sprechen zu können. Heute berichte ich als Zeitzeuge vor Schulklassen, um der jungen Generation zu vermitteln, wohin - wie es in der Präambel der Bayerischen Verfassung heißt - "eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen" das deutsche Volk einst geführt hat, und um dazu beizutragen, dass sich etwas Derartiges auf deutschem Boden niemals wiederholen wird. Am Schluss meiner Zeitzeugengespräche rufe ich den jungen Menschen meist zu: "Ihr seid die Zukunft Deutschlands. Macht etwas Gutes aus Deutschland!"
Lassen Sie mich abschließend noch feststellen, dass es für mich persönlich ein ganz besonders bewegendes Ereignis ist, dass ich als erster Repräsentant unserer Minderheit heute im Bayerischen Landtag zu Ihnen sprechen kann.
Ich danke Ihnen.