Protocol of the Session on December 12, 2008

(Zwischenruf Abg. Emde, CDU: Wenn es Sie beruhigt, Frau Sojka.)

Na ja, die Klebezettel fehlen.

(Unruhe CDU)

Dann schlagen Sie mit nach, ich nenne Ihnen die Tabellen, aus denen ich meine Weisheiten beziehe.

(Zwischenruf Abg. Carius, CDU: Wenn es Weisheiten wären.)

13,6 Prozent der Thüringer Schüler haben eine Verzögerung während der Schulzeit, und zwar nicht durch Einschulungsverzögerungen bedingt. Dabei haben die Regelschüler eine dreimal höhere Verzögerungsrate, das heißt, sie bleiben dreimal häufiger sitzen.

(Zwischenruf Abg. Grob, CDU: Nach der Rede sind wir wieder auf dem letzten Platz.)

(Heiterkeit CDU)

Die mittleren Kompetenzwerte unterscheiden sich zwischen den Regelschülern und Gymnasiasten. In allen drei Kompetenzbereichen liegen nur die Gymnasiasten klar über dem OECD-Durchschnitt. Das heißt im Umkehrschluss, Kompetenzstufe I, also geringe oder fehlende Kompetenz, haben über 20 Prozent der Thüringer Regelschüler in Mathematik und 18 Prozent im Lesen. Das sind aber dann die, die hier versuchen eine Ausbildung zu finden und wo IHK und Handwerkskammer berechtigt sagen, die Ausbildungsfähigkeit wäre nicht da. Um die müssen wir uns kümmern und dort müssen wir schauen, wie wir das beseitigen können. Das habe ich beim Staatssekretär jetzt vermisst, dass er eine Reflexion darauf bringt.

(Beifall DIE LINKE)

Wenn ich die Kompetenzwerte von 2000 bis 2006 versuche mal zu analysieren, dann ist bei der mathematischen Kompetenz zwar ein signifikanter Zuwachs von 2000 zu 2006 zu verzeichnen, aber nur bis 2003, wenn man genau in die Tabellen schaut. Von 2003 zu 2006 ist der Prozess ins Stocken geraten. Bei der Lesekompetenz haben wir zwar von 2000 bis 2006 18 Punkte Zuwachs, aber dieser Zuwachs ist nicht signifikant und nicht statistisch abgesichert, also auch die Lesekompetenz hat sich in den letzten sechs Jahren überhaupt nicht verbes

sert. Auch da ist der Prozess ins Stocken geraten. Gut, wir klopfen uns auf die Schultern, in Thüringen sind die Besten. Ich habe es verstanden. Das ist das, was Sie hören wollen. Aber haben wir nicht die Pflicht als Politiker dieses Landes, für diese Schüler hier zu sorgen und genau dahinter zu schauen, wo sind denn die Knackpunkte, wo man es eigentlich besser machen muss?

(Beifall DIE LINKE)

Wenn ich in PISA 2006 hineinschaue, dann wird ganz besonders die naturwissenschaftliche Kompetenz betrachtet und da liegt Thüringen deutlich über dem OECD-Durchschnitt: Platz 7 insgesamt und in Deutschland Platz 3. Ja, da muss ich aber mal bitte schön unser kleines provinzielles Thüringen anschauen. Nennen Sie mir doch mal eine Großstadt, die ungefähr dieselben Probleme hat wie die Großstädte, die es in Deutschland gibt. Da kann man doch nicht Äpfel und Birnen vergleichen. Oder: Wir haben den geringsten Anteil von Migranten und Migrantenkindern und wenn man das herausrechnet - die Wissenschaftler haben das getan, das kann man hier herauslesen -, dann sind wir nur noch im Mittelfeld. Dann sind wir gar nicht mehr auf Platz 3 - das muss man doch mal betrachten. Mich haben die PISA-Ergebnisse nicht überrascht. Ohne Großstadt und mit so wenig problematischen Fällen, die einer Integration bedürfen, um die man sich kümmern müsste und wo sich andere Länder auch gekümmert haben. In Berlin gibt es im Übrigen tatsächlich eine positive Entwicklung diesbezüglich.

(Zwischenruf Abg. Emde, CDU: Also sind wir nur so gut, weil wir im Wald leben. Das ist ja …)

Sie dürfen hier vorn reden, Herr Emde. Ich verstehe Sie sowieso nicht, wenn Sie reinreden, und ich gebe mir auch gar keine Mühe.

(Zwischenruf Abg. Grob, CDU: Das geht uns genauso.)

Dass Sie das nicht verstehen, ist mir schon klar. Sie müssen im Ausschuss mal nicht die Bildzeitung, sondern dieses Ding hier lesen.

(Beifall DIE LINKE)

Interessant ist es, wenn man den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Eltern und der Kompetenz der Schüler genauer beleuchtet. Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Weisheit nehmen, Herr Staatssekretär. Wo ist da die weitgehende Entkopplung? Ich lese aus den Daten etwas anderes heraus. Bezeichnend ist, dass Thüringen bundesweit auf dem drittletzten Platz liegt, was den durch

schnittlichen sozioökonomischen Status der Eltern betrifft.

Auf der Seite - zum Mitmachen, Herr Emde, Seite 327, Tabelle 9.2 -: Es gibt eben keine signifikante Abweichung des sozialen Gradienten, also der, der den Zusammenhang beschreibt, von dem sozioökonomischen Status und dem Kompetenzniveau. Das heißt - also nur im naturwissenschaftlichen Bereich wurde der ja dieses Mal gemessen -, der Zusammenhang zwischen diesem soziökonomischen Status der Elternhäuser und der naturwissenschaftlichen Kompetenz in Thüringen ist genauso hoch wie in den meisten Bundesländern in Deutschland.

Also, in Bezug auf das hohe naturwissenschaftliche Kompetenzniveau - ach, das ist die nächste Tabelle, Entschuldigung, Sie müssen mitblättern, Seite 331, Abbildung 9.5 - der Thüringer Schüler wird die dabei bestehende hohe Varianz im Kompetenzniveau überdurchschnittlich durch die soziale Herkunft erklärt. Also, ich komme zu einer völlig anderen Schlussfolgerung als der Staatssekretär: Es gibt in Thüringen keine Entkopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzniveau der Schüler.

(Zwischenruf Dr. Sklenar, Minister für Landwirtschaft, Naturschutz und Umwelt: Die müssen doch immer alles kleinreden. Nicht nach vorn schauen.)

Und Politik ist natürlich, erst mal hinzuschauen und zu sagen, wo denn die Fakten sind. Die Augen aufmachen und nicht die Augen zumachen und danach kann man ableiten, was man für Rahmenbedingungen setzen muss.

(Beifall DIE LINKE)

Wenn bei Ihnen die Augen schon zu sind beim Lesen, da muss ich Ihnen sagen, dann kann man natürlich nur die falschen Ableitungen ziehen oder gar keine; das haben wir ja gehört.

(Beifall DIE LINKE)

Wenn Sie - wieder fürs Protokoll oder für Sie, Herr Emde - Seite 332, Tabelle 9.3 noch mal genauer in Ihren Blick nehmen, dann nimmt der soziale Gradient in Thüringen von 2000 zu 2006 sogar zu, während er in fast allen Bundesländern abnimmt. Das heißt also, wir haben hier diese Steigerungen in Thüringen nur den Schülerinnen und Schülern zu verdanken, die aufgrund ihrer Herkunft die dreimal höhere Möglichkeit haben, zum Gymnasium zu kommen. Nur daher sind diese Steigerungen überhaupt letzten Endes signifikant erfassbar.

Ich will Sie nicht mit allen Tabellen quälen, weil, ich weiß ja auch erst seit gestern, dass ich mich heute hier mit diesem Thema so intensiv befassen soll. Ich ging ja davon aus, dass wir da alle zusammen ein bisschen Zeit haben und nicht nur dem Minister zuhören,

(Zwischenruf Abg. Emde, CDU: Sie haben ja nicht mal richtig zugehört.)

aber ich verstehe schon, Sie wollten unbedingt vor Weihnachten noch diese Jubelparty haben und da bekommen Sie die auch.

Fakt ist jedenfalls, dass aus unserer Sicht die soziale Disparität in Thüringen weiterhin vorhanden ist. Wir haben zwar in Thüringen tatsächlich gute Schulen -

(Beifall CDU)

das ist ja nicht abzuleugnen und das weiß auch der Staatssekretär, dass das bei Veranstaltungen von uns auch nie bestritten wird -, aber der Zugang zu ihnen ist nach wie vor ungerecht. Es ist für mich auch absurd, dass es richtig gute Regelschulen gibt, die besser sind als schlechte Gymnasien und andersherum. Für uns gibt es daraus nur eine einzige Schlussfolgerung: Ziehen Sie aus IGLU die richtigen Schlussfolgerungen - eine Schule für alle, Heterogenität als Wert an sich schätzen, individualisiertes Lernen ermöglichen, das bedeutet längeres gemeinsames Lernen und das bedeutet letztendlich auch, diesen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischem Erfolg endlich in Thüringen tatsächlich zu entkoppeln. Das haben wir bisher nicht erreicht.

(Beifall DIE LINKE)

Ein Wort noch zu diesen Nachmittagsangeboten, die Sie auch beschrieben haben. Ich weiß nicht, worauf wir da stolz sind. Bei offenen Ganztagsangeboten geht es doch eher rückwärts. Schauen Sie sich einmal um in den Landkreisen. Die Mittel für die Jugendarbeit sind ständig im Abnehmen begriffen. Sie wissen das doch selber. Wir haben uns bei jedem Haushalt hier darum gestritten, dass die Jugendarbeitsmittel erhöht werden, dass wir Schulsozialarbeiter an jeder Schule brauchen und dass die Schuljugendarbeit und alles, was die Ganztagsangebote erst ermöglicht, natürlich ausgebaut werden müssen. Wir tun doch das Gegenteil. Wir ruhen uns auf den Lorbeeren vergangener Zeiten aus und machen das Gegenteil davon, was wir tun müssten. Dann erzählen Sie uns noch, wir sind die Besten und wir müssen nicht darüber nachdenken. Ich kann nicht erkennen, dass das einen Fortschritt bedeutet.

Bei voll gebundenen Ganztagsschulen, schauen Sie mal in die Tabellen hinein, da liegt Thüringen klar un

ter dem deutschlandweiten Durchschnitt. Wir haben keine echten Ganztagsschulen in gebundener Form und wir ermöglichen auch nicht, dass die sich weiterentwickeln, denn dann müssten wir auch die Hortgebühren dort abschaffen und natürlich den Schülerverkehr so regeln, dass der entsprechend von den Eltern auch auf dem flachen Land erreicht werden kann. Bei uns im Landkreis gibt es solche Angebote überhaupt nicht, außer an freien Schulen, und die sind im Übrigen erfolgreich. Dahin sollten wir sehen und das für unsere staatlichen Schulen auch organisieren, aber das Gegenteil tun Sie.

Besonders nachdenklich macht allerdings auch, dass die Schüler nach Klasse 4 Spitze sind und nach Klasse 9 nur noch Mittelmaß. Also unsere Schlussfolgerung aus PISA und IGLU heißt nicht die Trennung nach Klasse 4. Da können Sie immer wieder sagen, dass es eine ideologische Debatte wäre. Ich weiß nicht, warum Sie dieses immer wieder so in den Raum stellen. Ich habe das Gefühl, dass unter allen Wählerinnen und Wählern in Thüringen sehr viele Menschen genau diese Trennung nach Klasse 4 nicht wollen, und wenn die Statistik stimmt, dann sind das über 70 Prozent. Das wäre tatsächlich einmal zu hinterfragen, dieses in Auftrag zu geben und die Bildungspolitik unter die Lupe zu nehmen und nicht nur die Dinge, die Sie sehen wollen.

(Unruhe CDU)

Zu den Schlussfolgerungen. Ja, das war so von gestern Abend, ich hatte ja nur die Wahl, gehst du zum parlamentarischen Abend oder gehst du nicht, schreibst du eine Rede auf oder nicht. Ich habe mich dann dafür entschieden, hier frei zu reden. Nicht jeder kann das. Ich gebe mir zumindest Mühe; Herr Emde, Sie können es ja dann nachmachen.

(Beifall DIE LINKE)

Es ist für mich natürlich auch verwunderlich, dass aus diesen PISA-Daten dann die nächsten Ländervergleiche nicht mehr gemacht werden sollen und man selbst auf die Idee kam, dass man die Hauptschüler zukünftig nicht mehr daran teilnehmen lassen will. Das ist wieder so ein Ding, wo ich sage, Augen zu und durch. Das kann natürlich nicht sein. Wenn man sieht, welche der 73 Schulen getestet worden sind - wir haben zahlenmäßig genauso viele Förderschulen wie Gymnasien in Thüringen, es ist aber nur eine Förderschule bei PISA dabei gewesen. Wenn man davor die Augen verschließt, dann kommt man zu solchen Ergebnissen. Man muss sie hinterher richtig interpretieren, dann ist das nicht so schlimm. Aber wenn man sich nur jubelnd auf die Schulter klopft, dann kommt man zu den falschen Schlussfolgerungen.

Die letzte OECD-Lehrerstudie wurde 2004 durchgeführt. Die Kultusminister sind aus dieser Studie ausgestiegen, sie nehmen nicht mehr daran teil, weil in der letzten Studie die Arbeitssituation und Arbeitsbewältigung der Lehrer reflektiert worden ist. Wenn man 30 Prozent ausgebrannte Lehrer in Thüringen hat, ist das sicher kein Anlass zu jubeln und so verweigert man kurzerhand die Datenerhebung. Dass das tatsächlich so ist, das zeigt mir einfach das Verhalten der Lehrerinnen und Lehrer und das der Schüler. Bei aller Liebe, wer denkt, dass in Thüringen alles paletti ist trotz dieser Proteste, die nun einmal stattgefunden haben und die man einfach ignoriert, der ist nicht mehr in der Lage, Politik zielführend zu gestalten. Wer Kritik nicht aufnehmen kann und nur denkt, dass das, was wir machen, alles richtig sei und nur gut vermittelt werden muss, das erinnert mich so an die letzten Stunden der DDR - das können Sie gar nicht glauben.

(Heiterkeit DIE LINKE)

Sie müssten es doch eigentlich auch noch wissen. Ich war da noch relativ jung.

(Beifall DIE LINKE)

Bei aller Liebe, man kann doch Politik tatsächlich nur wirklich erfolgreich gestalten, wenn man nicht die Augen verschließt, sondern auch zur Kenntnis nimmt, was es an kritischen Dingen gibt, und entsprechend handelt. Im Übrigen war ich, glaube ich, 2002 das erste Mal in Finnland. Was mich dort so richtig aufgebaut hat, war, dass die dortigen Lehrer und Schulleiter und mit wem wir da alles geredet haben, sich nicht auf die Schulter geklopft haben, sondern von Anfang an gesagt haben, dass sie überrascht waren von diesem PISA-Ergebnis und was sie für kritische Dinge selber reflektieren und woran sie gerade arbeiten. Wenn wir so eine Stimmung endlich hinbekommen würden, dass wir das aufnehmen, was an kritischen Dingen genannt wird, und versuchen, daran zu arbeiten - aber ich habe kein Wort beispielsweise von Ihnen, Herr Staatssekretär, gehört zu dem letzten Verbandstag der Thüringer Lehrer. Da war Ihr Minister im Podium, heute ist er ja leider nicht da, wahrscheinlich übergibt er wieder irgendeinen Fördermittelbescheid an irgendeine Musikschule oder so.

(Zwischenruf Dr. Sklenar, Minister für Landwirtschaft, Naturschutz und Umwelt: Das ist unerhört.)

Das ist ja egal. Ja, die Entschuldigung wurde gestern von der Präsidentin nicht genannt, ich weiß es ja nicht und ich muss es auch nicht wissen. Aber schade, dass er bei solchen Debatten nicht dabei ist, es ist nun schon die zweite oder dritte, wo er nicht dabei ist.