Protocol of the Session on July 19, 2002

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Danke, Frau Abgeordnete Feußner. - Meine Damen und Herren! An zweiter Stelle hat für die Landesregierung Minister Herr Olbertz um das Wort gebeten. Bitte, Herr Minister.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Mit der internationalen Schulleistungsvergleichsstudie Pisa wird das Ziel verfolgt, grundlegende Kompetenzen im Lesen und im Textverständnis, in Bezug auf mathematische sowie naturwissenschaftliche Grundbildung 15-Jähriger zu erfassen und den OECD-Staaten vergleichende Daten über die Leistungsfähigkeit ihrer Bildungssysteme zur Verfügung zu stellen.

Die internationalen Pisa-Vergleichstests werden künftig regelmäßig durchgeführt. Im Frühjahr 2003 gibt es einen weiteren Zyklus, dieses Mal mit dem Schwerpunkt der mathematischen Grundbildung. Die Erhebung im dritten Zyklus ist im Jahr 2006 mit dem Schwerpunkt der naturwissenschaftlichen Grundbildung vorgesehen. Wenn es dann bei dem damit eröffneten Zyklus bleibt, dann wird es im Jahr 2009 wieder einen Test mit dem Schwerpunkt des Lesevermögens und des Textverständnisses geben.

Ich sage das aus einem ganz bestimmten Grund. Das betrifft dann nämlich genau diejenigen Schülerinnen und Schüler, die wir jetzt einschulen und die dann im Jahr 2009 dem Lese- und Textverständnistest unterzogen werden. Das ist ein ganz wichtiges Datum, wenn man prognostisch denkt.

Die Ergebnisse der Leistungsvergleichsstudie, insbesondere der Ergänzungsstudie, die den bundesweiten Vergleich eröffnet, kann man schlicht und ohne Übertreibung als verheerend bezeichnen. Das Pisa-Konsortium stellt unter anderem für Sachsen-Anhalt fest, dass die Leistungsunterschiede zu den führenden Bundesländern etwa anderthalb Schuljahren entsprechen.

Der relative Erfolg Bayerns und Baden-Württembergs ist dabei keineswegs durch die höhere Selektivität der Systeme zu erklären, sondern eher damit, dass die Schülerinnen und Schüler mit Lernproblemen und schwierigeren Lernumständen in leistungsorientierten Systemen offensichtlich besser gedeihen. In Bayern können Kinder mit Migrationshintergrund sogar besser lesen und schreiben als die Jugendlichen im Bundesdurchschnitt.

(Frau Feußner, CDU: Und in Sachsen-Anhalt!)

Allerdings verbieten sich monokausale Zuschreibungen. Die Hintergründe für das schlechte Abschneiden der 15Jährigen in Deutschland sind sehr vielschichtig. Viele Ursachen der Bildungskrise haben ihren Ursprung - das räume ich gern ein - gar nicht in der Schule, sondern sind Effekte gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die inzwischen bis in den privaten Lebenshorizont der Heranwachsenden und ihrer Familien vorgedrungen sind.

(Zustimmung von Herrn Dr. Polte, SPD)

Allerdings hat seit den 70er-Jahren insbesondere in den SPD-regierten Ländern nahezu jedes gesellschaftliche Defizit zu einem neuen Auftrag an die Schule geführt. Mit dieser Überforderung der Schulen als globale Reparaturwerkstatt für wechselnde gesellschaftliche Problemlagen ist ihre Lernfunktion mehr und mehr zurückgedrängt worden.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Herrn Dr. Polte, SPD, und von Frau Pieper, FDP)

Das hat zu einer maßlosen Überstrapazierung der Institution Schule geführt. Deshalb sollte es aber keine Schuldzuweisungen, schon gar nicht an die Lehrerinnen und Lehrer geben, wohl aber kritische Fragen an die Politik.

Welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen?

Erstens. Es kommt darauf an, die Schule in der Tat auf ihre explizite Lernfunktion zurückzuführen. Entscheidende Reformen und neue Ansätze sind vor allem für die Grundschule veranlasst. Das ist nicht deshalb der Fall, weil ich denke, dass dort das Übel besonders stark wäre, sondern wegen des von mir vorhin angemerkten prognostischen Denkansatzes. Reformwirkungen im Bildungssystem sind langfristig zu veranschlagen.

Die Grundschule muss auf ihre primäre Funktion, das systematische und konzentrierte Lernen, wieder stärker verpflichtet werden. Lernen heißt hier: Lernen in nachvollziehbaren Schritten, mit Leistungserwartungen, definierten Wissensvoraussetzungen, Erfolgs- und Misserfolgsmeldungen. Gerade die Grundschule hat den Unterschied des Lernens gegenüber anderen Formen individueller und sozialer Aktivität erfahrbar zu machen und in seiner Eigenständigkeit zu kultivieren.

Immanentes Lernen findet in vielen weiteren Tätigkeiten innerhalb und außerhalb der Schule statt und sollte pädagogisch immer mit bedacht werden. Explizites Lernen aber, in Gestalt des Unterrichts, muss den Mittelpunkt schulischer Aufmerksamkeit bilden. Der Grundstein für diese Schlüsselerfahrung sollte schon vorschulisch gelegt werden.

Wir haben uns das Ziel gestellt - Herr Minister Kley und ich -, mit der Entwicklung von vorschulischen Bildungsstandards, insbesondere für das letzte Kindergartenhalbjahr vor der Einschulung, eine deutliche Verbesserung des Einschulungsniveaus bezüglich der Grundkom

petenzen, also geistige und praktische Fähigkeiten, zu erreichen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Zweitens, meine Damen und Herren, geht es um eine klare Definition dessen, was Grundwissen und entsprechende Schlüsselkompetenzen eigentlich sind. Die alte Idee eines für alle verbindlichen Kanons wurde in den letzten Jahren glücklicherweise Schritt für Schritt von dem alten Vorwurf der kulturellen Willkür und der Reproduktion von Herrschaftswissen und Exklusivität befreit. - In dieser Art wurde vor wenigen Jahren noch gesprochen.

Ein verbindliches und messbares Kompetenzminimum in Bezug auf die Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken ist auch klassenstufenweise ohne weiteres formulierbar und kann zwischen den verantwortlichen Beteiligten vereinbart werden. Das setzt aber eine grundlegende und radikale Revision und im Übrigen auch eine Reduktion der Lehrpläne voraus.

(Zustimmung von Herrn Schomburg, CDU)

Also Entrümpelung, Klärung der grundlegenden Wissensbestände und operationalisierten Kompetenzen, an denen dann auch wirklich länger verweilt wird, mit denen nachhaltig gearbeitet wird und auf die immer wieder zurückzukommen ist.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP)

Dazu gehören übrigens auch die Sekundärtugenden eines im guten Sinne ritualisierten Lernens. Unsere überfrachteten Rahmenrichtlinien scheinen der allgemeinen Erosion der Grund- oder Allgemeinbildung eher zugearbeitet zu haben.

(Herr Gürth, CDU: Genau!)

Aus diesen Gründen begrüßen wir ausdrücklich die Einführung von Bildungsstandards, die Initiative, die die KMK in ihrer Eisenacher Sitzung ergriffen hat, und die Präzision in Bezug auf den Zeitplan am 25. Juni 2002 anlässlich der Sitzung in Berlin, die Entwicklung von Standards für die Grundschule, den mittleren Schulabschluss und den Hauptschulabschluss als Länder übergreifende Vergewisserung und Einigung auf Qualitätsmaßstäbe von Bildung, die dann auch vergleichbar sind.

Ich hoffe sehr, dass diese Initiative, die von den B-Ländern ausging, obwohl es in den A-Ländern auch schon entsprechende Vorarbeiten gab, schnell zu einem gemeinsamen Bündel von Standards zusammengeführt wird. Im Übrigen wird sich das Schicksal der KMK daran entscheiden.

(Herr Scharf, CDU, lacht)

Die Standards werden durch bundesweit besetzte Fachkommissionen bis Juni 2003 für den Hauptschulabschluss und den mittleren Schulabschluss bzw. bis November 2003 für die Grundschule erarbeitet werden. Experten aus dem Land Sachsen-Anhalt werden in allen Fachkommissionen mitarbeiten und somit die Intention unseres Landes einbringen.

Das Kultusministerium hat bereits wissenschaftliche Mitarbeiter der beiden Universitäten beauftragt, ein kommentiertes Aufgabenmaterial aus bereits veröffentlichten Leistungsstudien zu den Fächern Mathematik, Deutsch, Englisch und den naturwissenschaftlichen Fächern zusammenzutragen, um damit eine neue Basis für die Ver

besserung der Unterrichts- und Lernkultur an den Schulen zu schaffen.

Drittens müssen wir uns über das Thema Leistung neu verständigen. Die Konfrontation von sozialem Lernen und Leistungslernen hat uns in die Irre geführt. Ohne das Stichwort „Leistung“ fehlen dem sozialen Lernen in der Schule Anlass und Thema.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Herrn Hauser, FDP)

Die Betonung der sozialintegrativen Funktion der Grundschule, so wichtig sie ist, darf also nicht dazu führen, dass sie ihre explizite Lernfunktion aus den Augen verliert oder Leistungsmaßstäbe preisgibt. Dann wird nämlich allenfalls Mittelmaß demokratisiert. Die Spitzenförderung bleibt dabei ebenso auf der Strecke wie die Förderung der Kinder mit Lernschwierigkeiten.

Übrigens erleben viele Heranwachsende den Verzicht auf verbindliche Lernerwartungen als Entzug von Aufmerksamkeit und Zuwendung, was sie mit umso auffälligeren verzweifelten Verhaltenssignalen kompensieren müssen. Wer Kindern die Schmach des Misserfolgs ersparen will, nimmt ihnen auch die Möglichkeit des Stolzes auf eine erbrachte Leistung.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP und von Frau Bull, PDS)

Das ist einer der Gründe, weshalb wir für eine frühere Einführung des Instruments der Zensuren plädieren, was aber einschließt, dass sie behutsam und pädagogisch kompetent eingesetzt werden. Wer heute, etwa aus falsch verstandener Behutsamkeit, für die Alphabetisierungsphase in der Grundschule schon zwei Jahre veranschlagt, der hat zu verantworten, dass die Kinder, selbst wenn sie am Ende dieser Zeit möglicherweise leidlich lesen und schreiben können, zumindest das Lernen verlernt haben. Das geschieht, noch ehe sie die Chance hatten, lernen als ernsthafte und konzentrierte Tätigkeit zu verstehen und einzuüben, für die sie aber die Kompetenz und die Qualifikation ein Leben lang brauchen.

Wenn die Schule im Moment ihres Beginns diese Grunderfahrung und Einsicht verstellt, dann ist kein Bildungsaufwuchs möglich, denn Bildung verläuft über Kommunikation. Fehlt der Kommunikation die Grundlage, dann kann die Schule Bildungsaufwuchs nicht mehr gestalten; sie kann sich in der Folgezeit nur noch mit ihren selbst erzeugten Lernproblemen auseinander setzen. Die Lernenden bleiben auf der Strecke und die Lehrenden werden in ihrer Rolle frustriert.

Genau dies scheint eingetreten zu sein. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Initiation des Lernens in der Grundschule uns bisher nicht gelingt. Viele Schulanfängerinnen und Schulanfänger sind nach den ersten Wochen der Grundschule maßlos enttäuscht.

Viertens brauchen wir unbedingt eine Modernisierung der Unterrichtsmethoden, aber nicht auf der Basis preiswerter Polemik gegen den Frontalunterricht und der Aufgabe des Lehrers, sondern in einer intelligenten Verbindung frontaler Unterrichtsweisen mit modernen Konzepten.

Herr Minister, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Kommen Sie bitte langsam zum Ende.

Wenn ich langsam zum Schluss kommen darf, versuche ich das.

(Heiterkeit)

Fünftens geht es um entschieden mehr Handlungs- und Gestaltungsspielräume für die Einzelschule und ihre Lehrerinnen und Lehrer, damit um ein modernes Qualitätsverständnis schulischer Bildung, das auch Evaluation und Wettbewerb untereinander einschließt. Dazu gehört übrigens auch eine entschiedene Erhöhung der alltäglichen Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Lehrerinnen und Lehrer in der Ausübung ihrer professionellen pädagogischen Tätigkeit.

Sechstens schließlich ist die Zusammenarbeit mit den Eltern unbedingt zu stärken und auf eine verbindlichere Grundlage zu stellen. Das hat die Abgeordnete Feußner allerdings schon ausgeführt; deswegen kürze ich diesen Teil.

Meine Schlussbemerkung: Ohne ein grundsätzliches Nachdenken über solche inneren und inhaltlichen Reformen der Schule und vor allem ohne schnelles Handeln sind abstrakte Debatten, zum Beispiel über die Vor- und Nachteile des gegliederten Schulsystems, fruchtlos. Die Dramatik der Pisa-Ergebnisse erlaubt es nicht länger, die alten Lagerkämpfe um die richtige Schulform fortzusetzen. Unter den gegenwärtigen äußeren Rahmenbedingungen und minimierten internen Gestaltungsspielräumen ist jede Schulform schlecht. Die einzelnen Schulen können die Probleme allenfalls unterschiedlich gut kompensieren.

Die Pisa-Studie bietet allen Anlass, den gesellschaftlichen Diskurs über die Probleme der Allgemeinbildung, der Ausbildung und des Lernens ernsthaft und öffentlich in Gang zu bringen.

Bildung in der Schule ist entschieden mehr als nur eine Dienstleistung. Sie ist erstrangiger Gegenstand politischer, gesellschaftlicher und privater Verantwortung. Von der Bildung der jungen Menschen hängen ihre Zukunft, ihre Chancen auf Arbeit, auf Selbstverwirklichung und Partizipation ganz entscheidend ab.

Die ganze Gesellschaft verspielt ihre Zukunft, wenn Bildung gering geschätzt oder vernachlässigt wird. Die Verantwortung dafür liegt jetzt bei uns, so wie wir hier sitzen, und ich hoffe, dass wir sie weitgehend gemeinsam wahrnehmen werden. - Vielen Dank.