Protocol of the Session on May 7, 2004

Der Begriff der europäischen Region ist besetzt. Die Länder sind Regionen im Sinne dieser Definition. Wir arbeiten - ich glaube, das ist auch deutlich geworden - bei europäischen Fragen gerade unter den neuen Ländern außerordentlich eng zusammen. Es gibt kein wichtiges Thema, zu dem wir uns nicht gemeinsam positioniert hätten, erfreulicherweise - ich habe es angedeutet - zumeist unter der Federführung des Landes SachsenAnhalt. Ich hoffe, dass das auch in Zukunft so bleibt. Wir wissen, dass wir auch als neue Länder nur gemeinsam stark sind.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Minister Robra. Möchten Sie noch? - Nein, Sie winkt ab. Dann ist das erledigt. Zunächst haben wir die Freude, Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule Benndorf auf der Südtribüne begrüßen zu können.

(Beifall im ganzen Hause)

Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 2 b:

Aussprache zur Regierungserklärung

Es ist die Redezeitstruktur D, wie Ihnen allen bekannt ist, vorgeschlagen worden. Ich rufe zunächst für die SPDFraktion den Fraktionsvorsitzenden Herrn Dr. Püchel auf. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Verehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Für meine Fraktion begrüße ich es, dass die Regierungserklärung von Minister Robra dem Landtag die Gelegenheit gibt, die Osterweiterung der Europäischen Union angemessen zu würdigen. Der 1. Mai 2004 ist zweifelsfrei ein Meilenstein in der Geschichte der Europäischen Union, ja ganz Europas, gewesen. Am vergangenen Samstag sind neue und stabile Brücken zu alten Nachbarn vollendet worden. Mit der Osterweiterung kehren Völker und Staaten, die seit langem Teil Europas sind, aber im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs vier Jahrzehnte lang fest im Ostblock verankert waren, endgültig in die europäische Familie zurück.

War die Gründung der Europäischen Gemeinschaft eine Antwort auf die erste - von zwei Weltkriegen dominierte - Hälfte des vorigen Jahrhunderts, markiert der 1. Mai 2004 das Datum der endgültigen Überwindung der unnatürlichen Teilung Europas infolge des Zweiten Weltkrieges. Im Sinne von Willy Brandt ist nun auch auf europäischer Ebene zusammengewachsen, was zusammen gehört, erhält das friedliche Europa eine Stabilität, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat.

Für uns Sozialdemokraten steht deshalb völlig außer Frage, dass der 1. Mai 2004 ein guter Tag für Deutschland und Europa ist. Insbesondere wir Ostdeutschen sehen in der Osterweiterung der EU die konsequente Fortsetzung der deutschen Einigung auf europäischer Ebene. Ich glaube, gerade wir Bürger der neuen Länder können die gegenwärtigen Hoffnungen und Gefühle der Bürger in den Beitrittsländern am ehesten nachempfinden, die Hoffnungen auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Wohlstand in einem geeinten Europa, verbunden mit einer unsicheren Neugier auf das neue westeuropäische Wirtschafts- und Sozialmodell. Es gibt einen Unterschied, nämlich dass wir Ostdeutschen mit der Wiedervereinigung den Beitritt zur EU praktisch als Geschenk mitbekamen, während die neuen zehn Länder ihren Beitritt hart erarbeiten mussten.

Wir sollten die Bedeutung der Osterweiterung für das Bewusstsein in und das Bild der Welt von Europa nicht unterschätzen. Weltweit werden dieser Tage die Karten der neuen EU gezeigt. Wer sich diese Karten anschaut, sieht, dass die Beitrittsstaaten jetzt der Osten sind. Wir sind in die Mitte gerückt. Wer auf Deutschland blickt, sieht es im Herzen Europas, von befreundeten Staaten umgeben. Die Schaffung von Frieden durch Integration, das Erfolgsrezept der Gründungsväter der Union, ist voll gelungen. Die Kontinuität der deutschen Außenpolitik in dieser Frage hat sich ausgezahlt.

Ich weiß - auch Herr Robra hat es angesprochen -, dieser positiven historischen Einordnung der Osterweiterung der EU stehen gemischte Gefühle bei weiten Teilen der Bevölkerung gegenüber. Zwar erwarten nach einer aktuellen Meinungsumfrage 59 % der Deutschen von

der EU-Erweiterung eine stärkere Rolle Europas in der Welt. Europa als Friedensmacht wird also durchaus positiv gesehen. Jedoch sehen 73 % der Befragten Gefahren für Arbeitsplätze in Deutschland und 60 % vermögen bisher in der Osterweiterung keine Vorteile für die deutsche Wirtschaft zu erblicken. Nach einer Umfrage unter Mittelständlern sieht der Mittelstand in Sachsen-Anhalt die EU-Osterweiterung skeptischer als der Mittelstand in den anderen Bundesländern.

Wir Sozialdemokraten sehen im Beitritt viel größere Chancen als Risiken, gehen über die Ängste der Menschen und der Wirtschaft aber nicht einfach hinweg. Natürlich gibt es Risiken. So trifft die EU-Osterweiterung auf eine schwierige wirtschaftliche Situation, insbesondere in Ostdeutschland. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Wettbewerbsvorteile der neuen Beitrittsländer durch den nun beschleunigten Abbau noch für sie bestehender Handels- und Investitionshemmnisse stärker als bisher zur Geltung kommen.

Ich denke insbesondere an die niedrigen Löhne und die niedrigen Steuersätze. Der Wettbewerbsdruck auf lohnintensiv produzierende Branchen sowie auf Branchen mit niedriger Produktivität oder traditioneller Produktpalette wird also wachsen, nicht zuletzt mit der Gefahr, dass deutsche Unternehmen Arbeitsplätze in die Beitrittsländer verlagern.

Aber auch wenn wir diese ökonomischen Risiken nicht bestreiten, sind wir davon überzeugt, dass die Chancen der EU-Osterweiterung die Risiken der Erweiterung bei weitem übersteigen. Für die deutsche Volkswirtschaft bedeutet die Osterweiterung vor allem die Erschließung neuer stabiler Märkte. Der Zugang zu den neuen, expandierenden Absatzmärkten in Mittel- und Osteuropa wird erleichtert. Der Binnenmarkt wird um rund 105 Millionen Konsumenten vergrößert. Gleichzeitig entsteht eine große Nachfrage im Bereich der Investitionsgüter.

Für die Wirtschaft der bisherigen EU-Staaten kann die Osterweiterung einen ähnlichen Impuls bedeuten, wie es die Wiedervereinigung für die westdeutsche Wirtschaft war. Der Handel mit den Beitrittsländern wächst jetzt schon dynamischer als der deutsche Außenhandel insgesamt. Dieses Potenzial ist noch lange nicht ausgereizt.

Gesine Schwan hat am Dienstag in unserer Fraktion in beeindruckender Weise dargelegt, dass auch die Zukunft von Sachsen-Anhalts Wirtschaft nicht mit einem Wettlauf um die niedrigsten Löhne gewonnen werden kann. Wenn Herr Tullner zuhören würde, würde er das bestätigen; denn er war in der Fraktionssitzung dabei, was ich sehr begrüßt habe.

Ähnlich bringt es auch das Frühjahrsgutachten zum Ausdruck. Niedriglöhne können nicht die Lösung sein und sie müssen es auch nicht sein. Vielmehr müssen wir als Hochtechnologiegesellschaft auf Innovation setzen. Sachsen-Anhalt kann dieses tun, wenn wir die richtigen Schwerpunkte setzen, wenn wir auf Bildung und Forschung setzen, wenn wir Wege finden, die gewonnenen Erkenntnisse auch in marktfähige Produkte umzusetzen, Produkte, die auch höhere Löhne rechtfertigen. Dies ist auch die beste Strategie gegen die besonderen Probleme, die gerade auf Sachsen-Anhalts Wirtschaft mit der EU-Erweiterung zukommen.

Deutschland insgesamt exportiert in die mittel- und osteuropäischen Staaten vorrangig humankapital- und technologieintensive Produkte und importiert eher arbeits-

und rohstoffintensive Waren mit geringerem Technologiegehalt. In Sachsen-Anhalt allerdings haben sich viele Firmen auf ein Marktsegment spezialisiert, das eher dem Angebotsspektrum von Unternehmen aus den Beitrittsländern entspricht. Hier bestehen besondere Probleme; denn hier schlagen die niedrigeren Löhne voll durch, wie das Beispiel KSR aus Magdeburg zeigt. Die Aufträge werden jetzt in Tschechien zur Hälfte des Preises abgewickelt.

Die Herausforderung der Wirtschaftspolitik lautet also, unsere Unternehmen in Wertschöpfungsketten mit technologieintensiven Produkten einzubinden. In dem Maße, in dem sich unsere Unternehmen schneller weiterentwickeln, technologie- und humankapitalintensive Produkte herstellen, wird der Druck der EU-Osterweiterung zumindest sinken. In diesem Sinne kann auch eine Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland sogar Sinn machen, nämlich dann, wenn sie die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen erhöht, indem sie dazu führt, dass das Kerngeschäft in Deutschland gestärkt und im Ausland neue Märkte erschlossen werden.

Unternehmern, die nur aus kurzsichtigem Gewinnstreben Arbeitsplätze verlagern wollen, sage ich: Nach dem westeuropäischen Wirtschafts- und Sozialmodell ist die Wirtschaft für den Menschen da und nicht umgekehrt. Wer diesen europäischen Grundkonsens aufkündigt, wird auch im erweiterten Europa langfristig nicht erfolgreich sein. Preise und Löhne werden sich spätestens nach der Einführung des Euro mittelfristig annähern.

Die Bundesregierung wird gemeinsam mit anderen betroffenen Staaten darauf hinwirken, dass das Steuerdumping in der EU aufhört.

(Zustimmung bei der SPD)

Wie heute schon bei der Mehrwertsteuer wird es über kurz oder lang auch bei der Körperschaft- und Einkommensteuer Korridore geben, in denen sich die EU-Länder bewegen können. Die Hoffnung auf kurzfristige Gewinne in einem regellosen Wettbewerb wird sich als Fehlkalkulation erweisen. Insoweit teile ich die von Herrn Robra heute erhobene Forderung nach einer europaweiten Harmonisierung der Unternehmenssteuern.

Sie haben in Ihrer Rede ausgeführt, die Adresse für Kritik sei Berlin. Daher muss ich Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass es die Bundes-CDU war, die sich gegen eine solche Harmonierung ausgesprochen hat. Jeder kehre zuerst vor seiner eigenen Haustür. Nur am Rande sei bemerkt: Wer sich auf dem Leipziger Parteitag als Steuersenkungspartei zu profilieren versucht, darf an anderer Stelle Steuerausfälle nicht beklagen.

Meine Damen und Herren! Mir ist schon am Montag beim Magdeburger Gespräch aufgefallen, dass die Landesregierung offensichtlich mit dem politischen Latein am Ende ist

(Widerspruch bei der CDU)

und nur noch die altbekannte Weise: „Schuld daran ist nur die SPD“ vorzutragen vermag.

(Beifall bei der SPD)

Dieses mag Ihnen hier im Landtag pflichtschuldigen Applaus eintragen. Die Menschen in Sachsen-Anhalt vermag es zunehmend nicht zu überzeugen.

Herr Robra, ich habe eben eine kleine Blitzumfrage gestartet: Der Fraktionsvorsitzende der CDU hat in seinem

Haushalt einen heilen und zwei defekte Computer. Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat vier heile Computer in seinem Haushalt. Der Fraktionsvorsitzende der CDU hat eine Tochter, der Fraktionsvorsitzende der SPD zwei Töchter. Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU hat eine Tochter, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD zwei. Wenn Sie also die Zahl der Computer pro Haushalt und die Zahl der Kinder kritisieren, dann kann ich Ihnen sagen: Gucken Sie einmal in Ihre Fraktion und bringen Sie die auf Vordermann.

(Unruhe bei und Zurufe von der CDU)

- Wenn das provoziert wird, dann muss ich doch reagieren. Das ist mir auch gelungen.

(Zuruf von der CDU)

- Das, was Herr Robra sagte, war auch nicht zum Thema.

Meine Damen und Herren! Natürlich weiß ich, dass sich viele Menschen nicht nur um die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch um die innere Sicherheit nach der Osterweiterung sorgen. In diesem Zusammenhang geschürte Ängste sind allerdings reine Panikmache. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass schon seit dem Fall des eisernen Vorhang die Grenzen offen sind. Die polizeiliche Lage verändert sich durch die Osterweiterung nicht grundlegend. Die Grenzkontrollen fallen ja auch nicht automatisch weg. Richtig ist vielmehr, dass aufgrund guter polizeilicher Arbeit die Ausländerkriminalität in den letzten zehn Jahren in Deutschland zurückgegangen ist.

Außerdem ist Kriminalität - wenn ich das bemerken darf - leider keine Einbahnstraße. Erst kürzlich musste ich in der Zeitung lesen, dass einige Vertreter einer Landtagsfraktion aus NRW beim Zigarettenschmuggel aus einem Beitrittsland erwischt wurden.

(Herr Tullner, CDU: Was?)

Ich will die Fraktion nicht nennen, aber SPD, CDU und Grüne waren es nicht.

(Heiterkeit bei der SPD und bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Aufgabe der Politik in Sachsen-Anhalt ist es, den speziellen Stärken unseres Bundeslandes im Erweiterungsprozess besonderes Gewicht zu verleihen. In 40 Jahren DDR waren wir eng mit den anderen Ostblockstaaten verbunden. Es hatten sich enge wirtschaftliche Beziehungen insbesondere zu Polen und zur Tschechoslowakei entwickelt.

Durch die Wiedervereinigung und die automatische Einbindung Ostdeutschlands in die EU sind leider viele dieser Verbindungen gekappt worden. Mit der Osterweiterung haben wir die besondere Chance, an diese alten Beziehungen wieder anzuknüpfen, und zwar auch unter Berücksichtigung der Erfahrungen, die wir nach der Wiedervereinigung gemacht haben. Ich kann nur alle Unternehmen bei uns auffordern, dieses Mal diejenigen zu sein, die die neuen Märkte zuerst suchen.

Meine Damen und Herren! Herr Robra hat die begleitenden Maßnahmen der Landespolitik ausführlich dargestellt und auch heute wieder die Bündelung der außenwirtschaftlichen Förderinstrumente, die Konzentration auf Schwerpunktregionen, die Messeförderung, Programme der Außenwirtschaftsförderung, Hilfen bei der Qualifizierung von Mitarbeitern sowie die Schaffung von Firmen

pools und außenwirtschaftlichen Netzwerken genannt. Wir werden als Opposition darüber wachen, ob sich diese Maßnahmen nicht nur in Regierungserklärungen und Sonntagsreden, sondern auch in praktischer Politik, insbesondere auch im Haushalt wiederfinden.

(Zustimmung bei der SPD)

Seit der Erfahrung der Mittelkürzung für das Kontaktbüro in Tallinn im Haushalt 2004 dürfen wir diesbezüglich berechtigten Zweifel haben. Ich hoffe, dass die Zusage, die Sie hier im Landtag gegeben haben, auch eingehalten wird. Sofern Sie die Europafähigkeit der Verwaltung verbessern wollen, sage ich Ihnen, machen Sie erst einmal unsere Landesverwaltung mitteldeutschlandfähig.

Meine Damen und Herren! Die Osterweiterung ist mehr als nur eine ökonomische Operation. Deshalb ist es gut, dass die Zuständigkeit für die interregionale Zusammenarbeit vom Wirtschaftsministerium in die Staatskanzlei wechseln wird. In der Staatskanzlei ist die Europapolitik nicht in der ständigen Gefahr, nur auf Wirtschaftspolitik reduziert zu werden. Das wäre auch falsch; denn die Osterweiterung bietet darüber hinaus eine Vielzahl von Herausforderungen, die weit über wirtschaftliche Fragen hinausgehen, die ich mit Rücksicht auf die Redezeit nur kurz skizzieren kann.

Der Prozess der Osterweiterung bietet die Chance, dass sich Deutsche und Bürger aus den Beitrittsländern noch eher auf Augenhöhe begegnen als bisher. Leider habe ich in den vergangenen Jahren nicht selten erleben müssen, dass sich manche Ostdeutsche gerade auch in Tschechien ähnlich überheblich aufgeführt haben, wie ich es in den 70er-Jahren bei Westdeutschen in Rumänien erlebt habe. Das ist nicht gut; denn für diese Überheblichkeit gibt es keinen Anlass.