Protocol of the Session on March 4, 2004

Die Familie mit nur einem Kind ist inzwischen der Regelfall und nicht, wie gewünscht, der Einzelfall. Noch be

denklicher stimmt das, wenn man das Ergebnis einer Bevölkerungsprognose für Sachsen-Anhalt berücksichtigt, laut der sich die Zahl der so genannten potenziellen Mütter im Zeitraum von 1999 bis 2015 um 30 % verringern wird.

Sehr geehrte Damen und Herren! Familien sind aufgrund der ständig steigenden Anforderungen insbesondere an die Erziehungsaufgabe mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. Der Charakter der Erziehungsaufgabe hat sich in unserer hochtechnologisierten und -entwickelten Gesellschaft verändert. Kinder müssen nicht mehr vorrangig vor Hunger und Kälte geschützt werden. Die Gefahren sind heute viel subtiler. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur einige Schlagworte wie mangelndes Sozialverhalten, Werteverlust, Bildungsnotstand und Generationenkonflikte, um das Konfliktpotenzial beschreiben.

Die Verantwortung für die heranwachsende Generation obliegt der gesamten Gesellschaft, aber vorrangig den Eltern, also der Familie, die den elementaren Schutz der Kinder übernehmen muss. Hier müssen wir ansetzen und unsere Politik dahin gehend gestalten, dass wir den Familien, zum Beispiel bei der Erziehung ihrer Kinder, helfend zur Seite stehen, ohne jedoch wesentliche Aufgaben aus der Hand der Eltern zu nehmen; denn das kann nicht unsere Intention sein. Die Kindererziehung wird weiterhin eine Hauptaufgabe der Familie bleiben. Wir müssen daher ein Konzept entwickeln, das den veränderten Strukturen gerecht wird.

Die aktuelle Entwicklung in Sachsen-Anhalt erfordert eine aktive, auf die Bedürfnisse von Familien abgestimmte Politik. Diese wichtige Erkenntnis, die auch die Studie „Zukunftschancen für junge Frauen und Familien in Sachsen-Anhalt“ bestätigen wird, wird künftig in einem aktiven familienpolitischen Leitbild aufgenommen werden. Gemeinsam mit den Familienverbänden und der Landesarbeitsgemeinschaft der Familienverbände des Landes Sachsen-Anhalt wird dieses familienpolitische Leitbild in naher Zukunft formuliert werden.

Ein weiteres Ziel unserer Familienpolitik ist es, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten und Chancengleichheit für Frauen, Männer und Alleinerziehende auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Die Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf für Mütter und Väter sowie eine gerechte Verteilung der Verantwortung und der Pflichten müssen gewährleistet sein.

Sachsen-Anhalt muss für junge Familien attraktiver werden. Zu einer guten Familienpolitik gehört deshalb auch eine auf Familienwerte ausgerichtete Jugendpolitik. Als Beitrag zur Familienpolitik muss die Jugendpolitik wieder Werte vermitteln, Eigenverantwortung stärken und Eigeninitiative, Selbständigkeit sowie das Engagement für die Gesellschaft fördern. Wir wollen das Verständnis der Jugend auch für die Familie stärken.

Sehr geehrte Damen und Herren! Familienpolitik betrifft aber nicht nur die jüngeren Generationen. Ohne junge Menschen, die sich um ihre Eltern kümmern, besteht für diese die Gefahr, im Alter zunehmend oder ausschließlich auf Hilfe von Menschen außerhalb der Familie, also von Fremden, angewiesen zu sein. Daher schließt Familienpolitik aus unserer Sicht auch ein, generationsübergreifend zu denken und zu handeln sowie generationsübergreifend Verantwortung zu übernehmen.

Die Erarbeitung eines familienpolitischen Konzeptes muss natürlich in der Verantwortung des Sozialminis

teriums liegen. Diese Aufgabe kann aber nicht allein vom Sozialministerium übernommen werden. Sie muss ministerienübergreifend erfolgen, damit auch solche Punkte wie zum Beispiel die Freizeitmöglichkeiten für Familien oder ein familienfreundliches Wohnumfeld in das familienpolitische Konzept mit einfließen können.

Der Minister hat Ihnen über den Stand der Erarbeitung eines familienpolitischen Konzeptes bereits berichtet. Wir halten es aufgrund der Wichtigkeit des Themas für notwendig, das Konzept nicht auf die in Ihrem Antrag formulierten Punkte zu beschränken. Wir wollen schon im Vorfeld ausführlich und umfassend in den Ausschüssen inhaltlich darüber diskutieren. Dies ist wichtig, um zu einem zukunftsorientierten und anpassungsfähigen familienpolitischen Konzept zu kommen.

Der Entwurf für ein familienpolitisches Leitbild wird im zweiten Quartal und der Bericht über die familienpolitischen Vorschläge im vierten Quartal des laufenden Jahres vorgelegt werden. Das schließt jedoch nicht aus, dass wir, wie oben erwähnt, im Vorfeld im Ausschuss darüber berichten und auch diskutieren. Das regen wir an.

Wir beantragen, Ihren Antrag in den Ausschuss für Gesundheit und Soziales sowie in den Ausschuss für Gleichstellung, Familie, Kinder, Jugend und Sport zu überweisen. In den Ausschüssen haben wir dann die Möglichkeit, ausführlich über das Konzept zu diskutieren. Auf die Diskussion über einige Punkte aus Ihrem Antrag bin ich besonders gespannt, vor allem auf die Diskussion über den Punkt, bei dem es darum geht, die Beteiligung von Vätern an Haus- und Familienaufgaben zu erhöhen. - Ich bedanke mich.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank, Frau Seifert. - Für die PDS-Fraktion erteile ich nun der Abgeordneten Frau Bull das Wort. Bitte sehr, Frau Bull.

Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion fordert ein „Sozialpolitisches Gesamtkonzept“. Genauer gesagt, fordert sie das ein, was der Herr Ministerpräsident Ende des vergangenen Jahres mit seinem gesamten Ministerpräsidentengewicht angekündigt hat.

Einen kleinen Schlagabtausch dazu haben wir bereits vor vier Wochen an derselben Stelle gehabt. Ich hatte Sie damals darum gebeten, noch einmal in die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD zu schauen. Ehe Sie jetzt blättern, sage ich Ihnen gleich: Darin steht nichts. Wir bekommen es erst am Ende der Legislaturperiode, meine Damen und Herren.

Am Ende der Legislaturperiode brauchen Sie das offensichtlich erst. Dazu muss aber gesagt werden, dass Sie bei den Dingen, die Ihnen wichtig waren, immer relativ schnell und überstürzt den Fuß auf dem Gaspedal gehabt haben.

Bemerkenswert, als hätten wir im Jahr 1998 nicht bereits unter den sachsen-anhaltinischen Haushalten eine Armutsquote von 18 % gehabt - wir haben das Jahr 2004, die nächste Einkommens- und Verbraucherstatistik steht ins Haus, und es ist an fünf Fingern abzählbar, wo die Armutsquote diesmal landen wird -, als hätten Sie nicht

mit dafür gesorgt, dass künftig, und zwar spätestens ab 2005, über 120 000 Langzeitarbeitslose in Sachsen-Anhalt, nämlich ehemalige Arbeitslosenhilfeempfänger und -empfängerinnen, nur noch de facto vom Existenzminimum leben müssen, als läge dieses Existenzminimum, meine Damen und Herren, das Expertinnen und Experten der Sozialwissenschaften bereits seit zehn Jahren als unterfinanziert klassifizieren, nicht bereits jetzt unter der 60-Prozent-Marke des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens, als wären Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger sowie jetzige und künftige Langzeitarbeitslose nicht auch noch dazu verknackt, die zusätzlichen Belastungen durch die Gesundheitsreform von eben diesem Existenzminimum abzuknapsen, als wäre die Sozialhilfequote bei allein erziehenden Frauen mit über 7 % nicht die höchste im Vergleich zu allen anderen Bevölkerungsgruppen, als wäre in Sachsen-Anhalt nicht bereits im Jahr 1998 jeder zehnte Haushalt nicht ver-, sondern überschuldet und als stünde die soziale Herkunft in Deutschland nicht wie kaum in einem anderen Land in so verhängnisvoller Weise im Zusammenhang mit Bildungsmöglichkeiten.

Was war Ihre Antwort darauf? - Den Betroffenen ihre Eckregelsätze einzufrieren, um die Kommunen für die Kürzung ihrer Finanzen zu entschädigen, die Betroffenen auch noch für die notwendigen Bildungsressourcen für ihre Kinder zahlen zu lassen und sich an so genannten Sozialreformen zu beteiligen, die der Einkommenssituation von Arbeitslosen, insbesondere von Langzeitarbeitslosen und nicht Erwerbsfähigen, von Kranken und von behinderten Menschen auch noch förmlich das Wasser abgraben.

(Zustimmung von Herrn Dr. Eckert, PDS, und von Herrn Dr. Köck, PDS)

Ausgerechnet den Kindern aus diesem Kreis ist der Rechtsanspruch auf Bildung in einer Kindertagesstätte zusammengestrichen worden. Mutig, mutig, meine Damen und Herren. Sozialpolitische Innovation für Deutschland?

(Zuruf von Herrn Kehl, FDP)

Dazu kann ich nur sagen: Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. Statt das angekündigte sozialpolitische Gesamtkonzept vorzulegen, droht der Ministerpräsident nun mit der Allianz der Realisten.

Meine Damen und Herren! Allianzen verheißen selten etwas Gutes. Eine gesunde Portion Misstrauen ist angesagt. Wer darf denn dieser Allianz nun beitreten, wer darf denn dazugehören, wenn ich mal fragen darf? - Diejenigen, die den weisen Ratschlägen und Richtlinien aus dem Ministerpräsidenten-Ohrensessel unaufmüpfig Folge leisten, allein seine Einschätzung der Dinge und Perspektiven teilen? - Ihr paternalistisches Gehabe, Ihr paternalistischer Habitus, Herr Professor, hat, mit Verlaub gesagt, an manchen Stellen wenig mit modernem politischen und demokratischen Agieren zu tun. - Was ist nun stattdessen angesagt, meine Damen und Herren?

Zum Ersten bedarf es natürlich Rahmenbedingungen, damit sich betroffene Menschen durch eigene Kompensationsmöglichkeiten ihrer eigenen Situation stellen und möglichst aus eigener Kraft aus dieser Situation herausfinden. Das können Sie dann meinethalben durchaus auch als Hilfe zur Selbsthilfe bezeichnen.

Aber dazu gehören auch - das ist gerade an die liberalen Mitdenkerinnen und Mitdenker unter uns adressiert -

Kompensationsmöglichkeiten des Staates und der öffentlichen Hand. Hilfe zur Selbsthilfe ist nicht zum Nulltarif möglich. Dazu ist eine bedarfsgerechte Grundsicherung nötig, die ein Mindestmaß an Teilhabe an den sozialen und kulturellen Ressourcen möglich macht.

Das geht natürlich nicht auf einmal, keine Frage. Dabei kann man sehr wohl auch über Prioritäten verhandeln, sich verständigen. Man kann auch darüber nachdenken, diejenigen, denen es finanziell über die Maßen gut geht, unter Umständen an Beiträgen, Gebühren und anderen finanziellen Eigenleistungen stärker zu beteiligen. Beispielsweise ist die Reform des Kindertagesstättengesetzes in Berlin mit dieser Diskussion angeschoben und realisiert worden.

Dazu gehört auch die Frage, ob nicht an anderer Stelle ausreichend Geld zum Fenster hinausgeworfen wird oder möglicherweise, um es ein bisschen diplomatischer zu formulieren, anderweitig völlig uneffektiv verbraucht wird. Die Nullnummer mit der Gebiets- und Funktionalreform will ich nicht ein weiteres Mal belasten, aber ich habe ein anderes kleines Beispiel.

Ich brauchte Aussagen zur wirtschaftlichen Situation von Familien in Sachsen-Anhalt. Aussagen dazu finden Sie in vier unregelmäßigen und damit auch unsystematisch aufeinander folgenden Studien und Berichten, meine Damen und Herren. Sie finden sie im Bericht zur Lage der Familien, Sie finden sie im Armuts- und Reichtumsbericht von Sachsen-Anhalt, Sie finden sie im GenderReport und Sie finden sie im Arbeitsmarkt- und Sozialbericht. Eine weitere Studie, die wahrscheinlich dieses Thema auch streifen wird, ist heute angekündigt worden.

Es muss doch mit Sicherheit möglich sein, meinethalben alle zwei, drei Jahre, meine Damen und Herren, eine größere statistische Erhebung zu realisieren und aufgrund dieser Datenbasis Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Ministerium - das ist zwar umstritten - oder auch Externe um die Auswertung zu bitten. Aber fünf Studien unregelmäßig und unsystematisch mit solch großen analytischen Schnittmengen erstellen zu lassen, das ist ein Stück weit auch Geld zum Fenster hinausgeschmissen.

(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren! Die Bekämpfung von Armut in all ihren multikausalen Ursachen und Dimensionen ist vor allem, aber eben nicht nur eine moralische und eine ethische Frage; es ist auch eine gesellschaftliche Frage. In einer Gesellschaft, in der einem beachtlichen Teil - das ist momentan fast jeder fünfte Haushalt - entscheidende soziale und kulturell begehrte Güter und Ressourcen vorenthalten bleiben - so wird die relative Armut in der Fachwelt beschrieben -, in einer solchen Gesellschaft wird es immer weniger Platz für Innovationen jeglicher Art geben. In einer solchen Gesellschaft ist kein Platz für ein geistig und mental liberales Klima, für Toleranz und Mitmenschlichkeit.

Neben den Betroffenen selbst, meine Damen und Herren, sind es vor allem Demokratie und Freiheit, die unter einem solchen Gesellschaftskonzept leiden. Eine Gesellschaft mit zunehmender Polarisation und wachsendem sozialen Sprengstoff ist der ideale Nährboden für autoritäre und auch konservative Wünsche und Gedankenspiele, die, meine Damen und Herren, nicht nur am Stammtisch ihrer Väter zu haben sind und die auch noch nie Motor für wirklich moderne Entwicklungen waren.

(Lebhafter Beifall bei der PDS)

Vielen Dank, Frau Bull. - Für die CDU-Fraktion erteile ich nun der Abgeordneten Frau Liebrecht das Wort. Bitte sehr, Frau Liebrecht.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Der Sozialstaat ist nicht nur im Wandel, er ist im Umbruch. Die Koordinaten unseres Sozialstaates sind durcheinander geraten, sodass unsere Sicherungssysteme für die verschiedenen Lebensrisiken zukünftig nicht mehr in der gewünschten Form greifen werden. Hauptursachen hierfür sind die demografische Entwicklung mit ihrer besonderen Ausprägung in SachsenAnhalt sowie der Wandel der Arbeitswelt mit der damit einhergehenden anhaltend hohen Arbeitslosigkeit.

Diese Entwicklung, gepaart mit den dramatischen Steuerausfällen, hat Deutschland, aber auch Sachsen-Anhalt zu einem Sanierungsfall gemacht. Nicht nur die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland sind in eine gefährliche Schieflage geraten, auch in den Kassen der Kommunen klaffen große Löcher.

Ich habe bereits in einer früheren Debatte erklärt, dass eine Reform unserer sozialen Sicherungssysteme insgesamt unvermeidlich ist. Diese Reform muss sich an den Kriterien der Verlässlichkeit, Transparenz und Dauerhaftigkeit messen lassen, damit sie die erforderliche Akzeptanz der Menschen in unserem Land findet.

Für die CDU ist dabei klar, dass die Reform der sozialen Sicherungssysteme nicht über eine Ausweitung der Beitragsleistungen erfolgen kann. Das hätte nur eine Steigerung der Lohnkosten und damit eine höhere Arbeitslosigkeit zur Folge.

Ich könnte es mir jetzt einfach machen und aus der Sicht meiner Partei die verfehlte Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung und ihre Folgen für Sachsen-Anhalt anprangern. Anlass gäbe es genug. Genau dieser Versuchung will ich nicht erliegen. Die Probleme sind zu groß

(Zuruf von Frau Bull, PDS)

und das Thema ist zu wichtig, um es durch politisches Taktieren zu diskreditieren.

(Zuruf von Herrn Dr. Eckert, PDS)

Ich verkneife mir deshalb auch, auf die eine oder andere polemische Bemerkung meiner Vorrednerin einzugehen.

(Zustimmung bei der CDU)

In die Debatte um die Reform des Sozialstaates müssen alle Ebenen eingebunden werden. Insbesondere gehören dazu Bund, Länder und Kommunen. Aus meiner Sicht sollte sich daher das sozialpolitische Konzept der Landesregierung darauf konzentrieren, was das Land im Rahmen seiner Zuständigkeit zu diesem Reformprozess beitragen kann. Hierzu - um das nur am Rande einzuschieben - gehört natürlich auch die Schaffung der Rahmenbedingungen, die es den Kommunen ermöglichen, ihren Beitrag zum Reformprozess auf der kommunalen Ebene zu leisten.

(Zustimmung von Frau Theil, PDS)

Im Hinblick auf die Hauptursachen für die Erosion der sozialen Sicherungssysteme wird es die vordringliche Aufgabe der Landesregierung sein, Fortschritte auf dem