Protocol of the Session on July 4, 2003

Die Bundesrepublik steht unseres Erachtens in der Pflicht dazu; denn sie gehört zu den Mitbegründern der Europäischen Gemeinschaft. Politikerinnen und Politiker aller Parteien engagieren sich auf der europäischen Ebene und waren maßgeblich an der Erarbeitung des Verfassungsentwurfs beteiligt - sicherlich mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen über die Gestaltung der Europäischen Gemeinschaft, aber immer für diese Gemeinschaft.

Die Europawahlen 2004 könnten mit einem entsprechenden Volksentscheid gekoppelt werden. Dies hätte nicht nur den Vorteil, dass es relativ kostengünstig wäre, sondern auch den, dass wir gezwungen sind, mit dem Verfassungsentwurf zu arbeiten, ihn in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu stellen und seine Vor- und Nachteile nicht nur hinter geschlossenen Türen abzuwägen. Europa könnte so ein klein wenig transparenter werden.

Die Feststellung der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, dass die Komplexität des Gegenstandes zu groß sei und deshalb ein Referendum, bei dem man nur zustimmen oder ablehnen kann, schwierig sei, zeugt meines Erachtens nicht gerade von politischer Größe. Abgesehen davon, dass parlamentarische Entscheidungen letztlich auf denselben Entscheidungsmodus, nämlich für oder gegen ein Gesetz zu votieren, hinauslaufen, zeigen die Erfahrungen in anderen, auch europäischen Staaten, deren Verfassungen Formen direkter Bürgerbeteiligung enthalten, dass auch schwierige und komplexe Sachverhalte durch die Bürgerinnen und Bürger sachgerecht beurteilt und entschieden werden können.

Gerade der europäische Integrationsprozess hat wie keine andere spezifische Sachfrage der Welt viele Referenden und individuelle Abstimmungshandlungen ausgelöst. In insgesamt 30 Fällen haben seit 1972 mehr

als 160 Millionen Europäerinnen und Europäer in elf Ländern und zwei autonomen Regionen den europäischen Integrationsprozess direkt mitbestimmen können. In den künftigen Mitgliedsstaaten finden gegenwärtig Referenden zum Beitritt zur EU statt.

Warum also sollten die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik nicht den gleichen Sachverstand haben wie die Bürgerinnen Frankreichs oder Polens? Eine entsprechende Ergänzung des Grundgesetzes wäre so auch ein Schritt zu mehr europäischer Gemeinsamkeit.

Außerdem besagen die europäischen Erfahrungen, dass sich im Schnitt mehr als zwei Drittel der Stimmberechtigten - rund 70 % - an den Europa-Referenden beteiligen. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gingen dagegen im Durchschnitt nur knapp 56 % der Stimmberechtigten zu den Wahlurnen. Direkte Demokratie kommt also bei den Bürgerinnen und Bürgern an. Sie wollen an der Wahlurne nicht nur Stellvertreterinnen wählen, sondern über Sachthemen entscheiden.

Wie bereits gesagt, unterstützt die PDS alle Bemühungen, die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. In den vergangenen Jahren wurden diese Beteiligungsrechte auf Länderebene ausgebaut. Auch hierbei sind die Erfahrungen positiv. In allen Ländern der Bundesrepublik gibt es die Möglichkeit des Volksentscheids. Dieses bewährte Verfahren muss auch auf der Bundesebene seinen Platz haben.

Föderalismus und direkte Demokratie schließen sich nicht aus, sondern sie ergänzen sich, und die Erfahrungen zeigen, dass Bürgerinnen und Bürger zu dezentralen Lösungen tendieren. Sicher, zusätzliche Beteiligungsrechte bringen ein Mehr an Arbeit für die Parlamente und für die Verwaltung, aber auch ein Mehr an Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger bei der Entscheidung wichtiger Sachfragen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat in seiner Mehrheit den Europäischen Verfassungskonvent begrüßt. Im nächsten Tagesordnungspunkt werden wir uns kurz und knapp auch zu Inhalten verständigen. Nun liegt es auch an uns, ob die Bürgerinnen und Bürger Sachsen-Anhalts eine Beziehung zu Europa finden. Ein Referendum, wie von der FDP vorgeschlagen, in Verbindung mit dem Europawahlen 2004 könnte dazu beitragen.

(Beifall bei der PDS und bei der FDP)

Vielen Dank, Frau Dr. Klein. - Bevor wir in die Debatte der Fraktionen eintreten, meine Damen und Herren, hat zunächst für die Landesregierung Herr Staatsminister Robra um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Staatsminister.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich bitte Sie zunächst noch einmal um Entschuldigung, dass ich den an europapolitischen Fragen interessierten Abgeordneten zugemutet habe, dass dieses Thema an das Ende Tagesordnung gerückt wird. Der Vizepräsident des Landtages a. D. Walter Remmers hat von der juristischen Fakultät in Halle die Ehrendoktorwürde verliehen bekommen und ich durfte das Grußwort halten. Das war das ganze Geheimnis meiner Abwesenheit. Ich bitte nochmals um Verständnis und zugleich um Entschuldigung.

Die Entscheidung der Frage, ob es sich empfiehlt, zur Ratifikation der EU-Verfassung ein Plebiszit durchzuführen, ist zweifellos schwierig. Sie wird nahezu unlösbar, verehrte Frau Abgeordnete Dr. Klein, wenn man alle plebiszitären Elemente, alle Streitpunkte um Plebiszite, die in diesem Landtag, nicht zuletzt bei der Entscheidung über die Landesverfassung vor vielen Jahren, diskutiert worden sind, auf dieses Thema aufsattelt.

Wenn man sich ernsthaft mit den Erfolgsaussichten für die gegebenenfalls auch erforderlichen Gesetzesänderungen auseinander setzen will, dann bitte ganz konzentriert, beschränkt auf den Teilkomplex eines etwaigen Referendums für die EU-Verfassung.

Wie außerordentlich polyvalent das ist, mag man daran erkennen, dass wir ein denkbar breit gespanntes Spektrum von Meinungen haben. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber beispielsweise, sonst nicht unbedingt als Verfechter plebiszitärer Elemente bekannt, hat sich für ein Referendum ausgesprochen. Seine eigene Partei, die CSU, folgt ihm, wenn überhaupt, allenfalls schleppend.

(Zustimmung bei der CDU)

Die PDS ist dafür, die FDP ist dafür. Ich persönlich habe erhebliche Zweifel, ob es wirklich vernünftig ist, das zu tun; denn wir haben in der Bundesrepublik Deutschland - man mag das befürworten oder auch nicht - keinerlei praktische Erfahrung mit der Durchführung von Plebisziten auf so hohem Niveau.

(Zuruf von Herrn Gallert, PDS)

Deswegen halte ich auch das Argument der Bundesjustizministerin Zypries - um auch noch in diese Richtung zu blicken -, dass es schwer sei, bei einer Frage von so hoher Komplexität im Vorfeld zu einem vernünftigen Meinungsaustausch mit den Bürgerinnen und Bürgern zu kommen und das Ganze dann noch auf eine Ja-NeinFrage zu reduzieren, für ganz beachtlich.

Ich bin mir allerdings auch nicht sicher, ob wir schon in der Lage sind, mit letzter Sicherheit darüber zu entscheiden, ob ein solches Referendum wirklich sinnvoll ist. Wir kennen - wir werden im nächsten Tagesordnungspunkt etwas spezifizierter darauf eingehen - den Teil III des Entwurfs des Verfassungsvertrages bisher noch nicht. Dabei geht es um die Einzelermächtigungen zu den Fachpolitiken, die zum Teil auch noch kontrovers sind. Das sind immerhin 339 der insgesamt 460 Artikel, über die dereinst im Plebiszit entschieden werden müsste. Dann stellt sich schon die Frage, wie, bitte schön, derjenige entscheiden soll, der in seinem spezifischen fachpolitischen Interesse beispielsweise bei Artikel 379 oder 385 oder wo auch immer dezidiert anderer Auffassung ist. Stimmt er dann mit Nein oder stimmt er mit Rücksicht auf das insgesamt sehr große und beachtliche Werk gleichwohl mit Ja? Das sind alles Fragen, die man sehr sorgfältig wird abwägen müssen.

In diesem Zusammenhang wird auch abzuwägen sein, und zwar im Wesentlichen bei denjenigen, die ein solches Referendum befürworten, ob das eher den Charakter einer Volksbefragung haben soll oder aber den eines Ratifikationselements, mit dessen Ausgang die Annahme der Verfassung in Deutschland steht und fällt. Weil wir keine Erfahrung auf diesem Feld haben, wissen wir alle nicht, wie groß eine etwaige Beteiligung sein wird. Wir wissen alle nicht, wie die Leute überhaupt darauf reagieren werden, wenn sie an der Wahlurne stehen und mit einem so komplexen Thema reduziert auf die Frage

„Bist du dafür oder bis du dagegen?“ konfrontiert werden sollten.

Also kurzum, es gibt eine ganze Reihe von Detailaspekten, mit denen man sich sehr ernsthaft wird auseinander setzen müssen und bei denen man insbesondere auch die sehr spezifischen Verfassungstraditionen in Deutschland wird berücksichtigen müssen.

Insofern verfangen Hinweise auf die skandinavischen Länder wenig. Die Skandinavier sind das gewöhnt. Wann immer sie bisher staatliche Hoheitsbefugnisse an die europäische Ebene delegiert haben, hat es immer schon Plebiszite gegeben. Das ist ein eingespieltes Verfahren, ein ganz anderes System. Es hilft in diesem speziellen Falle nicht sonderlich weiter, über die Grenzen zu gucken, sondern wir werden das sehr eingehend und in dem vollen Bewusstsein, dass eine Verfassungsänderung dann am Ende, so sie nötig werden sollte, einer Zwei-Drittel-Mehrheit bedarf, zu diskutieren haben. - Danke.

(Zustimmung bei der CDU)

Herr Staatsminister, sind Sie bereit, eine Anfrage des Kollegen Gallert zu beantworten? - Bitte sehr, Herr Gallert.

Herr Robra, gleich zwei Fragen hintereinander.

Erstens. Halten Sie das Argument „Wir sind nicht dafür, weil wir so etwas nicht gewöhnt sind“ eigentlich für eine reformfreudige Landesregierung für ein gutes Argument?

Herr Gallert, wenn Sie bereit sind, das Risiko in Kauf zu nehmen, dass wir uns mangels jeglicher Erfahrung in einem solchen Referendum in eine Blackbox begeben, dann bitte schön. Ich bin da wesentlicher sorgfältiger in der Abwägung. Es ist ein Gesichtspunkt, den man wird prüfen müssen, ob wir diese Frage, die eine internationale Dimension hat - da geht es ja, um das Thema von vorhin zu nehmen, nicht um die Frage, ob wir Lärmschutzwände an den Autobahnen haben wollen -, zu einem Referendumsthema machen wollen.

Aber wenn sich Deutschland mit einem solchen Referendum blamiert, zum Beispiel weil nicht genug hingehen, und von denen, die hingehen, zu viele anders abstimmen als die große Mehrheit im Landtag es sich wünscht, wie stehen wir denn dann am Ende da? Bedenke das Ende. Das, bitte schön, muss man hierbei sehen. Wir können über alle die Fragen rund um Plebiszite gern immer wieder aufs Neue diskutieren. Der Landtag hat eine gewisse Tradition darin. Aber an dieser Stelle halte ich es für verfehlt, das sozusagen mit all diesen Sonderaspekten zu betrachten.

Das ist nicht gerade das Bild eines mündigen Bürgers, das Sie da vermitteln. Aber das soll jetzt nicht im eigentlichen Sinn mein Thema sein. Sie sagten: Und außerdem haben wir ein Problem damit, diese ganze Geschichte nachher auf eine Ja-Nein-Entscheidung zu reduzieren.

Herr Staatsminister, ist nicht jede Abstimmung, die ein Abgeordneter oder irgendeine politische Delegation macht, letztlich auch eine Reduktion auf ein Ja oder Nein?

Ja. Nur, Herr Abgeordneter, wenn Sie Ihre eigene Geschäftsordnung betrachten,

(Zuruf von Herrn Gallert, PDS)

behandeln Sie nicht jeden Paragrafen oder Abschnitt differenziert und entscheiden erst am Ende, ob Sie insgesamt

(Herr Gallert, PDS: Dafür gibt es eine Endab- stimmung!)

Ja oder Nein sagen? Das muss man nun einmal sehen. Unsere Bürgerinnen und Bürger waren an dem Verfassungsgebungsprozess nicht beteiligt. Sie haben am Ende in der Tat nur die Frage: Ja oder Nein. Dazwischen wird es nicht allzu viel Spielraum geben.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Meine Damen und Herren! Für die FDP-Fraktion erteile ich der Abgeordneten Frau Röder das Wort. Bitte sehr, Frau Röder.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Erklärung des Europäischen Rates von Laeken am 15. Dezember 2001 wurde der Konvent für die Zukunft Europas eingesetzt und beauftragt, den Weg hin zu einer Verfassung für die europäischen Bürger zu entwickeln. Diese Verfassung soll den bisher geltenden Vertrag von Nizza ablösen und wichtige Reformziele der Union, insbesondere eine bessere Verteilung der Aufgaben, eine Abgrenzung der Zuständigkeiten, eine Vereinfachung der Instrumente, eine Verbesserung der Demokratie, der Transparenz und der Effizienz innerhalb der EU verwirklichen.

Mit der Konventsmethode selbst ist erstmals ein offener und transparenter Weg der Vertragsreform gewählt worden. Die Bürger haben stärker als bei früheren Reformen die Möglichkeit, sich an den Reformdiskussionen zu beteiligen und Anregungen oder Kritik vorzubringen.

Dessen ungeachtet ist es aus der Sicht der FDP-Fraktion nötig, weitere Schritte zu tun, um eine gemeinsame demokratische und politische Kultur in Europa zu gestalten. Der Forderung nach mehr Bürgernähe und Transparenz in der EU müssen jetzt konkrete Schritte folgen.

Die Europäische Union steht heute im Begriff, eine Verfassung zu verabschieden. Diese Entscheidung ist die grundlegendste aller politischen Entscheidungen. In einer Verfassung verständigen sich die Bürger über Inhalt, Grenzen, Organisation, Ausgestaltung und Verteilung politischer Macht. Zu den Inhalten des Entwurfs äußere ich mich an dieser Stelle nicht. Das macht der Kollege Kosmehl bei der Behandlung des nächsten Tagesordnungspunktes.

Wenn die Europäische Union in Zukunft nicht mehr nur eine Union der Staaten, sondern eine Union der Bürger sein soll, dann wäre ein Verfassungstext ohne eine

ausdrückliche Zustimmung der Bürger aus der Sicht der FDP-Fraktion nicht ausreichend legitimiert.

(Beifall bei der FDP)

Nur wenn den Bürgern ein echtes Mitwirkungsrecht zur Verfügung steht, dann wird es gelingen, sie in den weiteren Integrationsprozess einzubinden, sie auf dem Weg mitzunehmen und sie für die Europäische Union zu begeistern.

(Zustimmung bei der PDS)

Hinsichtlich des Argumentes, dass der Verfassungsentwurf sehr komplex sei, dass man das auf eine einfache Ja-Nein-Entscheidung reduzieren würde und dass die Abschnitte III und IV des Vertrages noch kommen würden, denke ich, dass die Bundesregierung, wenn sie wüsste, dass ein Referendum auf Bundesebene abgehalten werden würde, gezwungen wäre,

(Frau Bull, PDS: So ist es!)