Protocol of the Session on April 11, 2017

Lutz Rathenow und seinen Mitarbeitern. Ich sage Ihnen herzlichen Dank für Ihre Arbeit und Ihre intensiven Bemühungen um die Opfer des SED-Unrechts.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und der SPD)

Meine Damen und Herren! Die Fraktion DIE LINKE hat jetzt das Wort. Herr Abg. Schultze, bitte.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute den 23. und 24. Tätigkeitsbericht des Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Sie umfassen die Jahre 2014, 2015 und 2016.

(Frank Kupfer, CDU: Das ist so weit richtig!)

Haben Sie jetzt vor, jeden Satz zu bestätigen? Dann würde ich langsamer lesen.

Die Unterrichtung der Abgeordneten des Sächsischen Landtags durch den Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes gehorcht mittlerweile einer gewissen Routine, und zwar einer Routine auf beiden Seiten. Das ist gar nicht abwertend gemeint. Die Berichterstattung und die Befassung im Landtag verdeutlichen eine gewisse Normalität in der Tätigkeit des Landesbeauftragten. Spektakuläre Ereignisse bzw. Vorkommnisse sind nicht zu verzeichnen. Es sind die Mühen der alltäglichen Arbeit, mit denen der Landesbeauftragte zu kämpfen und in denen er sich zu bewähren hat. Es gilt erst recht, die Situation der Behörde nach der Verabschiedung des sogenannten Landesbeauftragtengesetzes durch die Mehrheit des Sächsischen Landtags im vergangenen Jahr anzuschauen. Im Gesetz wurde der Aufgabenkreis des Beauftragten für die Stasi-Unterlagen erweitert und seine Rechtsstellung verbessert.

Meine Fraktion hatte vor allem den erweiterten Bildungsauftrag kritisiert, weil damit Doppelstrukturen geschaffen werden und Überschneidungen mit anderen Einrichtungen zustandekommen. Den Bildungsauftrag erfüllen hierzulande die Landeszentrale für politische Bildung und die Gedenkstätten. Der Landesbeauftragte selbst hat eingeräumt, mit der Aufgabenerweiterung personell überfordert zu sein. Dass sich die Personalsituation nicht gebessert hat, klingt ein wenig versteckt in einer Passage des Tätigkeitberichts 2015/2016 an, in der es um die Zusammenarbeit mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten geht. Ich zitiere: „Über die Arbeit der Stiftung berichtete diese selbst. Aus Sicht des Landesbeauftragten geschieht dies auf der Homepage und in regelmäßigen Newsletters überzeugend. Der Landesbeauftragte will und kann nicht einzelne, immer wieder vorgetragene Problempunkte bewerten, aber ein Zusammenhang ist ihm aus seiner jahrelangen Mitarbeit im Stiftungsrat offensichtlich.“

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

„Die personell ausreichende Besetzung der Geschäftsstelle scheint eine Grundvoraussetzung zu sein, eine so ambitionierte und wichtige Stiftung aktions- und problemlösefähig zu halten. Das würde auch die Arbeit des Landesbeauftragten unterstützen.“ Mit anderen Worten: Der Landesbeauftragte möchte gern so ambitioniert, aktions- und problemlösefähig wie die Stiftung Sächsische Gedenkstätten arbeiten, kann es aber nicht, weil ihm das dafür nötige Personal fehlt.

An dieser Stelle sei mir ein Wort über die Stiftung sächsische Gedenkstätten erlaubt, zu deren Zusammenarbeit sich der Landesbeauftragte in seinem Tätigkeitsbericht wie folgt äußert: „Die Zusammenarbeit und Kooperation mit Gedenkstätten und mit der Stiftung sächsische Gedenkstätten hat wie bisher einen hohen Stellenwert in der Arbeit des Landesbeauftragten. Mit der Gedenkstätte ‚Geschlossener Jugendwerkhof Torgau‘ und der Gedenkstätte ‚Bautzner Straße‘ konnte eine Reihe von gemeinsamen Veranstaltungen realisiert werden. Mit der Gedenkstätte Bautzen wurde ein Kooperation für den Tag des offenen Denkmals geschlossen. Insbesondere durch die Mitgliedschaft im Stiftungsrat der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft war der Landesbeauftragte in die Arbeit der Stiftung und damit mittelbar in die der Gedenkstätten eingebunden. In Einzelfällen konnten auch Forschungsvorhaben von Gedenkstätten durch Landesbeauftragte gefördert werden.“

Der Landesbeauftragte ist Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung sächsische Gedenkstätten. Dass es Querelen in der Stiftung gibt, weshalb die Stiftung einer Evaluierung unterzogen werden wird, dazu hätte man sich doch ein Wort im Tätigkeitsbericht gewünscht. So viel berechtigte Kritik an der Arbeit der Stiftung kann doch nicht einfach ignoriert werden! Das tangiert auch die Arbeit des Lan

desbeauftragten, der immerhin im Stiftungsrat vertreten ist und die Tätigkeit der Stiftung mit zu verantworten hat. Insoweit ist es dann doch nicht „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Wir sind gespannt auf die zukünftigen Berichte und werden diesen Bericht zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei den LINKEN)

Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion erhält jetzt das Wort. Frau Abg. Kliese, bitte.

(Unruhe – Glocke des Präsidenten)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diesem wichtigen Thema sollten wir auch zu dieser späten Stunde noch etwas Zeit und Aufmerksamkeit widmen, denn in dem Bericht steckt viel Arbeit mit wichtigen Personengruppen.

Weniger als 20 % der Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen wissen, wer Walter Ulbricht war – so weit, so defizitär. Doch wissen Sie, wer Georg Dertinger war? Ich schaue einmal in Richtung der LINKEN; Klaus Bartl weiß das vielleicht.

(Lachen bei der AfD)

Georg Dertinger war Abgeordneter der Volkskammer und erster Minister für Auswärtige Angelegenheiten in der DDR. Er fiel in Ungnade und wurde – gleichsam als Solidaritätsbeitrag zu Stalins Schauprozessen – wegen sogenannter Boykotthetze zu acht Jahren Haft verurteilt. Ebenso verurteilt wurden seine Frau und sein 15 Jahre alter Sohn Rudolf. Nicht verhaftet wurde der kleinste Sohn Christian Dertinger; er war damals neun Jahre alt. Christian Dertinger kam in eine linientreue Familie. Diese Familie nahm ihn sehr liebevoll auf. Er bekam einen neuen Namen, seine neuen Eltern nannte er Tante Lieschen und Onkel Emil. Zu seiner leiblichen Mutter konnte er keinen Kontakt mehr haben. Acht Jahre später wurde die Mutter aus der Haft entlassen. Für Christian Dertinger war sie eine fremde Frau geworden. Dennoch wird er zurück zu seiner leiblichen Mutter geschickt. Die Eltern, die ihn annahmen, verkraften das nicht. Tante Lieschen, die ihn aufnahm, verstirbt angesichts dieses Schicksalsschlages und Onkel Emil nimmt sich daraufhin das Leben.

So viele Geschichten, so viele zerstörte Leben. Auch ich wusste bis vor Kurzem nicht, wer Georg Dertinger war. Seine bewegende Geschichte hörte ich erstmals auf einer Veranstaltung des Ministerpräsidenten im Juni vergangenen Jahres zur Würdigung der Opfer der SBZ und DDR in einer Ansprache des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Lutz Rathenow.

Ich möchte die Aussprache nutzen, mich für die Rede und die Veranstaltung durch die Staatskanzlei zu bedanken. Sie hat gerade den betagten Opfern sehr viel bedeutet. Scheuen Sie den beachtlichen Aufwand nicht, eine solche Würdigung regelmäßig vorzunehmen!

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und vereinzelt bei der CDU und den LINKEN)

Der vorliegende Tätigkeitsbericht gibt auch dieses Mal einen breiten Überblick über die vielfältigen Aufgabenfelder, die wir nun auch noch erweitert haben. Für diese Erweiterung haben wir übrigens zwei Personalstellen im Haushalt neu geschaffen. Der Kollege von den LINKEN, der vorhin vorgetragen hat, ist vermutlich nicht der Fachsprecher, aber diese Aussage war nicht ganz richtig. Wir haben ganze zwei Stellen dafür geschaffen. Es gibt also mehr Personal für das erweiterte Aufgabentableau.

(Zurufe von den LINKEN: Das ist doch nicht ausreichend!)

Ich möchte exemplarisch zwei Themen aus dem diesjährigen Bericht, der für mich alles andere als Routine ist, herausgreifen, die mir besonders nahe gingen und mir besonders wichtig erscheinen. Zum einen wäre das die Projektarbeit im Rahmen eines Theaterstücks. Hier wurde versucht, mittels eines Theaterstücks die Manipulation der Medien in der DDR abzubilden.

Die Rückmeldungen dazu, teilweise auch sehr kritische, die in dem Bericht erwähnt sind, zeigen ein Bild, das sich mit meinen aktuellen Beobachtungen zu unserer Gesellschaft deckt. Wir erleben derzeit eine große Diskrepanz zwischen persönlichen Erinnerungen aus der DDR-Zeit, die mit wachsender Unzufriedenheit mit unserem gegenwärtigen Alltag immer positiver werden, und den Berichten unserer Zeitzeugen aus dem Bereich der politisch Verfolgten.

Es wird eine große Herausforderung der Erinnerungsarbeit der kommenden Jahre sein, dieses Spannungsfeld zu entladen und einen differenzierten wie sensiblen Weg zu finden, die Leidensgeschichten der Opfer als Teil des DDR-Alltags abzubilden, ohne den Eindruck zu erwecken, anderen ihre Lebensleistung abzusprechen. Die Tatsache, dass nur ein Bruchteil der einstigen DDRBürger Repressionserfahrungen gemacht hat, und die Unzufriedenheit mit unserem derzeitigen politischen System stellen uns vor große Aufgaben.

Deshalb möchte ich an Sie appellieren, egal, wie und ob Sie die DDR erlebt haben: Nutzen Sie die Möglichkeit, sich über die Lebensgeschichten politisch Verfolgter zu informieren! Eine gute Möglichkeit dazu bietet die neueste Publikation von Dr. Nancy Aris, die Geschichten von Opfern politischer Gewalt in der SBZ und der DDR gesammelt und aufgeschrieben hat. Der Titel des Buches lautet: „Das lässt einen nicht mehr los“. Auch mich lassen viele dieser Geschichten nicht mehr los, obwohl ich sie nicht selbst erlebt, sondern nur erzählt bekommen habe, so wie die eingangs erwähnte Geschichte von Christian Dertinger, der erst seiner leiblichen Familie entrissen wurde, dann in eine neue verpflanzt wurde, dort gut aufwuchs und schließlich erneut entwurzelt war, was seinen Pflegeeltern, deren einziger leiblicher Sohn im Krieg gefallen war, jeden Lebensmut nahm.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Thema, das stets zur Ostalgie einlädt, ist das Thema Förderung des Spitzensports. Spätestens seit den letzten Olympischen Spielen mit spärlicher Medaillenausbeute wird der Ruf wieder lauter, man habe zu DDR-Zeiten den Sport deutlich besser gefördert. Ich bin selbst in den zweifelhaften Genuss des Besuches einer Kinder- und Jugendsportschule gekommen und kann feststellen, dass es natürlich auch sinnvolle Dinge gab. Zu nennen wäre die zeitige Sichtung von Talenten oder ein flächendeckendes kostenfreies Sportangebot für Kinder und Jugendliche.

Über die Schattenseiten des DDR-Sports gibt uns der Bericht von Lutz Rathenow Auskunft, und ich möchte die Lektüre dieser Seiten besonders jenen empfehlen, die sich die DDR-Sportförderung zurückwünschen. Hier können Sie nachlesen, welche Erkrankungen inzwischen im Zuge der Aufarbeitung des DDR-Sportsystems bisher nachgewiesen und bekannt sind.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Doping gab es auch in der BRD!)

Ja, das gab es auch in der BRD, das ist richtig.

„Es gab allerdings keine Medikamentenversuche an Menschen in der BRD. Besonders häufig sind Herzerkrankungen, darunter Herzinfarkte, Angina Pectoris, Herzinsuffizienz, Herztransplantationen, Herzrhythmusstörungen, darüber hinaus auch Organerkrankungen von Lunge, Niere, Darm und Magen. Auffällig ist außerdem die hohe Zahl psychischer Erkrankungen wie Depression, Bulimie und Suizidversuch.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist die andere Seite des Medaillenspiegels. Vielen Dank an Lutz Rathenow und sein Team, dass sie auch diese Facette der DDR beleuchten, und überhaupt herzlichen Dank für Ihre wichtige Arbeit!

(Beifall bei der SPD, der CDU und den GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Abschluss. An meiner heutigen Auswertung des Berichts war mir der Hinweis auf die Diskrepanz zwischen eigenem Erleben und Erzähltem und dem Leid Einzelner besonders wichtig. Ich selbst habe die DDR als Kind systemtreuer Eltern erlebt und habe dort eine gute Kindheit gehabt. Aus diesem Umstand erwächst meine Verantwortung, auf jene zu blicken, denen es nicht so ging: Kinder, die ihren Eltern genommen wurden, Kinder, die als Spitzel missbraucht wurden, Kinder, die in Haftanstalten zur Welt kamen.

Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, egal, ob Sie aus der DDR oder aus der alten Bundesrepublik kommen, ob Sie 1959 oder 1990 geboren sind, öffnen Sie Ihre Augen und Herzen für die Biografien von Opfern politischer Gewalt in der SBZ und der DDR, nicht, weil wir Abgeordnete, sondern weil wir Menschen sind.

(Beifall bei der SPD, der CDU und den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren! Für die AfD-Fraktion spricht Herr Abg. Wendt. Bitte sehr, Herr Wendt.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nun liegen uns der 23. und 24. Tätigkeitsbericht des Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vor.

Festzuhalten ist, dass wir am heutigen Tag auch über einen Bericht debattieren und abstimmen, der sich mit den Aktivitäten im Zeitraum 2014/2015 befasst. Dies ist natürlich zu spät, um in der Folge auf die Inhalte zeitnah reagieren zu können. Aber auch der aktuelle Bericht wurde uns leider wieder sehr spät zugeleitet. Wir mahnten dies im Rahmen der letzten Debatte zum 21. und 22. Tätigkeitsbericht an und hoffen, dass mit dem neuen Gesetz, welches auch eine sachgerechte Personalausstattung vorsieht, die Berichte zukünftig früher fertiggestellt werden.

Nichtsdestotrotz bedankt sich die AfD-Fraktion beim Sächsischen Landesbeauftragten und seinen Mitarbeitern für die umfassenden Berichte, die erkennbar mit sehr viel Herzblut erstellt worden sind.

Bei der letzten Debatte zum 21. und 22. Bericht regten wir an, dass zukünftig auch ein Ausblick und einige Worte über die Zukunft und die Herausforderungen aufgenommen werden sollen. Dies wurde getan. Dafür ebenfalls noch einmal ein herzliches Dankeschön an Herrn Rathenow!

Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Arbeit des Landesbeauftragten und seiner Mitarbeiter ist wichtig, da in diesem Bericht Menschen zu Wort kommen, die unter dem DDR-Unrechtsregime zu leiden hatten. Beispielhaft seien hierbei die ehemaligen Heimkinder und die politisch Verfolgten zu nennen. Der Bericht zeigt uns also eindrücklich auf, mit welchen Repressalien Andersdenkende in autoritären Systemen zu kämpfen haben.

Wir diskutieren heute über zwei Berichte, die Zustände aufarbeiten, die bereits über ein Vierteljahrhundert zurückliegen, und Sie, meine Damen und Herren gerade von den Regierungsfraktionen, tun dies mit einem sichtbar zur Schau gestellten Habitus der moralischen Erhabenheit, etwa: So etwas wie damals darf nie wieder passieren. Auch die Kollegen der LINKEN geben sich geläutert.

Ich schließe mich vollumfänglich der Meinung an, dass es gut und notwendig ist, an Unrecht zu erinnern und dieses aufzuarbeiten. Aber warum tun wir das? Warum erforschen wir unsere autoritären Vergangenheiten? Als Arbeitsbeschaffung für unterforderte Schriftsteller, Sozialwissenschaftler oder Pädagogen? Nein, Berichte wie der vorliegende sind auch immer wiederkehrende Mahnungen, wie schnell sich solche Zustände entwickeln können, auch wenn alle kollektiv der Meinung sind, für etwas oder sogar das Gute zu kämpfen. Diese Berichte sind ein auf 100 Seiten verfasstes „Wehret den Anfängen!“.

Und, meine Damen und Herren, es ist mittlerweile an der Zeit, diese Forderungen wieder wörtlich zu nehmen und laut anzusprechen. Denn während die Regierungskoalition hier im Land, bestehend aus CDU und SPD, sich auf die Schulter klopft im Kampf gegen Autoritarismus, sitzt in Berlin eine Koalition aus den gleichen Parteien, die geistig und ganz handfest wieder genau den Boden bereitet, auf dem damals die Frucht Stasi hat gedeihen können.