Protocol of the Session on July 16, 2008

Man kann beim nächsten Schritt dann miteinander darüber diskutieren, ob es sinnvoll oder notwendig

(Dr. Heiner Garg)

ist, auf europäischer Ebene die der EuGH-Rechtsprechung zugrunde liegenden Richtlinien und Normierungen im Rahmen des Europawahlkampfes infrage zu stellen oder sie zu verändern. Das ist eine politische Debatte. Diese Debatte können wir im Europawahlkampf gerne miteinander führen.

Den Konsens, der hier in der Plenardebatte diesbezüglich vielleicht besteht, sollten wir in die Ausschusssitzungen mitnehmen und dort dann auch handeln. Ich glaube, man kommt zum jetzigen Zeitpunkt - ob man das nun schön findet oder nicht - an der Tatsache nicht vorbei, dass unser Tariftreuegesetz so nicht haltbar ist. Deswegen müssen wir handeln.

(Beifall bei CDU und FDP)

Ich möchte mich an dieser Stelle insofern auch für die Debattenbeiträge bedanken. In der angesprochenen Hinsicht scheint mir jetzt zwischen allen Fraktionen trotz unterschiedlicher Bewertung Konsens zu bestehen. Nach der Sommerpause müssen wir nun in der Sache einen Schritt weiterkommen. Das war bisher nicht möglich.

Ein zweiter Punkt. Betroffenheitskultur hilft uns an dieser Stelle, wie ich glaube, überhaupt nicht weiter. Ich kenne niemanden hier im Hause - ich glaube, wir kennen uns alle relativ gut -, der Stundenlöhne von 4 € oder die Bezahlung von 6 € für einen Haarschnitt, Herr Kollege Hentschel, besonders schön oder angemessen findet oder der meint, dass dies für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auskömmlich und zumutbar sei, dass es der Menschenwürde entspreche oder dass es sich dabei um eine besondere soziale Errungenschaft handle. Ich glaube, darüber sind wir uns einig. Dessen brauchen wir uns hier, wie ich glaube, gegenseitig auch nicht zu versichern.

Die Frage ist doch die: Wie ändern wir das? Man kann sich hier natürlich in der Tat über eine Schwäche der Gewerkschaften beklagen, wie Sie es getan haben, Frau Spoorendonk. Jeder kann einen persönlichen Beitrag liefern, indem er in eine Gewerkschaft eintritt, sie unterstützt oder was auch immer. Das ist alles in Ordnung.

Die Frage, vor der wir stehen, ist doch die: Sollte der Staat Ersatzgewerkschaft spielen? Bei einem zu hohen Mindestlohn sind - ob wir dies nun schön finden oder nicht - faktisch zwei Folgen möglich. Wenn die Arbeit anderswo billiger erledigt werden kann - im europäischen Ausland, im asiatischen Raum oder sonst wo -, wird sie dorthin verlagert. So reagiert der Markt.

(Zuruf des Abgeordneten Karl-Martin Hent- schel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

- Ich komme gleich darauf zu sprechen. Bitte hören Sie erst einmal zu! Ich habe vorausgesehen, dass Sie um Ihren Haarschnitt heute wirklich sehr besorgt sind, Herr Kollege Hentschel. Deswegen komme ich auf diesen Punkt zu sprechen. Wenn ein zu hoher Mindestlohn bei einer Dienstleistung wie dem Haareschneiden nicht möglich ist und Sie den gesetzlichen Mindesttariflohn zu hoch ansetzen, wandert die Arbeit in den Bereich der Schwarzarbeit. Dann werden wir an der Stelle an Sozialversicherungsabgaben und an Steuereinnahmen gar nichts haben. Davon hat dann weder der Staat etwas, noch haben die Gesellschaft oder diejenigen etwas davon, die schwarzarbeiten, weil sie weder sozialversichert sind noch Rentenansprüche erwerben und so weiter.

Die Zeit ist abgelaufen!

Frau Präsidentin, ich nehme das zur Kenntnis und formuliere den letzten Satz.

Deswegen müssen wir uns natürlich um diese Menschen kümmern. Das ist auch eine sozialpolitische Aufgabe. Ich glaube aber nicht, dass der Mindestlohn das richtige Rezept ist. Wir müssen da mit Kombilöhnen arbeiten. Das heißt, sie müssen ein bestimmtes Salär staatlicherseits bekommen - und das unabhängig davon, was sie sich im schlecht bezahlten Gewerbe dazuverdienen. Aus dieser Kombination kann etwas erwachsen, aber der Staat sollte nicht Ersatzgewerkschaft spielen.

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der FDP)

Das Wort für die Landesregierung - - Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen. Es ist völlig in Ordnung.

Das Wort zu einem weiteren Kurzbeitrag hat Herr Abgeordneter Wolfgang Kubicki.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie hatten mich zwar angeschaut, aber wenn Sie mich nicht gesehen haben, tut mir das leid.

(Heiterkeit)

(Dr. Johann Wadephul)

Der doch wieder fulminante Beitrag des künftigen Oppositionsführers Dr. Ralf Stegner hat mich dazu veranlasst, noch einmal das Wort zu ergreifen. Herr Kollege Stegner, ich finde die Erklärung, der EuGH würde reaktionäre Urteile fällen oder reaktionäre Begründungen anwenden, wenn er ein Abwägungsgebot beachtet, das übrigens bei uns in Deutschland auch gilt, wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet, bedenklich.

Ich weise darauf hin: Die Niederlassungsfreiheit ist Teil des Grundgesetzes, Artikel 12 fortfolgende. Die Frage des Mindestlohnes ist keine Frage von Artikel 1 des Grundgesetzes, der Menschenwürde, auch wenn Sie das gern politisch so erklären wollen. Ich bedauere im Übrigen, dass die Sozialdemokraten die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Verträgen bei Unterbezahlung nicht zur Kenntnis nehmen. Es ist bereits ständige Rechtsprechung, dass sich Mitarbeiter wehren können.

Ich sage einmal, auch in einem Beritt, den Sie einmal zu verantworten hatten und haben, als Sie in der Landesregierung saßen, gab es Urteile zu Ihren Lasten, zulasten der Landesregierung, weil Arbeitsverhältnisse, die von der Landesregierung oder nachgeordneten Einrichtungen organisiert worden waren, mit der Rechtsordnung, die wir kennen, nicht in Übereinstimmung zu bringen waren. Das heißt, es waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unangemessener Art und Weise benachteiligt. Man muss nur daran denken, wie beispielsweise Ärzte oder Pflegepersonal mit ihren Arbeitszeiten in Kliniken, die der Hoheit des Landes unterstehen, behandelt worden sind. Es wäre also in Ihren Beiträgen, die Sie hier leisten, etwas mehr Demut angebracht.

Das wäre vor allem auch aus einem anderen Grund angebracht, der mich immer wieder ärgert. Das sage ich hier ausdrücklich: Ich bin kein Anhänger der Linken, obwohl ich ein vehementer Fan von Oskar Lafontaine -

(Heiterkeit)

- von der Rhetorik Gregor Gysis bin, weil er im niedersächsischen Wahlkampf etwas ganz Bemerkenswertes gemacht hat. Da gab es einen wunderbaren Kandidaten, der mit der Bemerkung auftrat: „Gerechtigkeit kommt wieder!“ Das war ein Sozialdemokrat aus Niedersachsen. Da hat er einfach nur gefragt: „Wer hat sie denn weggejagt?“

Herr Kollege Stegner, wer hat denn die Ein-EuroJobs eingeführt? Wer hat die Kombilohnmodelle eingeführt? - Das waren doch Sozialdemokraten,

Beck und sein Sozialminister, auch bei uns mit der Begründung, dass es besser ist, Menschen, die von ihrer Arbeit normal nicht leben können, statt in Arbeitslosigkeit zu lassen, zunächst in Arbeitsprozesse zu bringen, auch wenn die Unternehmen dafür nicht entsprechende Lohnleistungen erbringen können, indem man den Differenzbetrag draufzahlt. Das ist eine vernünftige Argumentation.

Sie kehren das heute um. Sie tun heute so, als hätten Sie mit diesen Entwicklungen in der Vergangenheit überhaupt nichts zu tun.

(Zurufe von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Kollege Hentschel stellt sich heute hier hin und erklärt: Es kann doch nicht sein, dass der Staat etwas obendrauf zahlt. Die Menschen müssen doch von den Löhnen, von dem, was sie erarbeiten, auch leben können.

(Zuruf des Abgeordneten Karl-Martin Hent- schel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

- Herr Kollege Hentschel, Sie selbst, Ihre Partei, Ihre Fraktion saß in der Bundesregierung, als diese Form der Bezahlung eingeführt worden ist, um Menschen wieder in Arbeit zu bringen - das, was Sie heute beklagen. Das kann doch wohl nicht richtig sein!

Herr Kollege Kubicki, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Stegner?

Das mache ich gern, wenn ich den Satz zu Ende gebracht habe.

Das ist schwer bei Ihnen.

Sie können doch nicht heute in allem Ernst die Unternehmen dafür malträtieren, dass sie auf Dinge eingegangen sind, die Sie vorgeschlagen haben.

Herr Dr. Stegner!

Sehr verehrter Herr Oppositionsführer - Sie sind es ja wirklich, deshalb darf ich Sie so ansprechen -, ich habe

(Wolfgang Kubicki)

eine zweigeteilte Frage an Sie. Zum einen: Kennen Sie den Unterschied zwischen Maßnahmen, die dazu dienen, Menschen die arbeitslos sind, in Arbeit zu bringen, und dem Problem, dass Menschen, die reguläre Arbeit haben, in eine Situation gebracht werden, dass sie Arbeit haben, von der sie nicht mehr leben können?

Zum anderen: Könnten Sie mir bitte einmal den Unterschied im Charakter zwischen Artikel 1 und Artikel 12 des Grundgesetzes erklären, was die beiden zum Beispiel in der Veränderbarkeit unterscheidet? Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das beantworten könnten.

Das Letzte kann ich Ihnen ganz einfach erklären. Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes sind unveränderbar, sie haben die Ewigkeitsgarantie.

(Zurufe: 1 und 12!)

- Artikel 1 und 20 sind unveränderbare Artikel. Sie können auch durch eine Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages nicht abgeändert werden, wie es alle anderen Artikel können. Das ist der Unterschied.

Aber Ihr Rekurrieren darauf, dass sich das Mindestlohngebot aus Artikel 1 Grundgesetz ergebe, ist schlicht und ergreifend juristischer Unsinn. Das wollte ich nur deutlich machen. Lassen Sie sich in dieser Frage vielleicht noch einmal aufklären.

Zur zweiten Frage, die Sie gestellt haben, ob ich den Unterschied zwischen den Arbeitsmarktbeschaffungsmaßnahmen, um Arbeitslose in Arbeit zu bringen, und der Frage, ob jemand von seinem Lohn leben kann, den er erhält, kenne: Der Unterschied ist mir bekannt. Mir ist aber nicht bekannt, dass es Lohnsenkungen gab, nämlich überall dort, wo Verträge bestanden haben, sondern mir ist immer nur bekannt, dass es möglicherweise nicht ausreichende Steigerungen gegeben hat, aber jedenfalls keine Lohnabsenkungen. Wenn Sie andere Erkenntnisse haben, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sie dem Hohen Haus mitteilen könnten.

(Beifall bei FDP und CDU)

Das Wort für die Landesregierung hat nun der Wirtschaftsminister, Herr Dr. Werner Marnette.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin ja noch ganz frisch hier. Dass ich am ersten Tag so ein dickes Brett bearbeiten soll: à la bonne heure!

Ich stelle fest - das zeigt eigentlich auch die Debatte -, dass wir ein richtig dickes Problem haben. Ich kann nicht erkennen, dass für die Lösung dieses dicken Problems bereits gute Ideen vorliegen.