Protocol of the Session on January 30, 2014

In der Debatte im vergangenen Jahr haben alle Fraktionen bereits deutlich gemacht, dass Analphabetismus beileibe nicht allein ein individuelles Problem darstellt, das die Betroffenen in der Folge weitgehend vom gesellschaftlichen und politischen Leben ausschließt, sondern dass die Tatsache, dass rund 14,5 % der erwerbstätigen Bevölkerung von funktionalem Analphabetismus betroffen sind, kein Nischenproblem, sondern ein längst ernst zu nehmendes gesellschaftliches und strukturelles Problem darstellt.

Ich bin froh darüber, dass wir alle in der Einschätzung übereinstimmen, dass wir uns dies nicht länger leisten können und auch nicht dürfen.

Wir wissen, dass wir die Betroffenen nicht über einen Kamm scheren dürfen, dass die Problemlagen, die die Menschen zu funktionalen Analphabeten gemacht haben, höchst unterschiedlich sind und deshalb auch die Angebote zur Überwindung dieser extremen Benachteiligung ebenso unterschiedlich und vielschichtig sein müssen.

Mit diesem nun gemeinsamen Antrag fangen wir nicht bei null an. Der gemeinsame Antrag ist ein Signal dafür, dass wir an diese bereits bestehenden guten Ansätze, die zum Beispiel bei den Volkshochschulen und auch einer Reihe von anderen Bildungsträgern bereits gefahren werden, anknüpfen wollen.

Dennoch müssen wir auch über andere Angebotsformate und neue Kooperationsformen nachdenken. Dabei ist klar, dass es zusätzlicher Anstrengungen bedarf, wenn wir die Zahl der funktionalen Analphabeten erkennbar und nachhaltig senken wollen und damit deutlich mehr Betroffenen als bisher neue Perspektiven eröffnen wollen.

Für uns ist völlig unstrittig, dass wir bei der Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus alle Bildungseinrichtungen in den Blick nehmen müssen. Neben den Einrichtungen der Weiterbildung müssen wir also auch unsere allgemeinbildenden Schulen möglichst frühzeitig einbinden, um das Problem gar nicht erst entstehen zu lassen. Deswegen müssen auch Lehrerinnen und Lehrer in der Ausbildung und über Fortbildungsmaßnahmen gestärkt werden, die Alphabetisierung erfolgreich anzupacken. Daher ist die Ergänzung im ersten Spiegelstrich des Forderungsteils im Antrag auch aus unserer Sicht zielführend; denn sie zielt zu Recht darauf ab, dass verstärkt präventive Ansätze entwickelt werden müssen.

Zudem müssen wir meines Erachtens weit mehr als bisher daran arbeiten, in der Gesellschaft für Sensi

bilisierung zu sorgen und Analphabetismus aus der Tabuzone herauszuholen. Hier gilt es, in allen gesellschaftlichen Bereichen neben den bereits bestehenden Ansätzen neue Ansätze zu entwickeln – sei es am Arbeitsplatz, im Freundeskreis, in der Familie, im Sportverein oder wo auch immer. Wir müssen es schaffen, die betroffenen Menschen zu ermutigen, sich zu öffnen und sich davon überzeugen zu lassen, dass es nie zu spät ist, schreiben und lesen zu lernen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Betroffenen ist es nie zu spät. Für uns hier im Hause, aber auch im gesamten Kreis der Verantwortlichen ist es höchste Zeit, diese gesellschaftliche Herausforderung verstärkt anzugehen. Dafür geben wir heute mit der Verabschiedung dieses fraktionsübergreifenden Antrags hier gemeinsam den Startschuss. Das ist gut so – ein gutes Signal; ein guter Tag für das erklärte Ziel, dem Analphabetismus in unserem Land den Kampf anzusagen. Gehen wir es gemeinsam an. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Stotz. – Für die CDU-Fraktion spricht nun Frau Vogt.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie Frau Stotz schon erwähnt hat, haben wir das Problemfeld des funktionalen Analphabetismus inhaltlich bereits im vergangenen Jahr intensiv in diesem Hause diskutiert. Daher spare ich es mir am heutigen Tag – nicht nur im Hinblick auf die Zeit, sondern auch, weil wir alle ein gutes Gedächtnis haben –, die inhaltliche Debatte noch einmal zu wiederholen.

Ich möchte lediglich auf den Punkt hinweisen, den wir als CDU-Fraktion damals kritisiert hatten. Der ursprüngliche Antrag von SPD und Grünen ging uns nicht weit genug; denn wir wollen versuchen, funktionalen Analphabetismus von vornherein zu vermeiden. Unser Ansatzpunkt war, dafür erst einmal in die Schulen zu schauen; denn dort werden die Grundlagen gelegt, und dort müssen wir eine Sensibilisierung schaffen, um den funktionalen Analphabetismus zukünftig nach Möglichkeit gar nicht erst aufkommen lassen.

Als die Fraktionen von SPD und Grünen auf uns zugekommen sind und einen gemeinschaftlichen Antrag machen wollten, haben wir gesagt: Wenn wir diesen Punkt aufnehmen können, werden wir uns an diesem gemeinsamen Antrag beteiligen. – Schließlich ist wohl allen in diesem Hause klar, wie wichtig dieses Thema ist. Alleine in NordrheinWestfalen gibt es wahrscheinlich 1,5 Millionen Menschen, die davon betroffen sind und daher eine schwierige Lebenssituation haben. Bei einem so

wichtigen Thema halte ich es für wirklich angemessen, einen gemeinschaftlichen Antrag vorzulegen.

Wir haben Wert darauf gelegt, dass wir nicht nur die Symptome behandeln, also dann etwas tun, wenn es schon zu Analphabetismus gekommen ist, sondern auch ganz stark auf Prävention setzen und unsere Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schulen entsprechend sensibilisieren. Das findet sich heute in diesem gemeinsamen Antrag wieder. Darüber freuen wir uns. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Herzlichen Dank, Frau Vogt. – Für die grüne Fraktion spricht nun Frau Zentis.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig: Im November 2013 haben wir an dieser Stelle schon einmal über ein breites Bündnis gegen Analphabetismus gesprochen. In der Tat ist das Bündnis breiter geworden. Ich begrüße es sehr – auch im Namen meiner Fraktion –, dass aus dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen geworden ist. Das ist der gewaltigen Problematik angemessen, der wir uns bei der Bekämpfung des Analphabetismus stellen wollen und auch stellen müssen.

Das geplante Netzwerk des Landesverbandes der Volkshochschulen kann als Auftakt verstanden werden, um mit Frau Ministerin Sylvia Löhrmann als Schirmherrin stärker zu sensibilisieren und ein größeres gemeinsames öffentliches Bewusstsein zu schaffen.

Das Ganze ist aber nur dann glaubwürdig, wenn genügend Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds bereitgestellt werden, um die Angebote für Alphabetisierung und Grundbildung auszubauen. Bisher standen uns in diesem Bereich 5 Millionen € zur Verfügung. Wir müssen darauf achten, dass die Kürzungen bei den ESF-Mitteln nicht in diesen Bereich weitergereicht werden; denn eine lebens- und erwerbsorientierte Weiterbildung bedeutet vielfach: Wer lesen, schreiben und rechnen kann, kann besser für sein berufliches Fortkommen sorgen.

Wir haben gemeinsam mit der SPD in unserem Koalitionsvertrag vereinbart, die Weiterbildungsbeteiligung in Nordrhein-Westfalen schrittweise zu erhöhen. Auch die Weiterbildungskonferenz hat dieses Ziel formuliert.

Inzwischen haben viele Einrichtungen Instrumente der Beratung mit Blick auf bildungsferne Zielgruppen weiterentwickelt, die uns bei unserer weiterbildungspolitischen Diskussion helfen. Sie haben sich auf den Weg gemacht, die Lebenswirklichkeiten, die Problemlagen und die Weiterbildungsbedürfnisse

der Menschen zu identifizieren und auch Menschen in ihren Sozialräumen anzusprechen, die für Weiterbildung kaum oder nur schwer erreichbar sind.

Damit alle Einrichtungen von den entwickelten Beratungskonzepten profitieren können, fordern wir in unserem gemeinsamen Antrag, diese Konzepte zu bündeln und weiterzuentwickeln. Bei dieser Aufgabe müssen die Einrichtungen unsere Unterstützung erhalten. Ich sehe die neue Supportstelle für die Weiterbildung als einen möglichen Ort dafür.

Meine Damen und Herren, das Problem des Analphabetismus wird oft als alleiniges Thema der Weiterbildung aufgefasst. Das ist falsch. Die Einrichtungen der gemeinwohlorientierten Weiterbildung leisten heute schon einen erheblichen Beitrag, um die Teilhabemöglichkeiten von Betroffenen zu verbessern.

Es muss uns beschäftigen, wie es denn dazu kommt, dass Jahr für Jahr junge Erwachsene in großer Zahl unsere Schulen verlassen, ohne richtig lesen und schreiben zu können. Unser Ziel muss es sein, diese Zahl erheblich abzusenken und danach zu fragen: Wann ist beim Erlernen der schulischen Grundbildung der Zug abgefahren? Wenn wir das nicht herausfinden, sind alle Maßnahmen im Bereich der Weiterbildung Stückwerk, das zwar notwendig ist – aber solange wir aus den Schulen immer wieder Menschen nachkommen lassen, die dieselben Schwierigkeiten haben, können wir bei der Bekämpfung des Analphabetismus nicht erfolgreich sein.

Das steht in dem Antrag, der heute vorliegt, sicherlich etwas ausführlicher, aber es war auch in dem Antrag enthalten, der im November vorgelegt worden ist. Deshalb müssen Lehrer und Lehrerinnen bis in die höheren Klassen der Sekundarstufe I in die Lage versetzt werden, das Problem zu erkennen und Hilfestellung zu geben. Aus diesem Grunde sollten wir auch überlegen, das Thema in die Präventionsketten aufzunehmen. „Kein Kind zurücklassen“ bedeutet auch, zu verhindern, dass weiterhin Schulabgängerinnen und Schulabgänger vom funktionalen Analphabetismus betroffen sind.

Ich bedanke mich für Ihr Zuhören und für die breite Zustimmung zu diesem Bündnis. Es wird dem Thema gerecht. – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN und der FDP)

Vielen Dank, Frau Zentis. – Für die FDP-Fraktion spricht nun Frau Schmitz.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der FDP ist es bekanntermaßen ein zentrales Anliegen, dass Menschen in unserem Land ihr Leben frei und eigenverantwortlich, also selbstbestimmt, gestalten können.

Um ein solches Leben gestalten zu können, sind die Kernkompetenzen Lesen und Schreiben unverzichtbar. Umso beschämender für die gesamte Gesellschaft sind daher die Ergebnisse der Level-One- oder leo.-Studie.

Jüngst erreichte uns der UNESCO-Weltbildungsbericht, wonach 250 Millionen Kinder nicht lesen und schreiben können. In Deutschland sind etwa 7,5 Millionen oder rund 14 % der erwerbsfähigen Bevölkerung von funktionalem Analphabetismus betroffen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Gerhard Papke)

Laut Schätzungen trifft dies auch auf ungefähr 1,5 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen zu. Diese dramatischen Zahlen zeigen unmissverständlich, vor welch großen Herausforderungen die Gesellschaft bei dieser Frage steht. Daher begrüßen wir es außerordentlich, dass SPD und Grüne sich zur Öffnung und zu einer gemeinsamen Initiative bereit erklärt haben, sodass wir bei diesem wichtigen Thema auf breiter Basis an einem Strang ziehen.

(Beifall von der FDP)

Wir finden es sehr erfreulich, dass der Antrag um aus unserer Sicht sehr wichtige Aspekte erweitert wurde. Gerade die Rolle aller Bildungseinrichtungen wird nun herausgehoben betont, um funktionalen Analphabetismus gar nicht erst entstehen zu lassen.

Aus FDP-Sicht ist dies zentral. Das hervorragende Engagement unserer Weiterbildungsträger ist wichtig und richtig. Besser aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wäre es, wenn Schülerinnen und Schüler zukünftig die Schule gar nicht erst verlassen würden, ohne richtig lesen und schreiben zu können.

(Beifall von der FDP)

Dass wir hier die Anstrengungen verstärken müssen, wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass viele der Betroffenen über Schulabschlüsse verfügen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen in Nordrhein-Westfalen auch die Möglichkeiten der nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung, die in unserer Regierungszeit auf Bundesebene maßgeblich angeschoben wurde, bestmöglich ausschöpfen.

(Beifall von der FDP)

Darüber hinaus wird eine zentrale Rolle bei der Bewältigung dieses Problems der heute erwachsenen und oftmals im Erwerbsleben stehenden funktionalen Analphabeten den Weiterbildungsträgern zukommen. Hier sind alle öffentlichen und freien Träger gefragt.

Wie sehr wir die diesbezüglichen Aktivitäten verstärken müssen, zeigt die Antwort auf eine Frage

der FDP-Fraktion im Rahmen der Großen Anfrage zum ländlichen Raum. Wir hatten nach den Alphabetisierungskursen gefragt, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden.

Laut Landesregierung haben 2011 auf der Basis von 131 ausgewerteten Volkshochschulen absolut 7.353 Personen an Alphabetisierungskursen teilgenommen. Wenn man diese Teilnehmerzahl einmal grob auf geschätzte 1,5 Millionen Betroffene in Nordrhein-Westfalen umrechnet, würde es 204 Jahre bis 2218 dauern, damit alle einen solchen Kurs besucht haben. Dies zeigt: Wir alle sind gefordert, zu werben. Alle gesellschaftlichen Akteure müssen die Anstrengungen deutlich erhöhen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, hierbei wird es insbesondere auf adressatengerechte Zugänge ankommen. Die Menschen zu erreichen, wird die größte Herausforderung sein.

Wie vielfältig die Problematik ist, aber welche Chancen sie auch birgt, zeigt ein Hinweis des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung. Der Verband hat unlängst kritisiert, dass es im Gefängnis viel stärker ermöglicht werden muss, Lesen und Schreiben zu lernen. Nach dem Verbüßen der Haftstrafen stellt der Eintritt in ein geregeltes Leben oft eine große Schwierigkeit dar. Dieses kleine Beispiel zeigt, wo man besser werden kann und einen gesellschaftlichen Beitrag leistet. Ohne den Entwurf eines Jugendstrafvollzugsgesetzes weitgehend bewerten zu wollen, ist festzustellen, dass sich dort entsprechende Formulierungen finden. Dies sollte auch bei einem neuen Strafvollzugsgesetz angemessen berücksichtigt werden. Wer Resozialisierung will, sollte hier genauer hinsehen.

Dieses kleine Beispiel zeigt die Vielfalt der Herausforderungen. Als FDP begrüßen wir den Antrag und werden gespannt alljährlich den Bericht des Ministeriums zu entsprechenden Initiativen und hoffentlich Erfolgen entgegennehmen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall von der FDP, der CDU und Oliver Bayer [PIRATEN])