Protocol of the Session on April 21, 2016

Die Piraten weisen zu Recht in ihrem Antrag darauf hin, dass diese Regel dem Wandel unterliegt. In der Tat hält sich inzwischen ein Teil der Abgeordneten aus unterschiedlichen Fraktionen nicht mehr an diese Regel und grüßt die Besucher auf der Tribüne und im weltweiten Netz. Dieses kann ein kleiner Schritt zur Verbesserung der Debattenkultur sein.

So weit, so gut. Hier hätte der Antrag der Fraktion der Piraten enden können. Das wäre auch besser gewesen. Er tut es aber nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der zweiten Seite mit Zeile 18 beginnt ein neuer Teil des Antrags. Statt um die Debattenkultur geht es nun um die Parlamentskultur insgesamt. Wer sich die Mühe einer semantischen Analyse macht, stößt auf folgende Topoi: Showdebatten, weder ergebnisoffen noch transparent; an Sachfragen vorbei

gehende Parteipolitik; Fraktionszwang, nichtöffentliche und inoffizielle Treffen; Entscheidungen, die von Regierungsfraktionen lediglich exekutiert werden; Kultur der Mittelmäßigkeit; elitäre Positionen; singuläre Partikularinteressen; usw.

(Zuruf von den PIRATEN: Alles richtig! – Bei- fall von den PIRATEN)

Hierbei, liebe Piratinnen und Piraten, handelt sich um die bekannten Standardformen der Parlamentarismuskritik, die in vielfacher Form, mal von rechts, mal von links vorgetragen, den modernen Parlamentarismus seit seiner Entstehung begleiten. Sie sagen wenig über die Realität des politischen Systems aus, dafür umso mehr über das Parlamentsverständnis derjenigen, die diesen Antrag geschrieben haben.

(Beifall von der SPD)

Die Pauschalkritik basiert auf einem rückwärtsgewandten, romantisch-idealistischen Verständnis. In der angeblich goldenen Zeit des Frühparlamentarismus waren die Abgeordneten zumeist Honoratioren, die für die Politik, nicht von der Politik lebten. Parteien und Fraktionen gab es noch nicht. Das Parlament war ein Redeparlament, das gegenüber dem Monarchen wenig zu entscheiden hatte. Es ist doch ganz offensichtlich, dass diese Merkmale mit der gegenwärtigen Form der parlamentarischen Demokratie nichts mehr zu tun haben.

Nun berufen sich die Piraten in ihrem Antrag zur Rechtfertigung ihrer Kritik immer wieder auf die sogenannten Erwartungen der Gesellschaft und die gesellschaftlichen Entwicklungen.

Doch was sind nun diese Erwartungen der Gesellschaft an den Parlamentarismus? Dank der empirischen Untersuchung des Dresdner Politikwissenschaftlers Werner Patzelt wissen wir, dass der Kenntnisstand der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich der Funktionsprinzipien der parlamentarischen Demokratie relativ gering ist. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass die Abgeordneten unabhängig und ohne Fraktionsbindung in rhetorisch brillanter Form und lebendiger Debatte nach sachgerechten Lösungen suchen.

Dem widerspricht die parlamentarische Alltagswirklichkeit eines Arbeitsparlaments mit notwendiger Reglementierung und Formalisierung der Entscheidungsabläufe. Hier ist das Plenum nicht Ort der Diskussion, sondern der Proklamation.

Halten wir also fest: Die Praxis entspricht der Funktionsweise einer parlamentarischen Demokratie. Doch diese Funktionslogik entspricht nicht den Vorstellungen vieler Bürgerinnen und Bürger und offensichtlich auch nicht denen der Piratenfraktion. Wir haben es also nicht mit Funktionsmängeln des Systems zu tun, sondern mit Defiziten im Verständnis der Funktionen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist zu tun? Werner Patzelt sprach von einem latenten Verfassungskonflikt zwischen Verfassungsstruktur und populärem Verständnis, das es aufzulösen gilt. Hier hätte ich mir im dritten Teil Ihres Antrages, liebe Piratinnen und Piraten, mehr gewünscht als die dort vorzufindenden Schlagworte Offenheit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Ehrlichkeit. Überhaupt: Ehrlichkeit? Was soll damit gemeint sein?

(Kai Schmalenbach [PIRATEN: Das Ihnen das nicht klar ist, wissen wir auch!)

Wollen Sie unterstellen, dass das gegenwärtige System ein unehrliches System sei? Hier hätte ich mir gerade von den Piraten gewünscht, dass sie die Chancen, aber auch die Risiken der digitalen Demokratie intensiver ausleuchten. Der Hinweis auf die Kremser Erklärung der deutschen und österreichischen Landtagspräsidentinnen und Landtagspräsidenten hätte ein Ansatzpunkt sein können.

Allerdings plädiere ich aufgrund der gerade vorgenommenen Analyse weniger für einen Wechsel des Betriebssystems in Richtung Demokratie 2.0 als für die Beseitigung der Defizite im Verfassungsverständnis und für die Weiterentwicklung eines vorhandenen parlamentarischen Systems.

Zum einen bedarf es einer Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit des Parlaments unter Einbeziehung der Einrichtungen der politischen Bildung und der Medien, um das Verständnis für die Funktionslogik des Parlamentarismus zu fördern.

Bei der Präsentation des Parlaments und der Parlamentsarbeit steht meines Erachtens immer noch zu sehr das Plenum im Vordergrund. Die Öffentlichkeitsfunktion des Landtages lässt sich jedoch nicht auf Plenardebatten verkürzen. Die vorangehenden Entscheidungsprozesse in Ausschüssen, Fraktionen und Arbeitskreisen, aber auch in informellen Gruppen müssen dargelegt werden.

Zum anderen muss die institutionelle Parlamentsreform weitergeführt werden. Sie muss innerhalb des Systems erfolgen, und zwar mit dem Ziel einer Stärkung des Parlamentarismus und nicht einer Schwächung. Hier hoffe ich – auch als Vorsitzender der Verfassungskommission –, dass wir hierzu bald entsprechende Vorschläge unterbreiten können.

Eine Pauschalkritik am Parlamentarismus oder sogar eine Diffamierung als krankes System weist die SPD entschieden zurück.

(Beifall von der SPD)

Der Überweisung des Antrags in den Hauptausschuss stimmen wir zu und freuen uns dort auf die Fortsetzung der Debatte auf gewohnt hohem Niveau. – Danke schön für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Prof. Bovermann. – Für die CDU-Fraktion spricht nun Herr Kollege Hendriks.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Prof. Bovermann, was Sie gesagt haben, hat mir in weiten Teilen gut gefallen. Insbesondere aus politikwissenschaftlicher Sicht haben Sie sehr viel Richtiges gesagt.

Ich möchte mich dem Thema jedoch etwas anders nähern, meine Damen und Herren. Ich gebe zu, dass ich, als ich lediglich die Überschrift dieses Antrags – „Das nordrhein-westfälische Parlament braucht eine fortschrittliche Debattenkultur, die den Erwartungen der Gesellschaft folgt“ –, aber noch nicht den Text des Antrags gelesen hatte, gedacht habe, es gehe heute um etwas ganz anderes. Ich habe gedacht, es handele sich vielleicht um den Appell der Piratenfraktion als gute Vorbilder für uns als Abgeordnete, einmal öfter den Mut aufzubringen, hier vorne an das Redepult zu treten und eine freie Rede oder zumindest eine teilfreie Rede mithilfe von Stichwortzetteln zu halten oder für den Fall, dass eine Manuskriptrede nicht vermeidbar ist – und das ist ab und zu völlig verständlich –, diese nicht nur abzulesen, sondern sie vorzutragen.

Aber siehe da: Als ich den Antragstext dann gelesen habe, habe ich erkannt, dass es gar nicht darum geht. Ich hätte es im Rahmen des Antrags zur Debattenkultur für einen schönen Beitrag gehalten, in dieser Hinsicht, in rhetorischer Hinsicht, einmal darüber nachzudenken.

(Daniel Düngel [PIRATEN]: Den können Sie ja stellen!)

Dann habe ich Ihren Antrag einmal, zweimal, dreimal gelesen. Warum so oft?

(Werner Jostmeier [CDU]: Weil er zu kompli- ziert ist!)

Weil er zu kompliziert ist. Er ist sehr kompliziert, gewissermaßen auch ein Stück weit faszinierend, weil es Ihnen – ich sage das einmal mit einem Augenzwinkern – wirklich gelungen ist, viele verschiedene Textbausteine aus der Politikwissenschaft, den Sozialwissenschaften, den Staatswissenschaften und teilweise auch aus den Pseudowissenschaften in einen Gesamttext zusammenzufügen, den man wirklich drei- oder viermal lesen muss, um zu wissen, welche Schlüsse Sie daraus überhaupt ziehen.

In diesem Zusammenhang möchte ich Sie Folgendes fragen – daran erkennen Sie, dass ich mich sehr kritisch damit auseinandersetze –: Sie reden sehr viel über Offenheit und Transparenz. Dazu gehört für mich im Rahmen einer Debattenkultur aber auch, dass man versucht, die Adressaten, und zwar nicht nur diejenigen hier im Haus, sondern gerade auch die Zuschauerinnen und Zuschauer hier und zu

Hause, zu erreichen. Erreicht man die Zuschauerinnen und Zuschauer mit dem Text, den Sie vorgelegt haben, aber wirklich? Oder ist er nicht vielleicht doch viel zu kompliziert?

(Beifall von der CDU – Dirk Schatz [PIRATEN]: Alle drei von der CDU klatschen!)

Das heißt: Dem Anspruch, den Sie erheben, wird meines Erachtens zumindest Ihr Antrag nicht gerecht.

Dann frage ich mich natürlich – wie viele andere auch –: Wie kommt der eine oder andere Unterton dort hinein?

(Kai Schmalenbach [PIRATEN]: Das ist die Wahrnehmung!)

Jetzt kann man salopp sagen: Sie sind ein bisschen sauer, weil hier einiges nicht so läuft, wie Sie sich das vorstellen. Okay; Schwamm drüber! Das kann ich nachvollziehen.

Aber ich glaube, dass das Problem ein Stück tiefer sitzt. Ich drücke das etwas anders aus, als Herr Prof. Bovermann das gerade getan hat. Meine Damen und Herren, ich komme in der Befassung mit Ihrem Text und auch mit Ihrer Einbringungsrede gerade, Herr Bayer, zu dem Schluss, dass Sie in unserem parlamentarisch-repräsentativen System immer noch nicht angekommen sind.

(Beifall von der CDU)

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Marsching?

Im Anschluss gerne, Herr Präsident.

Im Anschluss. Okay.

Ich würde nur gerne erst meine Gedanken zu Ende führen.

Bitte.

Ich komme also zu dem Ergebnis, dass Sie weitgehend noch gar nicht angekommen sind. Vielleicht wollen Sie auch nicht ankommen, weil Sie Grundüberlegungen nicht teilen – zum Beispiel Grundüberlegungen, wie parlamentarische Demokratie funktioniert.

Parlamentarische Demokratie baut auf einer Parteiendemokratie auf. Parteien gibt es deswegen, weil sie in der Lage sind, gemäß einer gemeinsamen Grundüberzeugung Meinungen zu bündeln. Die Fraktionen als parlamentarischer Arm der Parteien

bündeln dann diese Meinungen im Parlament. Im Folgenden werden irgendwann Mehrheitsentscheidungen herbeigeführt, damit überhaupt Entscheidungen getroffen werden können. Deswegen ist ein Verweis auf Fraktionszwang und andere ähnliche Aspekte bei dem Hauptthema, das Sie meines Erachtens ansprechen, nämlich die Verbesserung bzw. ein Update der Debattenkultur, wie Sie es bezeichnen, völlig fehl am Platze.

Meine Damen und Herren, wir müssen uns einfach vergegenwärtigen – diese Grundfrage schwingt bei Ihren Ausführungen mit –, ob wir mit unseren Debatten im Plenum wirklich nicht das Volk erreichen.

Heute Morgen hatte ich – das trifft sich an einem solchen Tag ganz gut – eine Besuchergruppe, die aus vielen Ehrenamtlern aus meinem Wahlkreis Mülheim an der Ruhr bestand. Es handelte sich also nicht um politisch Aktive, sondern um normal Interessierte. Sie haben heute Morgen Gott sei Dank von 10 bis 11 Uhr hier oben auf der Tribüne gesessen und gut zugehört.

Ich muss sagen, dass es den fünf Rednern von allen Fraktionen, die sie bei der Debatte heute Morgen gehört haben, gelungen ist, einen durchaus komplexen Sachverhalt auch rhetorisch im Rahmen einer guten Debattenkultur so zu präsentieren, dass die Zuhörer etwas mitgenommen haben, mit mehr Wissen das Plenum verlassen haben und sich jetzt leichter eine Meinung bilden können. So schlecht, wie es Ihr Antrag teilweise suggeriert, scheinen wir hier im Plenum also, ehrlich gesagt, nicht zu sein.

(Beifall von der CDU, den GRÜNEN und der FDP)